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  • Maren Hönig
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  • 09.08.2021

Sind Menschen auf dem Land anders krank als Menschen in der Stadt?

Nachdem Maren vor einiger Zeit bereits in einer Hausarztpraxis in der Stadt famuliert hatte, war sie mit den meisten Krankheitsbildern in der Landarztpraxis von Dr. Klein vertraut. Doch irgendwie bemerkt sie einen Unterschied bei den Patient*innen – sind Stadtmensch und Landmensch anders krank?

 

 

“Schnauft er noch?”.... “Ok, ich bin in zwei Minuten da”...
“Los!! Wer fährt mit? Medis, Defibrillator, los los los, wir müssen zum Müller Peter*, die Lise* sagt, er liegt auf’m Bett und kriegt keine Luft mehr!”

So startete mein Praktikum in der Landarztpraxis “Hausärzte im Hofgut” in Rheinau, montags um viertel vor Acht, kurz bevor die Sprechstunde starten sollte. Doch exakt nach Plan läuft es hier nicht immer. Dr. Christoph Klein trägt den ganzen Tag ein zweites Handy und einen Notfall-Pager mit sich, um im Fall der Fälle als Erster alarmiert zu werden und beim Patienten sein zu können. Alle umliegenden Krankenhäuser und Notdienste haben einen weitaus längeren Anfahrtsweg zu den vielen kleinen Ortschaften als er.

Im Schlafzimmer bei Ehepaar Müller* angekommen, liegt der alte Mann schwer keuchend auf dem Bett. Die selbst körperlich sehr eingeschränkte 85-jährige Ehefrau führt uns hinein. “Ach Christoph, bin ich froh, dass du so schnell da bist, er klagt über Luftnot”. Sobald der Zugang liegt, die Sauerstoffbrille dem Patienten von einer 87% auf eine 94%-Sättigung verholfen hat und die erste “Luftnot-Panik” sich gelegt hat, wirft Dr. Klein mit dem portablen Ultraschall-Gerät einen schnellen Blick auf die Lunge. Es präsentiert sich ein eindrücklicher Pleuraerguss rechtsseitig.

10 Minuten später ist auch der Rettungswagen vor Ort. Nach der Übergabe und einem Telefonat mit dem Krankenhaus in der nächst größeren Stadt über ein bereitzustellendes Notfallbett, wird der Patient unter Protest  “I` will aber ned ins Kranke`haus, da war I` do` ersch!" in den RTW geladen. Durch die schnelle Hilfe ist an diesem Morgen nochmal alles gut gegangen für den alten Herrn Müller. Zum Leidwesen jedoch der anderen Patienten, die schon ungeduldig im vollen Wartezimmer nörgeln, weil die Sprechzeit beim Herrn Doktor über eine Stunde später startet als angenommen. Dr. Klein lässt die Beschwerden über die Verspätung über sich ergehen, denn seine oberste Priorität lautet: “Jedes akute Gesundheitsproblem, vom neugeborenen Säugling bis zur steinalten Greisin, hat immer absoluten Vorrang!”

Nachdem ich bereits im vergangenen Jahr 5 Wochen in einer Hausarztpraxis in der Stadt famuliert habe, waren die Krankheitsbilder für mich nicht wirklich neu (30% Rückenschmerzen bestätigten sich auch hier...) Kein großer Unterschied also – könnte man meinen. Doch eine Frage drängt sich mir bereits nach dem zweiten Tag auf: Bilde ich es mir ein oder sind die Menschen auf dem Land “anders krank”? Der Umgang mit dem Thema "Krankheit” scheint mir unterschiedlich zu dem der Menschen in der Stadt. Auf meine Nachfrage bestätigen mir die Ärzte der Landarztpraxis diesen Eindruck. “Wir haben hier weniger Befindlichkeitsstörungen sondern vielmehr manifeste Gesundheitsstörungen. Es wird viel unter den Tisch gekehrt oder einfach nicht so viel Bedeutung beigemessen. Solange bis es eben unausweichlich ist, zum Arzt zu gehen.”, so Dr. Klein.

