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  • Arne Conrad
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  • 31.03.2015

Schlüsselerlebnis: Wenn der Atem stockt

Auf einer Intensivstation werden Patienten rund um die Uhr überwacht. Das ist wichtig, denn der Zustand eines Intensivpatienten kann sich binnen kürzester Zeit ändern – nicht selten geht es dann plötzlich um Leben oder Tod. Was aber, wenn die Ursache ganz woanders liegt als dort wo man sie vermutet?

 

 

 

Die Arbeit auf der Intensivstation erfordert volle Konzentration - und ein gutes Team. Foto: Lucia Hagmann

 

Die einen sehnen sie herbei, die anderen würden sie am liebsten auf den Sanktnimmerleinstag verschieben: die Zeit als Arzt auf der Intensivstation. So kam es, dass ich eines Tages mit einer Kollegin auf der interdisziplinären ITS eingeteilt war, die eigentlich kurz vor ihrer Facharztprüfung stand. Ich dagegen hatte bis dahin noch zweieinhalb Jahre Zeit bis mir die Facharztprüfung blühte.

 

(K)ein Tag wie jeder andere

Der Tag begann mit der unvermeidlichen Visite der Chirurgischen Klinik. Eilig mussten wir die verschiedenen Therapiewünsche mitschreiben – von „die Thoraxdrainage muss raus“ bis „komplett neue Zugänge und zwei Triplets Blutkulturen abnehmen; als Kalkulierte Antibiose …“ war alles dabei. Weiter ging es mit geplanten Entlassungen aus dem intermediate care (IMC) - Bereich und den geplanten Aufnahmen aus dem OP. Eigentlich alles in allem ein normaler Tag ohne besondere Vorkommnisse.

 

Einzig und allein Herr Marks trieb uns Sorgenfalten auf die Stirn. Dem 55-jährigen Patienten musste vor knapp drei Wochen wegen eines Plattenepithel-Ca der Ösophagus entnommen und durch ein Kolon-Interponat ersetzt werden. Dank eines gelegten thorakalen periduralen Schmerzkatheters hatte er glücklicherweise von Anfang an nur wenig Schmerzen. Herr Marks konnte sogar bereits am nächsten Morgennach der Operation ohne Probleme nach erfolgreichem Weaning (Beatmungsentwöhnung) extubiert werden. Das ist bei einem sogenannten „Zwei-Höhlen-Eingriff“ wie diesem eigentlich ein super Start.

 

Illustration, Quelle: Fotolia/Stauke

 

 

Fragezeichen über Fragezeichen

Doch der Schein trügte und nach dem „Aufwecken“ zeigten sich die ersten Auffälligkeiten: Herr Marks schien nicht wirklich „er selbst“ zu sein bzw. bleiben. Phasen von absoluter Klarheit und voller Orientierung zu sich selbst und seiner Situation wechselten sich ab mit Phasen von Desorientiertheit bis hin zum vollständigen, halluzinierenden Delir. Während dieser musste er mit starken Antipsychotika und Sedativa behandelt werden und zu seinem eigenen Schutz sogar im Bett fixiert werden. Ein Teufelskreis, da Herr Marks die Fixierung nur schwer ertrug und die Medikamentendosis deshalb noch weiter erhöht werden musste.

 

Die Suche nach einer Ursache wurde von Radiologen und Neurologen mittels mehrfachen CT-Scans aller Körperregionen ebenso vergeblich betrieben wie von Mikrobiologen, Psychiatern oder natürlich auch von uns. Es half nichts – es gab weder einen Focus noch ein wirkliches Infektzeichen. An guten Tagen – so wie heute – lag Herr Marks im IMC-Bereich, konnte von der Bettkante aus auf den Spezialstuhl mobilisiert werden und unterhielt sich mit jedem, der an seinem Zimmer vorbei kam. Eine Stunde vor Feierabend rief mich meine Kollegin, weil Herr Marks zunehmend kurzatmig war und darum bat, wieder im Bett liegen zu dürfen.

