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  • Bericht
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  • Melanie Poloczek
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  • 06.11.2017

Pflegepraktikum auf der Gynäkologie – Vom Nutzen und Putzen

Neunzig Tage Krankenpflege, in den Ferien, unbezahlt. Wer das Pflegepraktikum hinter sich gebracht hat, ist dem Physikum ein großes Stück näher, oft aber nicht schlauer als vorher: Sind diese drei Monate wirklich nötig?

 

Etwas widerwillig öffne ich die Augen. Noch eine Haltestelle, dann bin ich da. Es ist früh, viel zu früh, und trotzdem ist sie voll, die Bahn. Neben mir schlürft eine Frau Kaffee, ein paar Sitze weiter ein Mann mit Aktenkoffer, er liest Zeitung – Schlagzeile: Der Pflegemangel in Deutschland.

Wie passend, denke ich, als ich eine Viertelstunde später in Dienstkleidung auf Station stehe. Wieder einmal eine examinierte Schwester zu wenig im Dienst, Unterbesetzung ist hier kein Fremdwort.
„Gut, dass wir euch haben“, bekräftigt man die FSJlerin und mich. Ein letzter Blick auf den Belegungsplan, dann geht es los mit der Morgenrunde: Blutdruck messen, Körpertemperatur ermitteln, nach Schmerzen fragen, beim Waschen helfen. Infusionen darf ich nicht anschließen, eigentlich auch nicht abstöpseln, und so verdrehen die Langzeitpatientinnen jeden Morgen die Augen, wenn nach minutenlangem Klingeln nur die Praktikantin zur Tür hereinkommt: „Ich sag’ der Schwester bescheid“, der vielleicht meistgefallene Satz eines jeden Pflegepraktikanten.

Die vielleicht meistgestellte Frage hingegen ist die nach dem wahren Nutzen des Pflegepraktikums, über den ich noch bis zum Praktikumsende philosophieren werde. Bettenschieben, Blut ins Labor bringen, Medikamente aus der Apotheke holen, Bettwäsche wechseln, Essen austeilen, dreckiges Geschirr einsammeln – Aufgaben, für die ich keine Ausbildung brauche. Aufgaben, die aber erledigt werden müssen. Aufgaben, die den Schwestern abgenommen werden können – zumindest ab dem Zeitpunkt, an dem ich nicht mehr nachfragen muss, wo Einmalwaschlappen und Zahnbürsten zu finden sind, oder wie Faxgerät und Rohrpost funktionieren. Sich als entlastender Praktikant wie eine Belastung vorkommen – ein Gefühl, um das man zu Praktikumsbeginn nicht herumkommen wird.

Meine Station ist Teil der Frauenklinik und die Gynäkologie ein weitreichendes Fachgebiet. Kinder werden geboren, Mädchen benötigen ärztlichen Rat, aus Frauen werden Mütter, und andere erkranken an Krebs. Jeden Tag steht mindestens eine Mastektomie auf dem OP-Plan, der Begriff „Mamma-Ca“ fällt im Dienstzimmer stündlich, und wenn ich in den Akten Geburtsjahre entdecke, die meinem eigenen gar nicht so fern sind, überkommt mich jedes Mal ein beklemmendes Gefühl.
„Ich bin auch sechsundzwanzig“, sagt die Krankenschwester, nachdem wir eine junge Patientin in den OP gefahren haben. Krebs kennt kein Alter.
Und als ich am nächsten Morgen das Highlight meines Pflegepraktikums erlebe, im Kreissaal stehe und bei einer Sectio caesarea dabei bin, wird im kardiologischen Schockraum nebenan ein älterer Herr reanimiert. Leben und Tod, dicht beieinander.

Ich bin gerade dabei Urinproben aufzuziehen, als ein lautes, schnelles Klingeln anfängt, durch die Flure zu schallen – der Notfallton. Die Erfahrung lehrt, dass sich dieser meist als Fehlalarm entpuppt, wenn wieder einmal Alarmknopf und Lichtschalter verwechselt wurden, aber weil man ja nie wissen kann, rennen sogleich sämtliche Schwestern und Assistenzärzte in das betroffene Zimmer am Ende des Ganges. Und tatsächlich, eine Patientin krampft, übergibt sich, ist ganz blass. Sie verträgt die Chemotherapie nicht. Ängstlich steht ihre Bettnachbarin daneben, den Knopf für die Klingel noch in der Hand. Während Pflege und Ärzte wie ein eingespieltes Team arbeiten, begleite ich die Mitbewohnerin nach draußen. Bloß nicht im Weg rumstehen, die Devise des Augenblicks. Der Patientin kann geholfen werden, später geht es ihr wieder besser.

Manchmal gibt es auch nicht so viel zu tun für mich. Unbeholfenes Herumstehen, zum dritten Mal die Arbeitsflächen desinfizieren, Regale einräumen, Kaffee kochen, darauf warten, dass irgendjemand klingelt und die Schicht zu Ende geht. Momente, in denen es wenig zu tun gibt. Eine Patientin hat Post bekommen, so wie jeden Tag. Selbstgemalte Karten ihrer Enkel, dazu ein Gedicht. Ich bringe ihr die Karten, sie freut sich. Im Bett gegenüber eine Patientin, die niemand besucht – Begleiterkrankung Multiple Sklerose. Geistig ist sie fit, und so ertrage ich ihr Gemecker darüber, dass die Bettdecke fünf Zentimeter höher liegen müsse, oder das Fenster nicht weit genug auf sei, denn sie selbst kann ihre Arme nicht bewegen. Auch nicht die Beine, oder den Rumpf. Gefangen im eigenen Körper – ich versuche mir vorzustellen, wie sich das anfühlen muss, wie sehr die eigene Hilflosigkeit einen in den Wahnsinn treiben kann, die Abhängigkeit von Mitmenschen, denen man niemals Umstände bereiten wollte. Ich denke noch oft an diese Patientin, nachdem sie entlassen wird.

Während ich den Kaffeewagen über den Gang schiebe, fühle ich mich wie eine Stewardess. Die allnachmittägliche Kaffeerunde – der letzte Akt des Dienstes, danach darf ich gehen. Mich wieder in die Bahn setzen, die Augen schließen. Mich fragen, wie die das machen, die Pfleger. Haufenweise Überstunden, zu viele Patienten pro Kopf, große Verantwortung, Grenzen der Belastbarkeit. Missstände, die ein ganzes Gesundheitssystem durchziehen. Probleme, die eines Tages auch auf mich zukommen werden. Krankenhausrealität, fernab von Grey’s Anatomy und Doctor House, vermittelt durch das Pflegepraktikum. Vielleicht liegt ja genau hierin dessen ganzer Nutzen.

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