Es war die Frau mit der Gehirnerschütterung, die erst am dritten Tag nach dem Sturz auf den Kopf zum Arzt ging, weil Schwindel und Übelkeit nicht aufhörten. Früher hatte sie wegen den Kindern und der Schwiegereltern zuhause nicht kommen können. Es war die Wunde einer anderen Patientin, die seit 2 Monaten “irgendwie nicht besser” wurde – sprich: komplett eitrig war und dringend ein Debridement der inzwischen bestehenden Nekrosen benötigte! Im Gegensatz dazu kam kein einziger Patient mit “Burn-Out”-Symptomatik. Selbstredend gibt es auch hier Patient*innen mit F-Diagnosen, aber die Dichte jener schien mir deutlich geringer zu sein, als ich es in einer vergleichbar großen Praxis in der Stadt mitbekam.

Auch durch die gemeinsamen Hausbesuche erhielt ich Einblicke in Welten, von denen ich nicht wusste, dass sie im 21. Jahrhundert noch derart existieren. Die Menschen auf dem Land lamentieren nicht groß. Es geht ihnen gut und sie tun, was sie schon immer getan haben, tagein tagaus und fühlen sich gut. Wenn der Gesundheitszustand aber doch einmal von der gewohnten Norm abweicht (und auch das heimische Zuwarten sich mehr schlecht als recht erweist), erst DANN wird ärztlicher Rat und Hilfe in Anspruch genommen, der durch die Praxis “Hausärzte im Hofgut” zuverlässig vor Ort ist. Das Patientenklientel wirkte durchweg sehr dankbar und froh über die gute ärztlich Versorgung und die Gewissheit, dass trotz der ländlichen Umgebung im Falle eines Apoplex oder akuten Myokardinfarkts sofort jemand bei Ihnen sein kann, um zu helfen.

In einer Mittagspause, die Dr. Klein und ich für eine gemeinsame Joggingrunde nutzten, erklärte er mir, dass es ein Job sei, den er insbesondere wegen der großen Verbundenheit zu den Menschen in der Umgebung, ausführen könnte. Er ist hier aufgewachsen und kenne praktisch jeden Patienten und die gesamte Familiengeschichte auswendig. Dass Patient*in und Arzt sich duzen und mit kollegialem Handschlag und der Frage nach den Kindern, dem Hof oder den Tieren begrüßen, erlebt man nicht oft. Hier ist es an der Tagesordnung. Die meisten hier kennen ihren “Herr Doktor” bereits, seit er als kleiner Bub über den Dorfbach gesprungen ist.

Diese Verbundenheit und Nähe rührten mich sehr. Auch wenn es für Dr. Klein und sein Praxisteam bedeutet, nahezu 24 Stunden als “medizinischer Stützpunkt” für sämtliche Probleme Anlaufstelle zu sein. Hier ist ein/e Patient*in nicht nur eine 6-stellige Ziffer. Hier kennt man die Hintergründe, die Familiengeschichte von Vater, Mutter, Onkel, Geschwistern. Umgekehrt wissen auch die meisten Patienten*innen, was sie an ihrem “Herr Doktor” haben, denn sie kommen schon seit Generationen zu ihm und es käme für sie nie in Frage, eine 20-minütige “Reise” in den nächst größeren Ort zu unternehmen, um einen anderen Arzt aufzusuchen. Zum Arzt zu gehen hat hier nicht nur den Zweck, die eigene Gesundheit zu kontrollieren. Vielmehr ist es ein “social happening” zwischen Haus, Hof und Familie.

Meine Hypothese zum Kranksein auf dem Land: Vielleicht hat man durch die wundersame Ruhe von außen einfach gar nicht so sehr das Bedürfnis, allzu tief in sich hineinzuhören oder umgekehrt; womöglich sind wir durch die Hektik und Umtriebigkeit der menschenvollen Städte so gestresst und Reiz überflutet, dass sich ein großer Drang entwickelt, in uns selbst zu horchen, wodurch wir auch häufiger die Gelegenheit haben, dort etwas zu erspüren, was neuartig oder anders sein könnte.

Ich für meinen Teil habe die ländliche Ruhe bei meinen dortigen Laufrunden ebenfalls wieder als große Quelle der Gesundheit und des inneren Wohlbefindens entdeckt und liege daher mit meiner Vermutung eventuell nicht allzu fern. Nichts desto trotz: Überall werden Menschen krank (körperlich und geistig) und umso erfreulicher ist es, dass es Ärztinnen und Ärzte wie Dr. Klein und seine Praxisgemeinschaft gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, auch die Großstadt fernen Gebiete medizinisch und menschlich exzellent zu versorgen.
 

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