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  • Silja Schwencke
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  • 07.01.2015

Vergessene Seuchen - Lepra, Pest und Tuberkulose

Als im letzten Jahrhundert die Antibiotika entdeckt wurden, hoffte man, die bakteriellen Infektionskrankheiten endlich ein für alle Mal besiegen zu können. Trotz aller Erfolge: Drei der schlimmsten Menschheitsgeißeln sind bis heute unbesiegt. Wir erklären, warum.

 

 

 

Abb. 1: „Die Pest“, gemalt von dem Schweizer Künstler Arnold Böcklin: Apokalyptisch fegt sie durch die Straßen. Sie gilt als Symbol für die historischen Katastrophen der Menschheit.

 

Im Juni 1665 beginnen die Einwohner Londons rote Kreuze auf manche ihrer Häuser zu malen. Daneben schreiben sie: „Herr, hab Erbarmen mit uns.“ Die Reichen fliehen aus der Stadt, denn man hat in einer Woche 31 Pesttote gezählt, und die Epidemie breitet sich unaufhaltsam aus: In der letz­ten Juniwoche sterben 143 Menschen an der Beulenpest, einen Monat später über tausend. Der deutsche Arzt Carl Lorinser beschreibt den Ausbruch der Krankheit später so: „Zuerst leiden die Menschen an einer plötzlichen Schwäche aller Glieder und Kopfschmerzen. Dann befällt sie Ekel und Würgen, worauf ein Erbrechen grüner Galle erfolgt. Oft stellt sich noch am ersten Tag Fieber ein.“

 

 

Abb. 2: Eine Pestbubo am Hals eines Kindes. Je nachdem, wo der Floh gebissen hat, entstehen diese entzündlichen Lymphknotenschwellungen in der Leiste, Axilla oder zervikal. Quelle: KES Thieme Verlag

 

Am zweiten oder dritten Tag zeigen sich die typischen Pestbeulen oder „Bubonen“ – dick geschwollene, schmerzhafte Lymphknoten in der Leiste, der Axilla oder am Hals. Einige Kranke entwickeln keine Beulen, aber dunkelviolette Flecken auf der Haut; ein Zeichen, dass die Krankheit auf jeden Fall tödlich verlaufen wird. Meist sterben die Menschen zwischen dem zweiten und sechsten Tag. Wer den achten Tag erlebt, darf hoffen, dem Tod zu entgehen.

 

Im August kommt das öffentliche Leben im quirligen London zum Erliegen. Geschäfte und Werkstätten schließen. Die Perückenmacher verkaufen keine ihrer beliebten Perücken mehr, da alle Angst haben, das Haar könne von Pesttoten stammen. Tag und Nacht finden Beerdigungen statt. Mitte September fordert die Pest in einer Woche 7.000 Opfer, dann klingt die Epidemie wieder ab und verschwindet – genauso unerklärlich, wie sie gekommen war. Von etwa einer halben Million Einwohner sterben bis zum Ende des Jahres 70.000 an der Pest.

 

Der Schwarze Tod und sein Floh

Diese Geschichte steht beispielhaft für unzählige Städte und Gemeinden in Asien, Nordafrika und Europa, in denen die Pest seit dem 6. Jahrhundert nach Chr. immer wieder wütet. Als schlimmste Pandemie in Europa gilt die Pest des 14. Jahrhunderts. Von der Krim aus kommt die Krankheit 1347 in die Küstenstädte Italiens und verbreitet dann entlang der Handelsstraßen in ganz Europa Angst und Schrecken. Ob in diesen Jahren wirklich mehr als ein Viertel oder doch nur ein Zehntel der europäischen Bevölkerung an der Pest verstarb, ist umstritten. Verlässliche Quellen sind dürftig, und auch Hungersnöte, Kriege und andere Infektionskrankheiten wie Pocken oder Influenza forderten damals viele ­Opfer.

 

Fakt ist aber, dass die Krankheit manchen Landstrich in Deutschland fast menschenleer hinterließ. Seitdem gilt die Pest als Inbegriff einer tödlichen Seuche. Neben den Beulen beobachten die Menschen dabei immer wieder die dunklen, fast schwarzen Hautfärbungen. Daher rührt wahrscheinlich der Name „Schwarzer Tod“ für die Krankheit. Bei einigen Epidemien, die in Europa erst im 18. Jahrhundert enden, leiden Erkrankte auch unter Atemnot und blutigem Auswurf. Die Pest ruft starke Ängste hervor, denn sie verläuft binnen kürzester Zeit oft tödlich. Niemand kann damals mit Sicherheit sagen, wie sich die Krankheit ausbreitet. Warum befällt sie den einen und verschont den anderen?

 

Erst 1894 entdeckt der Schweizer Arzt Alexandre Yersin in einem Labor in Hongkong den Erreger des „Schwarzen Todes“: ein plumpes gramnegatives Stäbchen, später Yer­sinia pestis genannt. Damals grassiert die Pest in China, ­Japan und Indien. Endlich findet man jetzt auch den Übertragungsweg: Der Rattenfloh beherbergt den Erreger. Verlassen die Flöhe ihren eigentlichen Wirt und beißen den Menschen, wandern die Bakterien vom Flohbiss aus in das Lymphsystem und verursachen die schmerzhafte Lymph­adenitis.

