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  • Praxisanleitung
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  • Dr. Matthias Helm
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  • 20.09.2005

Schädel-Hirn-Trauma

Inline-Skating ist ein sehr unfallträchtiges Hobby: 21% der Skater geben an, schon über 50mal gestürzt zu sein. Besonders gefährlich sind Stürze für die Skater, die ohne Protektoren unterwegs sind. Dr. Matthias Helm vom Bundeswehr-krankenhaus in Ulm schildert den Fall eines Inline-Skaters, der sich bei einem Sturz ein schweres Schädel-Hirn-Trauma (SHT) zugezogen hat, und beschreibt das richtige Vorgehen der Ersthelfer und die notärztlichen Primärmaßnahmen.

Einleitung

Es ist ein sonniger Samstag nachmittag. Eine Gruppe jugendlicher Inline-Skater tummelt sich in der Fußgängerzone. Die Stimmung in der Gruppe ist ausgelassen. Plötzlich stürzt einer der Inline-Skater bei dem Versuch, einem Fußgänger auszuweichen. Der Jugendliche trägt keinen Schutzhelm. Er schlägt mit dem Kopf auf den Gehweg auf und bleibt regungslos liegen. Auf die aufgeregten Rufe seiner Freunde reagiert er nicht mehr. Zudem blutet er sehr stark aus einer Wunde am Hinterkopf. Rasch bildet sich eine Menschentraube um den Verletzten. Niemand leistet erste Hilfe. Im Gegenteil - die Inline-Skater müssen sich von den aufgebrachten Fußgängern wüste Beschimpfungen gefallen lassen.

In diesem Moment kommt zufällig Jens H., ein Medizinstudent im 8. Semester, an der Unfallstelle vorbei und sieht den auf dem Rücken liegenden Verletzten. Nachdem einer der Inline-Skater ihm kurz den Unfallhergang geschildert hat, übernimmt er die Erstversorgung.

 

Ersthelfermaßnahmen

Wie im notfallmedizinischen Seminar gelernt, beginnt Jens mit der Überprüfung der Vitalfunktionen: Der Patient reagiert weder auf Ansprache noch auf Schmerzreize. Seine Pupillen sind beidseits mittelweit. Die Atmung erscheint regelmäßig und tief, der Puls ist etwas beschleunigt. Am Hinterkopf findet Jens eine ca. 10 cm lange, stark blutende Kopfschwartenwunde, ansonsten bestehen keine Hinweise auf weitere Verletzungen.

Da der Patient bewußtlos ist, bringt er ihn zunächst in eine stabile Seitenlage. Dabei versucht er, die Halswirbelsäule möglichst wenig zu bewegen. Anschließend versorgt Jens die blutende Kopfverletzung mit Hilfe eines Druckverbandes. Das hierzu notwendige Verbandsmaterial stammt aus einem Verbandskasten, der aus einem in der Nähe geparkten Auto herbeigeholt wurde. Mit Hilfe eines Handys aus der Gruppe der Inline-Skater nimmt Jens H. über den Notruf Kontakt mit der örtlichen Rettungsleitstelle auf und fordert dort mit der Angabe "Verdacht auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma" den Notarzt an.

 

Notärztliche Primärmaßnahmen: Überprüfung und Stabilisierung der Vitalfunktionen

Der Notarzt findet einen 16jährigen Jungen in stabiler Seitenlage vor. Eine ausgedehnte Blutlache am Kopf deutet auf einen nennenswerten Blutverlust hin. Die eigentliche Blutung am Schädel scheint durch den Druckverband zum Stillstand gekommen zu sein. Die Atemfrequenz liegt etwa bei 10/min, die pulsoxymetrisch ermittelte Sauerstoffsättigung beträgt 89%, der Blutdruck liegt bei 90/50, die Herzfrequenz bei 95/min. Das EKG zeigt einen Sinusrhythmus. Der Junge öffnet weder die Augen, noch antwortet er auf Ansprache. Auf Schmerzreize (Kneifen an beiden Oberarmen und Oberschenkeln) zeigt er Beugebewegungen an allen Extremitäten. Nach der Glasgow-Coma-Scale (GCS) ergibt sich also ein Punktewert von 6.

