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  • Dr. med. Horst Gross
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  • 18.10.2012

Notfall: Mögliche Folgen der Detonation einer 'dirty bomb'

2011 jährt sich zum 25. Mal die Katastrophe von Tschernobyl. Dieses "Jubiläum" erinnert an das atomare Damokles-Schwert, das über der Menschheit schwebt. Marode AKWs sind dabei nur ein Teil des Problems. Sorgen machen sollte man sich auch wegen der unbekannten Menge an radioaktivem Material, das sich in den Händen von Unbefugten bzw. Kriminellen befindet. Wir beschreiben, wie das Katastrophenmanagement nach der Detonation einer "dirty bomb" in einer Großstadt aussehen könnte. Dieses Szenario ist fiktiv, die Abläufe beruhen aber auf offiziellen Alarmplänen und Gefährdungsanalysen.

Am Epizentrum entwickelten sich dadurch kurzzeitig Temperaturen von über 1 Million °C. Eine Minute nach dem Abwurf waren 80% der Innenstadtfläche zerstört und 70.000 Menschen tot.

Foto: US Army

 

Berlin im Dezember 2015. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag. Auf den Straßen und Gehwegen liegt noch der Schnee der vergangenen Nacht. Viele Berliner pilgern an den Kurfürstendamm, um die letzten Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Die Gedächtniskirche ist hinter einem Baugerüst verborgen. Im größten Hotel der Hauptstadt, 350 Meter von der Gedächtniskirche entfernt, beginnt eine Nahostkonferenz. Es gilt Sicherheitsstufe 1. Auch die amerikanische Präsidentin Sarah Palin ist angereist.

 

13.19 Uhr

Eine Detonation erschüttert die Innenstadt. An der Spitze des Baugerüsts um die Gedächtniskirche ist etwas explodiert. Das Gerüst stürzt teilweise ein. Durch die herabfallenden Teile werden Menschen verletzt. Im Konferenzhotel wird Sicherheitsalarm ausgelöst. Die Politiker werden in ihren gepanzerten Limousinen in Sicherheit gebracht.

13.23 Uhr

Rettungswagen treffen am Breitscheidplatz ein. Der Unfall scheint überschaubar. Etwa 10 Schwer- und 20 Leichtverletzte müssen versorgt werden. Die Feuerwehr vermutet, dass Gasflaschen explodiert sind.

13.35 Uhr

Der Platz füllt sich mit Schaulustigen. Mehrere Hundertschaften der Berliner Polizei treffen ein und sperren das Gelände ab. Die Bevölkerung wird per Lautsprecher aufgefordert, nach Hause zu fahren. Die Menschen strömen zu den U-Bahn-Eingängen. Niemand ahnt, dass sie dabei mit dem Schneematsch an ihren Schuhen eine tödliche Fracht in die Nahverkehrszüge schleppen.

13.40 Uhr

Die Verletzten werden auf die umliegenden Krankenhäuser und zwei Unikliniken verteilt. Zusätzliches medizinisches Personal wird aus dem Frei in die Krankenhäuser beordert. Die Lage scheint sich zu beruhigen.

13.50 Uhr

Ein Feuerwehrmann, der routinemäßig eine Strahlenschutzmessung am Explosionsort durchführt, glaubt an einen technischen Defekt. Der Zeiger seines Geigerzählers schlägt maximal aus. Ratlosigkeit in der Leitstelle. Man alarmiert einen ABC-Messtrupp der Bundeswehr. Kostbare Zeit vergeht.

14.25 Uhr

Die Spezialisten der Bundeswehr messen extrem hohe Strahlung im Gammabereich. Auf dem Gelände findet sich eine hohe Konzentration des radioaktiven Isotops Cäsium-137. Jetzt ist klar: Die Explosion war eine "schmutzige Bombe", also eine konventionelle Bombe, die mit radioaktivem Material befüllt war. Diese "Atombombe zum Selberbauen" schädigt nicht durch ihre Explosionskraft. Sie soll möglichst viele Menschen radioaktiv kontaminieren. Der Anschlag galt offenbar dem nahe gelegenen Konferenzhotel.

14.40 Uhr

Lautsprecherdurchsagen fordern die Bevölkerung zum sofortigen Verlassen der Innenstadtstraßen auf. Ein Bereich von 500 Meter um die Gedächtniskirche wird geräumt. Anwohner sollen zu Hause bleiben und Fenster und Türen hermetisch schließen. Feuchte Tücher vor Mund und Nase bieten weiteren Schutz. Eine sinnvolle Strategie, denn Cäsiumstaub kommt nicht durch geschlossene Fenster. Gefährlich sind nur der direkte Hautkontakt und besonders das Einatmen.

14.50 Uhr

Zusatzmessungen zeigen hohe Radioaktivität in der U-Bahn-Station Kurfürstendamm. Kein Wunder, die Passanten haben den radioaktiven Schneematsch in den Bahnhof getragen. Man vermutet einen weiteren Anschlag und begeht einen folgenschweren Fehler: Der gesamte U-Bahn-Verkehr in der Innenstadt wird sofort unterbrochen. Die Fahrgäste bekommen Angst und strömen aus den liegen gebliebenen Zügen auf die Straße. Auf den engen Treppen kommt es zur Panik. Erneut werden Menschen schwer verletzt.
15.00 Uhr
Der Rundfunk verbreitet eine für solche Fälle präparierte Durchsage. Sie ist besonders beruhigend formuliert, um ja keine Panik auszulösen. Wegen "technischer Gefährdungen in der Innenstadt" solle man zu Hause bleiben und sicherheitshalber die Fenster und Türen geschlossen halten.

