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  • Prof. Dr. Asmus Finzen, Dr. Ulrike Hoffmann-Richter
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  • 02.08.2011

Umgang mit suizidalen Patienten

Suizidgefährdung ist keine Krankheit. Die Selbsttötung ist eine Möglichkeit des Menschen - und als Möglichkeit ist sie niemandem ganz fremd. Suizidgefährdung kann aber auch Symptom psychischer Krankheit sein. Prof. Dr. Asmus Finzen und Dr. Ulrike Hoffmann-Richter erläutern, wie man mit Suizidgefährdeten umgeht und welche Fehler man dabei vermeiden sollte.

Einleitung

Es gibt nur wenige psychisch Kranke, deren Leiden nicht irgendwann zu der Frage führt: Kann ich, will ich so weiterleben? Depressive Verstimmungszustände, Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, Abhängigkeitserkrankungen, psychogene Reaktionen und Persönlichkeitsstörungen bringen für viele Kranke soviel Leid und soviel Erschütterung in ihren Beziehungen zu anderen Menschen mit sich, daß sich Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ausbreiten. Dies aber sind die wichtigsten Risikofaktoren, die eine Suizidgefährdung mit sich bringen und die zum "präsuizidalen Syndrom" und schließlich zur Suizidhandlung führen können. Aber auch bei Menschen, bei denen bis dahin keine psychische Störung bekannt war, können Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in eine Suizidhandlung münden.

 

Aus dem Gleis geraten

Eine 36jährige Frau wird notfallmäßig in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Passanten haben gesehen, wie sie im Bahnhof auf einen einfahrenden Schnellzug zugelaufen ist, und haben die Polizei alarmiert. Die Patientin streitet zunächst Suizidgedanken ab, räumt jedoch ein, daß sie sich vom Bahnhof heftig angezogen gefühlt habe. Ein heftiger Wunsch nach Freiheit habe sie geleitet. Darüber hinaus ist sie am Aufnahmetag nicht sehr gesprächig. In den folgenden Tagen erzählt die differenzierte, intelligente Akademikerin, wie sie in die jetzige Situation geraten ist:

Nach siebenjähriger Beziehung hat sie sich vor drei Monaten von ihrem Partner getrennt, die Wohnung gewechselt und versucht, ihr Leben umzuorganisieren. Beruflich ist sie seit Jahren erfolgreich und zudem politisch aktiv. Nur wenige Wochen zuvor hat sie einen großen beruflichen Durchbruch erzielt. Die Trennung von ihrem Partner kränkt und belastet sie jedoch nach wie vor sehr. Sie fühlt sich einsam und verunsichert. Daher hat sie vor einigen Wochen eine ambulante Psychotherapie begonnen und sich schließlich in stationäre Behandlung in eine Privatklinik begeben, um dort "Trauerarbeit" zu leisten. Dort ist eine zunehmende Depressivität mit vermehrten Suizidgedanken aufgetreten. Diese haben sie auch auf den Bahnhof geführt.

 

Laufen am Abgrund

Die Patientin wird nach wenigen Tagen aus der psychiatrischen Klinik entlassen, um erneut in der Privatklinik aufgenommen zu werden. Drei Wochen später kommt die Nachricht, daß sie sich vor einen Zug geworfen hat. Vorausgegangen war eine Zeit des mühsamen Verhandelns in der Privatklinik: Das Team hat die Arbeit mit der Patientin als ein ständiges "Laufen am Abgrund" erlebt. Viele Helfer und Freundinnen haben sich um sie bemüht. Dennoch schien sie unerreichbar zu sein. Schließlich ließen die drängenden Gedanken, sich zu suizidieren, nach. Die depressive Stimmung löste sich, die Patientin wurde ruhiger. Das Behandlungsteam begann aufzuatmen. Dann passierte es.

Ein ungewöhnlicher Verlauf? So ungewöhnlich ist diese Geschichte nicht. Sie kann vielmehr für viele Probleme im Umgang mit Suizidalität und Suizidpatienten als Beispiel dienen.

 

Recht auf Suizid?

Suizid ist ein menschenmöglicher Akt. Keiner von uns ist vor Suizidgedanken sicher. Ob daraus ein Suizidversuch wird, liegt meist an der Häufung komplizierter Umstände. Ob daraus ein vollendeter Suizid wird, mag sogar eine Frage von Glück oder Unglück sein, rechtzeitig gefunden zu werden oder eine gerade nicht tödliche Dosis an Medikamenten geschluckt zu haben. Manche Autoren fordern ein Recht auf Suizid ein, auf die Freiheit, Hand an sich zu legen, wenn die persönliche Bilanz ergeben hat, daß sich Weiterleben nicht lohnt. Der Psychologe Walter A. Scobel formuliert: "Jeder suizidale Mensch, ob er nun krank ist oder gesund, verdient Achtung statt Ächtung, Anteilnahme statt Ablehnung, Verständnis statt intoleranter Verurteilung, Mitgefühl statt Bestrafung und Entmündigung, Hilfe statt Gleichgültigkeit. Tot sein und nicht mehr weiterleben wollen sollte als möglicher und einsehbarer Impuls der menschlichen Psyche akzeptiert und nicht länger tabuisiert und diskriminiert werden."