 

Glasgow-Coma-Scale

Augen öffnen beste verbale Reaktion beste motorische Reaktion
6 konversationsfähig auf Aufforderung
5 orientiert auf Schmerzreiz gezielt
4 spontan desorientiert normale Beugeabwehr
3 auf Aufforderung inadäquate Äußerung Beugesynergismen
2 auf Schmerzreiz unverständliche Laute Strecksynergismen
1 kein Augenöffnen keine Reaktion keine Reaktion

Der GCS-Wert ergibt sich aus der Addition der Einzelwerte.

leichtes SHT: GCS 13-15 Punkte

mittelschweres SHT: GCS 9-12 Punkte

schweres SHT: GCS 3-8 Punkte

 

Die Pupillen sind beidseits mittelweit, isokor und reagieren prompt auf Licht. Die übrige körperliche Untersuchung ergibt keinen Hinweis auf Zusatzverletzungen.

Zunächst werden über einen großlumigen periphervenösen Zugang zügig 500 ml Hydroxyethylstärke infundiert und parallel hierzu über die Maske 6 l Sauerstoff/min verabreicht. Unter diesen Maßnahmen steigt die Sauerstoffsättigung auf 95% an. Der Blutdruck stabilisiert sich auf Werte von 120/80 mmHg, die Herzfrequenz sinkt auf 75/min, d.h., die Vitalfunktionen Atmung und Kreislauf normalisieren sich. Zur Stabilisierung der Halswirbelsäule wird ein HWS-Immobilsierungskragen angelegt. Nach Lagerung und Immobilisierung auf der Vakuum-Matratze wird der Patient in den Rettungswagen gebracht. Wegen weiterhin bestehender Bewußtseinstrübung entschließt sich der Notarzt zur endotrachealen Intubation und kontrollierten Beatmung.

Eine adäquate Sedierung und Analgesie wird durch repetitive Gabe eines Benzodiazepins kurzer Wirkungsdauer und eines Opioids gewährleistet. Der Notarzt wählt in diesem Fall Midazolam (z.B. Dormicum‚) und Fentanyl.

Bei nun stabilen Kreislaufverhältnissen wird der Oberkörper des Patienten etwa 20° hochgelagert, um so den möglicherweise gesteigerten Hirndruck zu senken. Anschließend wird der Patient mit dem Verdacht auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma unter Fortführung von Therapie und Monitoring in das nächstgelegene Kreiskrankenhaus gebracht.

 

Intensivmedizinische Weiterversorgung in der Klinik

Die unverzüglich durchgeführte kraniale Computertomographie (CCT) zeigt multiple Hirnkontusionen im Sinne okzipital gelegener "Coup"- und kontralateral gelegener frontaler "Contre-coup"-Herde sowie ein globales Hirnödem. Zusatzverletzungen, insbesondere der Halswirbelsäule, können ausgeschlossen werden. Eine operative Ausräumung der Kontusionsblutungen ist nicht notwendig.

Zur Messung des intrakraniellen Drucks (ICP) sowie der intrazerebralen Sauerstoffsättigung werden über zwei Bohrlöcher Meßsonden in den Schädel eingebracht. Kontroll-CCT-Untersuchungen in den nachfolgenden Tagen zeigen einen deutlichen Rückgang des Hirnödems sowie die Resorption der Kontusionsblutungen.

Sieben Tage nach Aufnahme kann der Inline-Skater schließlich bei normwertigen intrakraniellen Druckwerten und ausreichenden zerebralen Sauerstoffsättigungswerten vom Respirator entwöhnt werden. Zunächst erscheint der Patient noch deutlich verlangsamt - ein Zustand, der sich jedoch in den folgenden Tagen bessert, so daß er wenige Tage später in eine auf die Rehabilitation Schädel-Hirn-traumatisierter Patienten spezialisierte neurologische Fachklinik verlegt werden kann. Aus dieser kann er wenige Wochen später mit einer Restitutio ad integrum in die hausärztliche Behandlung entlassen werden.

 

aus Via medici 4/97, Stand 2005

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