15.30 Uhr

Als Ärzte und Pflegepersonal in den Kliniken erfahren, dass ein Strahlennotfall vorliegt und die Patienten wahrscheinlich kontaminiert sind, macht sich Entsetzen breit. Damit hat niemand gerechnet. Große Mengen radioaktiven Materials wurden mit dem Schneematsch an Schuhen und Kleidung in die Krankenhäuser geschleppt. Erste Messungen der Feuerwehr bestätigen die Befürchtung: Zwei Kliniken müssen ihre Notfallaufnahmen wegen Verstrahlung komplett sperren. An das Personal werden Schutzanzüge ausgegeben.
15.41 Uhr
Ein privater Rundfunksender tanzt aus der Reihe und meldet, dass an der Gedächtniskirche eine "Atombombe" explodiert sei. Jetzt ist in der Innenstadt der Teufel los. Die Hilfskräfte kommen kaum mehr durch die verstopften Straßen. Alle wollen nur noch weg.

16.10 Uhr

Der Feuerwehr gelingt es, zwei mobile Dekontaminationseinheiten in der Innenstadt aufzubauen. Das sind große Duschanlagen, die schnell sehr viele Menschen dekontaminieren können. Über den Rundfunk und das Fernsehen informieren die Behörden über den radioaktiven Notfall. Die Regierende Bürgermeisterin wendet sich in einem improvisierten Appell an die Bevölkerung. Alles vergebens! Massenhaft versuchen die Menschen mit dem Auto aus der Stadt zu fliehen. Zahlreiche Verkehrsunfälle verstopfen die Straßen. Rettungswagen und Polizei kommen nicht mehr durch. Die Notfallversorgung in den Krankenhäusern ist komplett zusammengebrochen. Es gibt keine Blutkonserven mehr. Die Rettungsstellen werden von Menschen in Panik gestürmt. Sie wollen auch Schutzanzüge, so wie das Personal sie hat. Zusätzlich angeforderte private Rettungskräfte weigern sich, in die Innenstadt zu fahren.
18.05 Uhr
Die Bundesregierung ruft den Notstand aus und schickt Truppen nach Berlin. Der Bundeskanzler wendet sich an die Bevölkerung und betont, dass das Problem im Griff sei.

20.00 Uhr

In den Außenbezirken werden Notkliniken eröffnet. Die Bundeswehr karrt große Mengen von Spezialmedikamenten zur Behandlung von Strahlenerkrankten aus ihrer Reserve heran. Den Betroffenen wird Radiogardase® (Preußischblau) appliziert, ein Chelatbildner, der Schwermetalle und vor allem Cäsium im Körper bindet und renal eliminiert.

2.00 Uhr

Mit massiver Unterstützung der Bundeswehr gelingt es, die medizinische Versorgung der vielen Panikopfer sicherzustellen und die Unruhe einzudämmen. Öffentliche Strahlenmessstellen werden eingerichtet. Man versucht alle Betroffenen zu identifizieren, die einer medikamentösen Behandlung bedürfen. Sondersendungen informieren die Bevölkerung über die typischen Symptome der Strahlenkrankheit. Am Morgen des Folgetages beginnt sich die Lage in der Innenstadt zu stabilisieren. Spezialfahrzeuge des Katastrophenschutzes stellen die Wasserversorgung sicher, da unklar ist, wie stark das Trinkwasser verseucht ist.

 

"The days after"

Spezialisten vermuten, dass aus der Bombe etwa 500 Gramm Cäsium-137 freigesetzt wurden. Zusätzlich zu den Hunderten schwerverletzten Panikopfern müssen 400 Menschen wegen deutlich erhöhter Strahlenbelastung behandelt werden. Viele Verstrahlte leiden an Übelkeit und Durchfall und entwickeln ein hämatopoetisches Syndrom mit Panzytopenie (Kasten, S. 45). 11 Menschen sterben an den typischen Folgen der akuten Verstrahlung. Wie viele Betroffene langfristig Strahlenfolgeschäden wie Krebserkrankungen erleiden, ist noch unklar. Große Teile der Innenstadt werden auf unabsehbare Zeit zur militärischen Sperrzone erklärt. Bis zu einem Kilometer Umkreis um die Gedächtniskirche muss der Straßenbelag abgetragen und die Erde ausgewechselt werden. Viele Gebäude sind so stark verstrahlt, dass sie abgerissen werden müssen. Der geschätzte Gesamtschaden durch das halbe Kilo Cäsium-137 in der "schmutzigen Bombe" wird von Experten auf mehrere Milliarden Euro geschätzt.

 

Verlauf einer lokalen Strahlenverletzung: Der peruanische Metallarbeiter hatte an seinem Arbeitsplatz eine für eine nuklearmedizinische Abteilung bestimmte Portion Iridium-192 eingesteckt und sechs Stunden in seiner hinteren rechten Hosentasche herum­getragen. Die Strahlendosis, die er sich dadurch lokal verabreichte, betrug geschätzt 100 Gy. Zuerst wurde ein Insektenstich vermutet. Nach drei Tagen zeigte sich an der Expositionsstelle ein 3–4 cm großer Ulcus.

 

Nach zehn Tagen hatte sich das Geschwür massiv vergrößert. Die Lymphozyten im Blut waren vermindert. Der Patient überlebte, aber das Bein musste amputiert werden.

Beide Fotos: R.C. Ricks u. ORISE

Dies ist ein Artikel aus der Via medici 2/11

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