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  • Dr. med. Rainer Saffar
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  • 16.03.2015

Crash mit Folgen: Therapie der Querschnittslähmung bei Motorradunfällen

Motorradunfälle enden häufig fatal. Wenn ein Fahrer bei hoher Geschwindigkeit von seiner Maschine fliegt, wird er noch meterweit über die Fahrbahn geschleudert. Lederkombi und Helm bieten da kaum Schutz. Kein Wunder, dass Biker von Verletzungen des Rückenmarks besonders häufig betroffen sind. Doch nicht jede Verletzung des Rückenmarks ist gleichbedeutend mit einem Leben im Rollstuhl. Je nach Schweregrad der neurologischen Schädigung kann die richtige Therapie sogar zur vollständigen Genesung führen.

 

 

Ein warmer, sonniger Freitag im Spätsommer. Ideales Wetter für eine kleine Motorradspritztour durch die Schwarzwälder Berglandschaft, freut sich Ben*. Seit ihm seine Eltern eine nigelnagelneue rote Kawasaki Z1000 zum 19. Geburtstag schenkten, nutzt er jede Gelegenheit, um das schöne Schmuckstück auszuführen. Lässig schlüpft er in seine Motorradkombi und schnappt den Helm. Als seine Mutter ihn verabschiedet, fällt ihm ihr besorgter Gesichtsausdruck auf. „Fahr bitte vorsichtig, ja?“

 

 

Motorradfahrer, Illustration: ccvision

 

Eigentlich weiß sie, dass Ben ein aufmerksamer und vorrausschauender Fahrer ist, trotzdem hat sie immer ein mulmiges Gefühl, wenn er losfährt. „Mach dir keine Sorgen. Zum Abendessen bin ich wieder da, versprochen!“ Eine kurze Umarmung und schon ist Ben zur Tür hinaus. Stolz blickt er auf die rote, im Sonnenlicht glänzende Maschine in der Einfahrt. Er weiß noch nicht genau, wo er hinfahren wird, aber er liebt es, sich gedankenverloren von den kurvigen Straßen des Hochschwarzwaldes führen zu lassen. Er drückt die Zündung und als der Motor aufheult, beschleunigt sich auch sein Herzschlag.

 

Sirenentöne im Sonnenschein

Die Uhr zeigt 13:49 als die Leitstelle die Rettungswache in Kirchzarten alarmiert. Die Einsatzmeldung lautet: „Verkehrsunfall mit Krad(Kraftrad)“. Sekunden später sind Rettungswagen (RTW) und Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) Richtung St. Peter unterwegs. „Leitstelle an 10/83-1“, ertönt eine Stimme aus dem Funkgerät des RTW. „Patient ist ein junger Mann, dessen Motorrad mit einem Auto zusammengeprallt ist. Scheinbar noch bei Bewusstsein und stabil. Ersthelfer sind vor Ort.“

 

Motorradfahrer haben ein 20mal höheres Risiko, tödlich zu verunglücken als PKW-Fahrer. Foto: Rainer Saffar

 

Erste Hilfe am Unfallort

Ben spürt einen sanften Ruck am Kopf. Als er die Lider öffnet, blickt er in die Augen zweier Frauen, die gerade dabei sind, seinen Helm zu öffnen. „Können Sie mich hören?“ Völlig verwirrt bringt Ben ein leises „Ja“ zwischen den Lippen hervor. Was war passiert? „Nicht bewegen, Sie hatten einen schlimmen Motorradunfall.“ Unter größter Vorsicht nimmt eine der beiden Frauen Ben den Helm ab, während die andere dafür sorgt, dass seine Wirbelsäule dabei stets stabilisiert ist. Gut, dass sie letzte Woche noch einen Erste-Hilfe-Kurs besucht hatten, so wissen sie die Handgriffe noch auswendig. Da Ben reagiert und atmet, brauchen sie ihn nicht in die stabile Seitenlage bringen.

