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  • Doris Huber
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  • 30.09.2015

Stille Geburt – Abschied nehmen am Lebensbeginn

Wenn ein Baby im Mutterleib stirbt, wird es häufig trotzdem auf normalem Weg geboren. Für die Mutter ist das eine sehr traurige, aber dennoch oft wichtige Erfahrung. Lies hier die Geschichte von Johanna.

© Tamas Zsebok/Fotolia.com

 

Wie groß es wohl sein wird? Ob man schon viel erkennen kann? Wie aufregend! Voll freudiger Erwartung, gleich ihr Baby zu sehen, liegt Johanna auf der Liege im Untersuchungszimmer ihres Gynäkologen. Heute steht das Ersttrimesterscreening an. 

Dr. Reiter fährt mit dem Ultraschallgerät über den Bauch der jungen Schwangeren. Aufmerksam schaut Johanna auf den Monitor und – JA, da ist es! Aber … aber was ist das? Oberhalb von dem, was Johanna als Bauch ihres Babys identifiziert, zeichnet sich eine komische Masse ab. 

„Ist das normal, dass da was aus seinem Bauch rausquillt?“, fragt sie Dr. Reiter* mit sorgenvollem Blick. Die Miene des Arztes verheißt keine beruhigenden Worte. Nach einer kurzen Gedenkpause, sagt er: „Frau Auer*, im Ultraschall deutet leider alles darauf hin, dass Ihr Kind an einer Trisomie 18 leidet. Das ist eine Chromosomenstörung, bei der das Chromosom 18 drei Mal statt zwei Mal vorliegt. Betroffene Kinder entwickeln meist einen schweren Herzfehler und Fehlbildungen des Gehirns, haben einen offenen Bauch und eine dicke Nackenfalte.“ Die Worte treffen die Schwangere wie ein Schlag ins Gesicht. Wie in Trance hört sich Herrn Reiter noch hinzufügen: „Wir müssen uns jetzt gemeinsam überlegen, wie Sie weiter machen wollen.“ „Heißt das, unser Kind wird sterben?“, schießt es aus Herrn Auer* raus. „Es tut mir sehr leid, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es so kommen. Die meisten Kinder mit Trisomie 18 sterben innerhalb der ersten 20 Schwangerschaftswochen. Nur ganz wenige überleben bis zur Geburt und darüber hinaus“, so die ernüchternde, aber ehrliche Antwort des Arztes. 

„Wollen Sie damit sagen, ich muss jetzt warten bis mein Kind in mir stirbt?“, fragt Johanna verzweifelt. „Schon allein den Gedanken halte ich nicht aus!" Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Dr. Reiter erklärt ihr, welche Möglichkeiten es nun gibt. Ein Weg wäre, das Baby so lange leben zu lassen, wie es seine Bestimmung ist. Eine andere Alternative ist ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch. Dabei müsste Johanna ein Medikament schlucken, das ihrem Körper signalisiert, dass mit der Schwangerschaft etwas nicht stimmt. Daraufhin würde ihr Körper aufhören, die Fruchthöhle zu versorgen. Anschließend kann Johanna selbst entscheiden, wie sie ihr Kind zur Welt bringen möchte. Sie könnte einerseits auf normalem Weg gebären, das nennt man dann eine ‚stille Geburt’, weil der gewohnte Schrei des Neugeborenen am Ende der Geburt fehlt. Oder sie wählt einen operativen Eingriff, eine sogenannte ‚Curettage’ (Ausschabung). 

Für beide Optionen müsste sie in eine Klinik gehen. Außerdem muss rein rechtlich noch eine genetische Absicherung geschehen, dass es sich tatsächlich um eine Trisomie 18 handelt. Der Ultraschall ist zwar schon eine sehr sichere, aber keine 100-prozentige Methode. Es müsste eine Fruchtwasserpunktion (Amniozentese), eine Chorionzottenbiopsie oder einen Bluttest gemacht werden, um die Diagnose zu bestätigen. Der Bluttest wäre am wenigsten invasiv, aber leider bezahlt den die Krankenkasse nicht. 

„Das ist jetzt sicher sehr viel für Sie. Denken Sie in Ruhe darüber nach, für welchen Weg Sie sich entscheiden möchten. Falls Sie noch Fragen haben oder in den nächsten Tagen Fragen aufkommen, zögern Sie nicht, sich jederzeit bei mir zu melden“, verabschiedet sich Dr. Reiter.

Eine Woche später kommen Johanna und ihr Mann erneut in die Praxis des Gynäkologen. Die Amniozentese hatte die vermutete Trisomie 18 leider bestätigt. Nun hat sich das junge Ehepaar für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch mit Mifepriston und anschließend stiller Geburt entschieden. Bevor Dr. Reiter das Medikament verabreicht, macht er vorschriftsmäßig noch eine Ultraschalluntersuchung. Die Herzaktion ist bereits negativ. So schrecklich alles ist, über diese Nachricht ist Johanna erleichtert. Schlimm genug, dass sie ihr Baby tot zur Welt bringen muss, aber so hat sie zumindest nicht das Gefühl, es selbst getötet zu haben. 