 

Unbehandelt liegt die Letalität der Beulenpest – die übrigens nicht ansteckend ist – bei etwa 50 Prozent. Kommt es zur Pestseptikämie, tritt zusätzlich noch eine disseminierte intravasale Koagulation mit dunkelvioletten Einblutungen auf. Hierbei versterben so gut wie alle Erkrankten. Durch hämatogene Streuung kann eine Pest­pneumonie entstehen. Diese Lungenpest überträgt sich durch Tröpfcheninfektion auch von Mensch zu Mensch. Nur einer von zehn Erkrankten überlebt einen solchen Verlauf.

 

Die Pest heute – ein leichter Gegner?

Das Rätsel der Pest ist gelöst. Außerdem lässt sie sich heute mit Antibiotika wie Streptomycin, Tetrazyklinen oder Fluorchinolonen behandeln. Dr. rer. nat. Alexander Rakin, der am Max von Pettenkofer-Institut der Ludwig Maxi­milians Universität München an Yersinien forscht, glaubt trotzdem nicht, dass die Krankheit sich ganz besiegen lässt: „Anders als etwa bei den Pocken ist der Mensch kein ­Re­servoir von Yersinia pestis, sondern im Gegenteil eher ein Fehlwirt.“

 

Der Erreger besitzt überall auf der Welt Reservoire – Nagetiere, die verhältnismäßig resistent gegen ihn sind, so dass sich bei ihnen ein beständiger Nagetier-Floh-Infektionszyklus aufrechterhält. Nur wenn die Flöhe auf empfindlichere Tiere treffen und diese an Yersinia ­pestis versterben, müssen sie nach neuen Nahrungsquellen suchen und können so – fast versehentlich – auch Menschen beißen. Im Westen der USA sind zum Beispiel Eichhörnchen Erregerreservoire, in Madagaskar und Indien die bekannte Hausratte, Rattus rattus. Jedes Jahr zählt die WHO immer noch etwa 2.500 Pestfälle mit knapp 200 Toten.

 

„Wir können die Ausbrüche durch gutes Überwachen, vor allem der ­Floh­vektoren und der Reservoirtiere kontrollieren“, sagt Alexander Rakin. Gefahr droht, wenn die Kontrolle, etwa in Kriegsgebieten, nicht funktioniert. Eventuell gefährlich könnte der Erreger aber noch auf andere Weise werden: „Es ist kein Geheimnis mehr, dass die UdSSR, die USA und weitere Länder an Yersinia pestis als biologischer Waffe forschten“, sagt Alexander Rakin, der selber aus Rostow-am-Don stammt. „Polyresistente Stämme sind nicht schwer zu konstruieren und lassen sich auch aus der Natur iso­lieren. Und die Pestpneumonie lässt sich als Aerosol übertragen.“ Bei solch einem Horrorangriff wären viele Menschen sehr wahrscheinlich binnen weniger Tage tot.

 

Lepra: langsam, aber zerstörerisch

Aussichtsreicher scheint dagegen der Kampf gegen eine andere Geißel der Menschheit, der Lepra. Am Welt-Lepra-Tag im Januar 2008 erfüllten fast alle Länder der Erde, mit Ausnahme von Brasilien, Nepal, dem Kongo und Mosambik, die WHO-Kriterien der „Lepra-Elimination“. Elimination heißt: An einem Stichtag steht weniger als ein Mensch pro 10.000 Einwohner unter Therapie. Anders als bei der Pest versterben die Patienten nicht unbedingt an ihrer Krankheit, jedenfalls nicht gleich, aber sie entstellt und ver­stümmelt die Betroffenen.

 

 

Abb. 4: Spezielle Schuhe für Leprakranke. Etwa drei Millionen Menschen leiden weltweit an Behinderungen durch Lepra. Foto: Christopher Thomas

Der von Mensch zu Mensch übertragene Erreger, Mycobacterium leprae, befällt vor allem Makrophagen und Schwann-Zellen. Nach einer Latenzzeit von drei Monaten bis 40 Jahren erscheinen bei fünf Prozent der Infizierten mit intakter zellulärer Immunantwort ver­einzelte kleine, hypopigmentierte Hautläsionen, die oft unbemerkt verschwinden. Wenn periphere Nerven beteiligt sind, drohen Muskelatrophien, Deformitä­ten und Sensibilitätsverluste, die zu traumatischen Am­pu­ta­tionen oder zu schlecht heilen­den Ulzera führen können.

 

Bei einer schwa­chen zellulären ­Immunantwort entstehen zusätzlich zahlreiche Papeln und dicke Knoten der Haut. Bei diesen Patienten werden häufig auch die Augen durch Iritis oder Keratitis in Mitleidenschaft gezogen, und der Kehlkopf kann durch die Erreger genauso zerstört sein wie das Nasenseptum. Das blutig-schleimige Nasensekret ist dann oft voller Bakterien.