 

Ben kann sich langsam orientieren und versucht sich zu rühren. Doch es geht nicht so recht. „Ich kann meine Beine nicht mehr spüren“, flüstert er bestürzt. Den beiden Frauen ist sofort klar, dass dies eine Verletzung der Wirbelsäule bedeutet. „Bleiben Sie ruhig, der Notarzt wird gleich da sein. Wir bleiben bei Ihnen.“

 

 

NEF und Helikopter im Rettungseinsatz, Foto: Rainer Saffar

 

Professionelle Hilfe nach standardisiertem Vorgehen

Endlich erreicht das NEF den Einsatzort und hält einige Meter vor Ben und den ihn betreuenden Frauen an. Der Notarzt Dr. Gutmann und sein Assistent entnehmen die Notfallausrüstung aus dem Kofferraum und sind mit einem Satz bei der kleinen Gruppe. „Er sagt, er könne seine Beine nicht mehr spüren“, erklärt eine der beiden Frauen. Zum Glück ist der Verletzte ansprechbar, denkt sich der Notfallmediziner und beginnt sofort mit der körperlichen Untersuchung, um sich einen Überblick über das Verletzungsmuster und die vitale Gefährdung von Ben zu machen. Während diese wie automatisch nach dem ABCD Schema abläuft, fragt er die Damen: „Was ist denn genau passiert?“

 

Er erfährt, dass der Motorradfahrer wohl ziemlich schnell unterwegs war und an der Kreuzung mit einem auf die Landstraße einbiegenden Auto kollidiert ist. Mit voller Wucht sei er auf den Asphalt geknallt. Dr. Gutmann fährt mit einer grob neurologischen Untersuchung fort, um den NACA-Score*** zu ermitteln und so die Schwere der Verletzungen festzustellen. Für die spätere Therapie ist es außerdem ausgesprochen wichtig, auch Sensibilität, Motorik und Durchblutung der Extremitäten zu dokumentieren.

 

Die Untersuchung deutet auf schwere innere Verletzungen hin, die aber nicht akut lebensbedrohlich sind. Aufgrund der Verletzungen der Wirbelsäule, weist Dr. Gutmann den Rettungsassistent an, einen Rettungshubschrauber (RTH) anzufordern, damit der Transport schnell und vor allem schonend erfolgt. Dann legt er Ben einen intravenösen Zugang an, über den er ihm als erstes Medikament Fentanyl, ein hochpotentes Opioid, zur Schmerzstillung verabreicht. Nun muss die Wirbelsäule stabilisiert werden, da sonst die Gefahr besteht, dass gebrochene Wirbelkörper verrutschen und dabei Schäden an dem empfindlichen, nahegelegenen Nervengewebe – insbesondere dem Rückenmark – verursachen.

 

 

Mit einer Vakuummatratze kann der Verletzte immobilisiert und transportiert werden. Sie passt sich jeder Körperform an. Foto: KES Thieme

 

Zusammen mit den beiden Rettungsassistenten des zwischenzeitlich eingetroffenen RTW hebt er Ben mit einer Schaufeltrage auf eine Vakuummatratze, um die Brust- und Lendenwirbelsäule zu fixieren. Sie passt sich jeder Körperform an und verhärtet nach dem Absaugen der darin befindlichen Luft. Zusätzlich stabilisiert Dr. Gutmann die Halswirbelsäule mit einem „Stiffneck“. So primärversorgt kann Ben jetzt eigentlich transportiert werden und tatsächlich, im Hintergrund hört man schon den Rotor des Helikopters. In sichere Entfernung landet dieser auf der vollgesperrten Straße. Schnell wird Ben an das Luftrettungsteam übergeben und in das nächste Traumazentrum geflogen.

 

Glück im Unglück

In der Klinik wird Ben durch die Diagnostik geschleust: Ultraschall vom Abdomen, Röntgenuntersuchungen und Computertomographie. Die Ärzte stellen mehrere Knochenbrüche und dadurch verursachte schwerwiegende Blutungen in die Extremitäten fest. Obwohl Ben vorschriftsmäßig seine Motorradkombi getragen hat, hat auch seine Wirbelsäule den Sturz nicht unbeschadet überstanden. Ein Brustwirbel ist in mehrere Teile zersplittert, von denen ein Sequester auf das nahegelegene Rückenmark drückt.

 

 

MRT der Wirbelsäule: BWK-Fraktur mit Kompression des Rückenmarks, Foto: KES Thieme

 

Die Nervenzellen in dem gequetschten Bereich sind nun nicht mehr vollständig funktionsfähig. Daher kommen auch die motorischen und sensiblen Ausfälle, Zeichen der akuten Querschnittslähmung. Während einer mehrstündigen Operation werden der frakturierte Wirbelkörper und die Frakturen an seinen Extremitäten operativ versorgt. Dank des perfekt sitzenden Motorradhelmes ist Ben wenigstens ein Schädel-Hirn-Trauma erspart geblieben.