Dr. Reiter führt eine bimanuelle gynäkologische Untersuchung durch, um den Zustand des äußeren Muttermundes zu erfassen. Da Johannas Cervix noch unreif ist, gibt er seiner Patientin zwei Tabletten Misoprostol mit, die sie am Abend vor der geplanten Geburtseinleitung schlucken soll. „Alles Gute für Sie, Frau Auer“, verabschiedet er seine Patientin und gibt ihr noch Informationsmaterial für passende Ansprechpartner nach der stillen Geburt mit. 

Am nächsten Morgen werden Johanna und ihr Mann herzlich von den Hebammen in Empfang genommen und in ein helles Kreißzimmer gebracht. Wenig später kommt die zuständige Assistenzärtin Frau Dr. Ludwig* zur Tür herein. Sie wirkt noch sehr jung, aber ihre Handlungen laufen routiniert ab und sie strahlt eine angenehme Ruhe aus. „Wie geht es Ihnen, Frau Auer? Ich kann mir vorstellen, dass die letzten Tage sehr schwer für Sie waren.“ Die ganze Geschichte bricht aus Johanna hervor wie ein Wasserfall, begleitet von etlichen Tränen. Frau Dr. Ludwig zeigt viel Verständnis und reagiert einfühlsam auf ihre Patientin. „Das gehört zum natürlichen Verarbeitungsprozess dazu“, erklärt die junge Ärztin. Dennoch fragt sie das Paar, ob eine psychologische Begleitung gewünscht wird. Eine stille Geburt ist ein sehr emotionaler Lösungsprozess – viele Paare machen sich Vorwürfe, sind wütend, unsicher und haben Angst davor, dass sich das Schicksal wiederholen könnte. Umso wichtiger ist es, die Patientinnen optimal zu begleiten. 

Erneut erfolgt nun eine gynäkologische Untersuchung durch die Assistenzärztin. Der Muttermund ist jetzt zwar fingerbreit geöffnet, aber die restlichen Parameter wie Cervixlänge, -lage und -konsistenz und die stehende Fruchtblase deuten weiter auf einen unreifen Befund hin. Frau Dr. Ludwig legt eine Tablette Misoprostol vaginal ein, um eine schnellere und bessere Wirkung des potenten Wehenmittels zu erzielen. Bereits zwanzig Minuten später verspürt Johanna Bauchkrämpfe, die immer stärker werden. Die Wehen haben eingesetzt. Die junge Frau beginnt zu weinen vor Angst und Schmerz.

Ihr Mann nimmt sie in den Arm und streichelt ihr über den Kopf. „Wir schaffen das zusammen, halte durch mein Schatz.“ Johanna versucht, sich zu beruhigen und fängt wenig später intuitiv an mitzupressen. Nur wenige Wehen später liegt ein ca. 10 cm kleiner, bläulich gefärbter Fetus zwischen ihren Beinen. Sein Kopf ist herzförmig geformt, die Knochen noch ganz weich, sein Bauch ist in der Mittellinie eröffnet. Arme und Beine sind krumm deformiert – für die Eltern ein furchtbarer Moment. Doch das schlimmste: ihr Neugeborenes schreit nicht, regt sich nicht – lebt nicht. Die Hebamme nabelt ab, hebt das Baby vorsichtig hoch und bettet es gemeinsam mit Frau Dr. Ludwig in die vorbereitete kleine Schachtel, rundherum lauter Blumenblätter, daneben ein kleiner Kuschelbär. So geben sie das Baby an das junge Ehepaar zurück. Weinend kuscheln sie sich aneinander, Johanna streichelt ihrem Sohn zum Abschied über das winzige Köpfchen. 

Wenig später setzen bei Johanna erneut Wehen ein. Das ist normal, denn die Plazenta muss noch geboren werden. Zusammen mit dem toten Fetus wird auch die Nachgeburt an die Pathologie geschickt. Johanna wird nach einer unauffälligen Ultraschalluntersuchung noch für eine Nacht zur Beobachtung auf die Wochenbettstation aufgenommen. Theoretisch hätte sie das Krankenhaus aber auch am gleichen Tag verlassen können. Eine Nachkontrolle bei Dr. Reiter wurde bereits vereinbart.

 

So oder ganz ähnlich verlaufen stille Geburten schon sehr routiniert in den meisten europäischen Kliniken. Sie sind heute kein Tabuthema mehr sondern gehören zur modernen Geburtshilfe genauso dazu wie jede andere Geburt.

 

Links:

www.stille-geburt.net
http://www.nhs.uk/conditions/Stillbirth/Pages/Definition.aspx

 

*Namen von der Redaktion geändert.

 

 

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