 

Zusammen mit Pfleger Markus war der Transfer schnell erledigt und wir untersuchten den Patienten von Kopf bis Fuß … wieder ohne handfestes Ergebnis: Hirnnerven regelrecht, normale Temperatur, alle Extremitäten beweglich, keine Schmerzen, auskultatorisch ein schneller Sinusrhythmus mit einer Frequenz von 90, ein normaler Blutdruck, leichte Tachypnoe bei sonst ubiquitär vesikulären Atemgeräuschen, ein weiches Abdomen mit regen Darmgeräuschen, usw.

 

Die schnell aus der Arterie abgenommene Blutgasanalyse lieferte nur einen leicht erhöhten CO2-Wert von 55 mmHg bei erniedrigtem Sauerstoffpartialdruck von 60 mmHg - das konnte aber auch eine Folge der Erschöpfung sein. Immerhin hatte Herr Marks heute fast fünf Stunden im Stuhl gesessen. Wir beschlossen, ihm mit Hilfe einer nicht-invasiven Beatmungsmaske (NIV) die Atemarbeit ein wenig zu erleichtern. Das kannte er schon und willigte dankbar ein.

Doppelter Einsatz

Genau zu diesem Zeitpunkt wurde ich zu einem Notfall auf eine periphere Station gerufen, wo offenbar ein Besucher kollabiert war. Zusammen mit einem Pfleger spurteten wir mit unseren Notfallrucksäcken zwei Etagen höher – nur um festzustellen, dass es sich um einen „falschen Alarm“ handelte. Der Mann hatte über den Tag nur ein bisschen zu wenig getrunken, fühle sich jetzt aber wieder pudelwohl. Und NEIN! - er wolle auf keinen Fall eine Nacht zur Beobachtung bleiben. Nagut, den Rest überließ ich dem zuständigen Stationsarzt.

 

Wieder zurück auf meiner Station fand ich meine Kollegin im Arztzimmer. Sie wollte sofort wissen, was es mit dem Notfall auf sich hatte und wie man in einer solchen Situation am besten vorgeht - schließlich habe sie in vier Wochen ja auch das zweifelhafte Vergnügen, den hausinternen Notfallfunk zu bekommen. So erzählte ich ihr das Wenige, was passiert war und wir unterhielten uns noch über unsere geplanten Feierabendaktivitäten, als es plötzlich über den Flur schallte: „Dringend ein Arzt in Zimmer drei! Bradykardie!“ – Zimmer drei??? Herr Marks!!!

 

Wie von der Tarantel gestochen rannten wir los. Wir fanden Herrn Marks zyanotisch und schnappatmend, flach im Bett liegend vor. Ich streckte noch einmal schnell den Kopf zu Tür raus und rief „Rea-Brett und Intubation in Zimmer drei!“, worauf nun auch eine hektische Aktivität im Stationszimmer ausbrach.

 

Ein Blick auf den Intensivmonitor verriet mir, dass die arterielle Blutdruckkurve nur noch bei einer Frequenz von 30 lag. Die periphere SpO2-Sättigung zeigte schon keinen peripheren Puls mehr an. Meine Kollegin sagte nur kurz: „Ich ruf mal schnell die Oberärztin“ und war schon wieder verschwunden. Ich schlüpfte derweil fix hinter den „Perfusor-Latten“ durch, um die nun drohende Reanimation „vom Kopf her“ zu koordinieren.

 

 

Alle für einen

„Bei noch bestehendem Eigenrhythmus gibt Markus bitte 1 mg Atropin i.v.“, wies ich den Pfleger an, während ich mir den Beatmungsbeutel mit Reservoirbeutel und 15l Sauerstoff fertig machte. „Alina, gib mir bitte einen 4er Güdel-Tubus und bereite dann die Intubation und 100 mg Rocuronium vor“, doch die Schwester hielt mir den gewünschten Tubus bereits vor die Nase. Zwei weitere Pfleger brachten das Reanimationsboard, das wir noch schnell unter den Brustkorb Patienten schoben.

 

Die Beatmung klappte gut und das Atropin war auch schon verabreicht als Pfleger Markus sagte: „Keine Pulskurve und keine elektrische Aktivität mehr! Sollen wir?“ – es dauerte nur eine Millisekunde, bis ich die Frage kapierte und antwortete: „Ja ... wir machen 30:2! Und 1mg Adrenalin sofort i.v.!“ – „1mg Supra“ bestätigte Markus knapp, während der andere Pfleger mit der Herz-Thorax-Kompression begann.