 

Ein gefährliches Hobby

Statistisch gesehen ereignen sich in Deutschland ca. 120.000 Zweiradunfälle pro Jahr. Knapp 20 % davon sind Motorradfahrer. Von allen verunfallten Kraftradfahrern wird jährlich rund ein Fünftel schwer verletzt, etwa 8 % versterben an den Unfallfolgen. Im Durchschnitt erleiden 7,3 % der verunfallten Motorradfahrer eine Wirbelsäulenverletzung (4,2 % Brustwirbelsäule, 3,1 % Lendenwirbelsäule). Laut Statistik (ADAC 2012) sind Kradfahrer einem 20-mal höheren Risiko tödlich zu verunglücken ausgesetzt, als ein PKW-Fahrer bei gleicher Anzahl an zurückgelegten Kilometern.

 

Bens Unglück zählt zu den gravierendsten Schicksalsschlägen, mit denen ein Mensch konfrontiert werden kann. Spricht man von einer Querschnittslähmung, präsentiert sich vor dem inneren Auge oftmals sofort das Bild eines Menschen im Rollstuhl, der nie wieder laufen können wird. Allgemein aber können Spinaltraumata völlig unterschiedlich in Erscheinung treten. Der Ausfall der Motorik der betroffenen Region ist oftmals nur ein Symptom. Hinzukommen können viele weitere wie z.B. Sensibilitätsstörungen, Ausfall von Harn- und Stuhldrang oder neuropathische Schmerzen.

 

Seltener treten außerdem Regulationsstörungen der Atmung und des Kreislaufes auf. Aufgrund von mangelnder Bewegung kann es längerfristig gesehen auch zur Entwicklung von Osteoporose kommen. Betroffene haben ebenfalls häufig mit psychisch labilen Episoden oder beruflichen Rehabilitierungsproblemen zu kämpfen. Querschnittslähmungen sind somit nicht nur physischer Natur, sondern wirken sich genauso auf die Psyche und das Sozialleben aus.

 

Klassifizierbar sind Querschnittslähmungen in vielerlei Hinsicht. So müssen beispielsweise akute Rückenmarksverletzungen, wie sie bei einem Polytrauma auftreten können, von den nicht-akuten abgegrenzt werden. Letztere können wuchernde Tumore, Infektionen des Rückenmarks oder embryologische Fehlbildungen zur Ursache haben. Ebenso lässt sich das Krankheitsbild in reversible und nicht reversible Schädigungen oder auch mit Begriffen wie operabel und inoperabel unterteilen.

 

 

In der Forschung bewegt sich was

Ben hat großes Glück. Das Rückenmark wurde nicht dauerhaft verletzt. Bereits nach wenigen Wochen kann er das Krankenhaus zu Fuß wieder verlassen. Er ist dankbar, dass er einem Leben im Rollstuhl nochmal entkommen ist. Der Nutzung von motorbetriebenen Zweirädern hat er auf unbestimmte Zeit abgeschworen. Wieder daheim lässt ihn das Thema Querschnittslähmung nicht mehr los. Von einem befreundeten Arzt lässt er sich erklären, wie weit die Forschung im Fall einer dauerhaften Querschnittslähmung ist.

 

Dabei erfährt er, dass das Nervengewebe nach wie vor zu den komplexesten Strukturen des menschlichen Körpers zählt. Zusätzlich gehören die spezialisierten Nervenzellen im Rückenmark zu den mitotisch inaktiven Zellen. Während sich die meisten nicht-nervlichen Gewebe im Falle einer Schädigung mithilfe der Zellteilung regenerieren können, ist das bei Neuronen weitestgehend unmöglich. Zwar können periphere Nervenfasern nach einer Verletzung, wenn auch nur sehr langsam, nachwachsen (Neurogenese). Im Rückenmark- und Hirngewebe bleiben Schädigungen aber dauerhaft erhalten.

 

Doch sein Kumpel weiß auch von einem Fall, bei dem ein Patient tatsächlich geheilt wurde: Einem Forscherteam aus Polen und Großbritannien sei es kürzlich gelungen, einen Querschnittsgelähmten so weit zu heilen, dass er wieder in der Lage ist zu gehen. Der 38-jährige erlitt bei einem Gewaltverbrechen mehrere Messerstiche in den Rücken. Dabei wurde sein Rückenmark so stark beschädigt, dass Laufen nicht mehr möglich war. Die Lücke zwischen den durchtrennten Nervenenden des Rückenmarks, verhinderte eine motorische Innervation aller Muskeln unterhalb der Hüfte. Ihm wurde gesagt, er müsse den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. Mithilfe körpereigener Zellen, sog. olfaktorische Mantelzellen, die aus seiner Nase entnommen wurden, wurden die Enden der abgetrennten Nervenfasern wieder zum Wachstum angeregt.