Dieser Forderung gegenüber steht die Frage, ob es nicht eher Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind, die an Suizid denken lassen, die Frage, ob Suizid Freitod oder Krankheit ist.

 

Risikofaktoren

Bei Suizidpatienten finden sich häufig auffallend ähnliche Probleme. Diese können deshalb als Risikofaktoren für Suizidalität gelten:

Erstaunlicherweise können auch erfreuliche Veränderungen wie Heirat, Geburten oder bestandenes Examen mit schweren Krisen einhergehen.

Außerdem gibt es einige Gruppen, die besonders suizidgefährdet sind. Dazu gehören Ärztinnen und Ärzte sowie andere Berufsgruppen aus dem medizinischen Umfeld. Insbesondere bei Psychiatern spielt möglicherweise die ständige Konfrontation mit Grenzsituationen, der Zugang zu Suizidmitteln und die Auseinandersetzung mit dem Tod eine nicht unwesentliche Rolle.

 

Die besondere Gefährdung psychisch Kranker

Suizid und Suizidalität kommen also nicht nur bei psychisch Erkrankten vor. Die Perspektive ist sogar umgekehrt: Die meisten Faktoren, die bei psychisch schwer erkrankten Menschen zum Suizid führen, entsprechen den Problemen gesunder. Eine Schizophrenie oder eine manisch-depressive Erkrankung brechen jedoch nicht selten in Lebenskrisen aus. Dabei fördert die psychische Erkrankung Einsamkeit und Isolation und erschwert eine konstruktive Krisenbewältigung.

Der Suizid ist daher die häufigste Todesursache in der Psychiatrie. 5-15% der an einer Schizophrenie oder manisch-depressiven Psychose Erkrankten sterben durch Suizid. Aufgrund ihrer psychischen Erkrankung sind den Betroffenen viele Möglichkeiten versperrt, Krisensituationen als Reifungsprozesse mit mehr oder weniger konstruktivem Ergebnis zu durchleben. Sie bedürfen deshalb in der akuten Phase der Suizidgefährdung einer intensiven Unterstützung und Begleitung. So muß z.B. während eines Krankenhausaufenthaltes täglich neu überlegt werden, ob ein suizidgefährdeter Patient in Begleitung oder alleine einen Spaziergang machen darf, wann er beurlaubt oder wann er entlassen werden kann.

 

Heilung zum Suizid

Was bedeutet es aber, wenn wir den Patienten durch unsere Behandlung zwar aus einer Wahnwelt herausbringen, ihn aber nicht heilen können und auch nicht in den Zustand versetzen, sein Leben wie ein Gesunder zu bewältigen? Im Zweifelsfall machen wir solche Patienten durch unsere Behandlung stark genug, um Bilanz zu ziehen und zu folgern, daß sie in Wirklichkeit keine Chance haben, daß sie so nicht leben wollen: Nicht wenige Patienten führen ihren Suizid gerade dann aus, wenn von ärztlicher Seite eine längerfristige Besserung absehbar scheint. Bedeutet dies für uns Behandelnde, zu erkennen, daß wir nicht alles können und daß nicht alles machbar ist?

 

Probleme und klassische Fehler

Die Betreuung suizidaler Patienten ist nicht einfach. Welche Probleme können im Umgang mit Suizidpatienten auftreten, welche Fehler sollte man vermeiden?

In der eingangs geschilderten Situation berichtete die Patientin zunächst, sie habe nicht an Suizid gedacht, sondern an Weite, Freiheit und Unendlichkeit, als sie sich im Bahnhof auf den Zug zu bewegte. Möglicherweise schämte sie sich ihres Suizidimpulses. Auf alle Fälle versuchte sie, im nachhinein die bedrohliche Situation zu bagatellisieren. Sie machte den Therapeuten das Angebot, sich nicht mit einer ausweglos scheinenden Situation auseinandersetzen zu müssen. Die Patientin hatte jedoch einen Suizidversuch begangen, und ihre Situation war weiterhin dieselbe. Die Therapeuten hätten sich nicht durch den scheinbaren Lösungsversuch von seiten der Patientin in die Irre führen lassen dürfen.