Sieg über einen Eisberg?

Seit Menschengedenken schmähen die Gesunden die ent­stellten Leprakranken als „Aussätzige“ und schließen sie aus der ­Gemeinschaft aus. In Deutschland entstehen im Mittelalter vor vielen Stadttoren besondere Spitäler, sogenannte Lepro­sorien, in denen die Erkrankten bis zu ihrem Tod bleiben müssen. Ab dem 15. Jahrhundert nimmt die Lepra in Mitteleuropa langsam ab. 1712 stirbt in Köln letztmals in Deutschland eine Frau an Lepra. Weltweit geht die Krankheit aber weiter: Die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) betreut zusammen mit lokalen Partnern heute immer noch fast 300 Projekte zur Lepra-Bekämpfung, ein Drittel davon allein in Indien.

 

Dr. med. Adolf Diefenhardt, medizinischer Leiter und stellvertretender Geschäftsführer der DAHW, steht den positiven Zahlen, die aus diesem Land kommen, skeptisch gegenüber: „Dass die Neuerkrankungen weltweit zurückgehen, von über 700.000 Fällen 2001 auf unter 300.000 Fälle im Jahr 2006, beruht allein auf den stark abnehmenden Zahlen aus Indien. Rechnet man diese aus der Statistik heraus, bleiben die Neuerkrankungen Jahr für Jahr konstant. Wie soll es bei einer Krankheit mit einer so langen Latenzzeit innerhalb von wenigen Jahren zu ­diesem dra­matischen Abfall kommen?“ Diefenhardt vermutet, dass diese Reduktion eher mit der Imagepflege des Schwellenlands Indien als mit Realität zu tun hat:

 

„Das Problem bei der ­Lepra: Sie ist wie ein Eisberg. Wir sehen nur den verschwindend kleinen Teil der Erkrankten. Die vielen stummen Überträger, die nie erkranken, können wir auch serologisch nicht erfassen.“ Zudem erschweren Krisen und Kriege die Kontrolle. Kleinere Erfolge sieht aber auch er: „Die Patienten kommen früher zu uns.“ Nur zehn Prozent leiden bei der Dia­gnose heute unter Behinderungen, vor fünfzehn Jahren war es noch jeder Zweite. Außerdem wachse die Toleranz gegenüber den Erkrankten. Lepra­-Kolonien gebe es zwar noch, diese dienten aber vor allem als Altersruhesitz für Lepröse über 60 Jahre.

 

Tuberkulose – Comeback dank neuem Verbündeten

Wenig Erfreuliches lässt sich dagegen vom berühmtesten Verwandten des M. leprae berichten, dem M. tuberculosis. Vor sage und schreibe 500.000 Jahren finden sich erste Spuren dieses Erregers bei unserem Vorfahren Homo erectus. Bis in Europa eine Epidemie aufflackert, vergehen ein paar Jahre: Die Welle der Tuberkulose (TB) beginnt hier erst im 17. Jahrhundert. Hundert Jahre später gilt sie vielen Medizinern als schlimmste der damaligen Seuchen. 1880 lässt sich in Deutschland die Hälfte aller Todesfälle von 15- bis 40-Jährigen auf TB zurückführen. Die Liste der an ihr verstorbenen Berühmtheiten ist endlos, dazu gehören etwa Franz Kafka, Niccolo Paganini und Frédéric Chopin.

 

 

Abb. 3: Tuberkulosekranke in Äthiopien. Schwer Erkrankte nehmen oft stark ab, deshalb der alte Name „Schwindsucht“. Im Gossenjargon heißt TB schlicht: „die Motten“. Quelle: WHO/Virot P

 

Als 1952 mit Streptomycin und Isoniazid eine effektive Zweifachtherapie ­gegen TB eingeführt wird, ist der Jubel groß. Der Erreger verliert an Bedeutung und gilt fast schon als besiegt. In Deutschland nimmt die Krankheit auch bis heute kontinuierlich ab, 2005 erkranken nur noch gut 6.000 Menschen. Trotzdem schlägt die WHO nun wieder Alarm: Zum einen steigt weltweit die Anzahl an multiresistenten TB-Stämmen. Seit 2006 spricht man sogar von extremely drug resistant tuberculosis-Fällen, die sich kaum mehr behandeln lassen. Zum anderen nimmt die Krankheit durch hohe Koinfektionsraten mit HIV weiter zu statt ab.

 

 

Abb. 5: Das typische Bild einer mit Mycobacterium tuberculosis infizierten Lunge: Man erkennt verkalkte, sogenannte „Simon-Spitzenherde“ (Pfeil) und verkalkte mediastinale Lymphknoten. Quelle: KES Thieme Verlag

 

Über acht ­Millionen Menschen erkranken mittlerweile jährlich neu an TB, etwa zwei Millionen sterben an ihren Folgen. Dieses Beispiel zeigt: Viele Seuchen sind zwar „gebändigt“, aber nach wie vor gefährlich. Ein unerwartetes Ereignis – wie bei der TB das Auftauchen des HI-Virus – reicht, dass die Medizin wieder ins Hintertreffen gerät.

 

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