 

Sie waren also in der Lage, die Lücke zu überbrücken und wieder einen elektrischen Fluss durch den Nervenstrang zu gewährleisten. Ein weiterer positiver Effekt: Da es sich bei den transplantierten Zellen um seine eigenen Zellen handelte, musste weder sein Immunsystem supprimiert werden, noch kam es zu einer Abstoßungsreaktion. „Durch den Erfolg des Ärzteteams könnte sich das Bild vom irreparabel geschädigten ZNS bald ändern und vielen Betroffenen wieder Hoffnung geben“, meint Bens Kumpel. Das freut Ben, aber er ist froh, dass ihm solch eine Therapie erspart blieb.

 

 

Erste Hilfe bei Motorradunfall

Eine Frage, die immer wieder aufkommt, ist, ob man dem Unfallopfer den Motorradhelm vom Kopf abnehmen sollte oder nicht. Beide Optionen bergen offensichtliche Vor- und Nachteile. Die sachgerechte Lagerung einer ohnmächtigen Person, nämlich die stabile Seitenlage, wird durch einen Helm auf dem Kopf unmöglich. Zieht man den Helm jedoch ab, besteht die Gefahr, eine vermeintliche Verletzung der Halswirbelsäule noch zu verschlimmern.

 

 

Das Abnehmen des Motorradhelms gelingt am besten zu zweit. Foto: Thieme VG

 

Laut Leitlinien ist es richtig, den Helm abzunehmen. Dabei sollte man vorsichtig vorgehen und die Halswirbelsäule ständig stabilisieren. Am besten gelingt die Helmabnahme zu zweit. Sollte sich der Verunfallte nicht aus eigenem Antrieb bewegen können bzw. bewusstlos sein, muss er zusätzlich behutsam aus dem Gefahrenbereich gebracht werden, z.B. an den Rand der Straße. Anschließend wird geprüft, ob eine suffiziente Atmung besteht. Sind die Vitalparameter stabil, bringt man das Unfallopfer in die stabile Seitenlage.

 

Wenn weder Atmung noch Puls messbar sind, muss die Reanimation mittels Herzdruckmassage so lange durchgeführt werden, bis der Rettungsdienst eintrifft. Sichtbare Blutungen sollten durch das Anlegen von Kompressionsverbänden gestillt werden. Das frühere gelehrte „Abbinden“ von Extremitäten ist inzwischen obsolet. Auch die spätere Replantation von abgerissenen Körperteilen wird durch das Komprimieren am Unfallort ermöglicht.

 

* Name frei erfunden

 

** ABCD Schema
A - Airway (Atemweg)
B - Breathing (Beatmung)
C - Circulation (Kreislauf)
D - Disability (neurologisches Defizit)
E - Exposure/Environment (Exploration)

 

*** Der NACA-Score ist ein Schema, um die Schwere von Verletzungen, Erkrankungen oder Vergiftungen zu kategorisieren. Es findet häufig Anwendung in der Notfallmedizin.

NACA 0: Keine Verletzung oder Erkrankung.
Diese Kategorie wird häufig entweder ersatzlos gestrichen oder durch NACA I ersetzt.
NACA I: Geringfügige Störung. Keine ärztliche Intervention erforderlich. Z.B. leichte Hautabschürfung.
NACA II: Leichte bis mäßig schwere Störung. Ambulante ärztliche Abklärung, in der Regel aber keine notärztlichen Maßnahmen erforderlich. Z. B. Fraktur eines Fingerknochens, mäßige Schnittverletzungen; Exsikkose (Austrocknung).
NACA III: Mäßige bis schwere, aber nicht lebensbedrohliche Störung. Stationäre Behandlung erforderlich, häufig auch notärztliche Maßnahmen vor Ort. Z. B. Oberschenkelfraktur; leichter Schlaganfall; Rauchgasvergiftung.
NACA IV: Schwere Störung, bei der die kurzfristige Entwicklung einer Lebensbedrohung nicht ausgeschlossen werden kann; in den überwiegenden Fällen ist eine notärztliche Versorgung erforderlich. Z. B. Wirbelverletzung mit neurologischen Ausfällen; schwerer Asthmaanfall; Medikamentenvergiftung.
NACA V: Akute Lebensgefahr. Z. B. z. B. drittgradiges Schädel-Hirn-Trauma; schwerer Herzinfarkt; erhebliche Opioidvergiftung.
NACA VI: Reanimation
NACA VII: Tod

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