Eine zweite Falle besteht darin, möglichst schnell nach einem Ausweg und einer möglichen Zukunftsperspektive zu suchen. Solch eine herbeigezwungene Normalisierung mag im Moment wie eine Lösung aussehen. Wichtig ist vielmehr, die ausweglos scheinende Situation zu verändern, aus der heraus die Patientin den Suizidversuch unternommen hatte.

Ein dritter Fehler ist die Unterteilung in ernstzunehmende und nicht ernsthafte Methoden eines Suizidversuchs oder die Bewertung von Suizidäußerungen in ernstzunehmende oder zweckgerichtete. Die meisten Suizidversuche wurden vorher angekündigt. Ein wesentlicher Risikofaktor für einen erfolgreichen Suizid sind vorherige Suizidversuche. Entsprechende Äußerungen und jegliche Formen eines Suizidversuchs signalisieren eine schwere Krise.

 

Suizidversuch als Hilferuf

Suizidversuche bergen häufig die Hoffnung, gehört und verstanden zu werden. Die amerikanische Lyrikerin Silvia Plath erkrankte mit 19 Jahren erstmals an einer Schizophrenie und versuchte sich das Leben zu nehmen, indem sie Tabletten schluckte und sich so gut versteckte, daß sie nur durch Zufall gerettet werden konnte. In der Folgezeit erholte sie sich nach einer längeren Krankheitsphase sehr gut, heiratete, bekam zwei Kinder und schrieb in erstaunlich kurzer Zeit ihr Lebenswerk. Sie wurde jedoch immer wieder suizidal und beschrieb in Lyrik und Prosa ihren Kampf mit dem Tod. Schließlich erkrankte sie wieder. Sie plante wie unter Zwang einen weiteren Suizidversuch und konnte sich dieser Handlung selbst nicht erwehren. Obwohl sie viele Maßnahmen ergriff, um doch noch gerettet zu werden, kam jede Hilfe zu spät. Es ist folglich ein Irrtum zu meinen, jemand, der viele Suizidversuche hinter sich hat, möchte auch tatsächlich nicht weiterleben.

 

Ärzte und Suizidgefährdete

Suizidale Patienten verunsichern die Behandelnden in besonderer Weise. Pflegepersonal und Ärzte scheinen Suizidpatienten weniger einfühlsam und wohlwollend, ja geradezu feindlich oder ablehnendzu behandeln. Der Psychiater Christian Reimer begründet diese Beobachtung damit, daß medizinisches Personal seinen Beruf nicht zuletzt aus Angst vor dem Tod und dem Wunsch, den Tod zu beherrschen, ergreift. Aggressive, auch autoaggressive Tendenzen, Resignation oder Depressivität, die im eigenen Seelenleben unterdrückt werden, sind deshalb beim Patienten nur schwer erträglich. Diese sogenannte negative Gegenübertragung führt dazu, daß sich der Behandelnde mit den Patienten "verheddert".

So auch bei unserer Suizidpatientin: Um sich von ihren Suizidgedanken zu verabschieden, hätte die Patientin einer warmen, annehmenden, freundlich-verständnisvollen Haltung auf seiten der Ärzte bedurft. Wenn die Patientin durch Suizidimpulse sowohl den Wert, Leben zu wollen, in Frage stellt als auch die Fähigkeit der Ärzte, ihr zu helfen, werden diese mit Abwehr und Distanz oder sogar mit Spannung und Aggression reagieren. Gerade dadurch muß sich die Patientin enttäuscht, abgewiesen und womöglich in ihren Suizidimpulsen bestätigt gefühlt haben.

 

Bearbeiten der aggressiven Tendenzen

Es ist schwer, aber wichtig, die aggressiven Tendenzen, die mit einer Suizidhandlung verbunden sind, zu bearbeiten. Es ist ebenso wichtig, vorausgegangene Kränkungen und die große Kränkbarkeit der Betroffenen nicht zu unterschätzen. Von ihnen ausgehende Provokationen sind nicht selten ein "Test" für das Gegenüber. Ärzte, Pfleger oder Sozialarbeiter haben ihn bestanden, wenn es ihnen gelingt, die Provokation nicht persönlich zu nehmen.

Besonders schwierig scheint der Umgang mit solchen Situationen zu sein, wenn der Patient oder die Patientin in einem ähnlichen Alter ist wie der Arzt oder die Sozialarbeiterin, wenn er/sie derselben sozialen Schicht angehört, einen ähnlichen Ausbildungsstand hat oder gar noch im selben Berufsfeld tätig ist. Dann nämlich ist die Grenze zwischen Behandelnden und Behandelten durchlässig und für die Therapeuten die Konfrontation mit den eigenen Fragen an das Leben unvermeidlich!

 

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