 

„Intubation vorbereitet“ – klang es kurz darauf von Schwester Alina…alles lief wie geschmiert. „Dann bitte weiter drücken, bis ich Stopp sage!“ wies ich an und nahm die Utensilien entgegen. Mental bereitete ich mich darauf vor, beim Intubieren nicht viel zu sehen. Trotzdem gab ich das Kommando „Stop“ und erkannte im letzten Moment: „Da ist ja gar kein Führungsstab im Tubus!“ – Alina wurde bleich. „Egal!“ - und das war es dann auch.

 

Ich konnte den Tubus auch ohne Führungsstab in der Trachea platzieren und sah auch keine Anzeichen dafür, dass sich in Herr Marks Atemwegen Mageninhalt befand. „Weiter drücken und einmal durch den Tubus absaugen bitte! – aber Markus hatte den Absauger schon in der Hand. Teamarbeit ist in einer solchen Situation eben alles.

 

Bei weiterhin ausbleibendem Kreislauf und maschineller Beatmung des Patienten hatte mein Hirn nun Ressourcen um die reversiblen Ursachen abzuarbeiten: “Hs und HITs“.* „Was haben wir denn als letztes bei ihm gemacht, außer CPAP? “ fragte ich in die Runde. „Nichts!“ antwortete Markus als zuständiger Pfleger.

Des Rätsels Lösung

„Doch …“ vernahm ich aus einer Ecke. Meine Kollegin war vom Telefonat mit der Oberärztin zurückgekommen. „Ich hab ihm noch 5 mg Morphin wegen der Atemnot gegeben“ sagte sie kleinlaut. Innerlich traf mich der Schlag! Morphin kann schon mal einen Atemstillstand auslösen, v.a. wenn man die umfangreiche Begleitmedikation an Psychopharmaka und Sedativa bei Herrn Marks bedachte.

 

In diesem Augenblick erinnerte mich irgendeine kluge Muse daran, dass ich im selben Boot saß. Das hielt mich davon ab, meinen Mund sofort zu öffnen und meine Kollegin für diese unüberlegt Maßnahme zu rügen. Stattdessen spulte ich einfach weiter das Standardprogramm ab, relaxierte und narkotisierte den nun wieder zunehmend munter werdenden Patienten, ordnete Laborkontrollen der Herzenzyme und D-Dimere an und ließ eine Röntgen-Thorax anfertigen – alles zum Ausschluss der üblichen Ursachen.

 

Die dazu gerufene Oberärztin befand die Situation als soweit bereinigt, machte noch schnell ein Herzecho und zitierte uns nach der Übergabe an den Spätdienst ins Oberarztzimmer zur „Manöverkritik“. Sehr zu meinem Erstaunen wurde die Morphin-Gabe nur als eine der möglichen Ursachen für die Reanimations-Situation erwähnt. Durch CPAP könne ein Spontan-Pneumothorax ausgelöst worden sein, der so schnell noch nicht auskultierbar war.

 

Aber auch eine Sepsis konnte nicht ausgeschlossen werden – immerhin bekam Herr Marks schon über ein Woche keine Antibiotika mehr. Vielleicht konnte sein Körper aufgrund der Schmerzmedikation nicht mehr mit Fieber reagieren. Und eine Aspiration war auch trotz meiner erfolgreichen Intubation nicht unmöglich – schließlich musste ich ja vorher ordentlich maskenbeatmen. Um das abzuklären, machte die OÄ gleich noch eine Bronchoskopie - das hatte ich in dem ganzen Stress völlig vergessen.

 

Abends auf dem Weg zum Parkplatz sagte meine Kollegin zu mir: „Und danke noch, dass Du im Zimmer nicht gleich an die Decke gegangen bist, wegen dem Morphin…“ und ich antwortete mit einem Augenzwinkern: „Hey – wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, oder?“

 

*4H/HITS: mögliche Ursachen für einen Herz-Kreislauf-Stillstand

Hypoxie
Hypovolämie
Hypothermie
Hypo-/Hyperkaliämie, Hypokalziämie

Herzbeuteltamponade
Intoxikation
Thromboembolie
Spannungspneumothorax

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