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  • Melanie Poloczek
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  • 05.02.2018

Privileg Präparierkurs - Die Toten lehren die Lebenden

Rote Arterien, blaue Venen und gelbe Nerven – die Erkenntnis, dass Anatomie komplexer ist als Lehrbücher vermuten lassen, folgt im Präparierkurs. Die Arbeit an Körperspendern lehrt nicht nur Muskeln, Knochen und Organe, sondern auch Mut, Demut und ein großes Stückchen Dankbarkeit.

 

 

Ein weißer Schwarm von Zweitsemestern steigt die Treppen in den Keller der Anatomie hinunter. Der Formalingeruch schlägt ihnen trotz modernster Lüftung ins Gesicht, für einige so unangenehm, dass sie sich Tigerbalsam unter die Nase reiben – ein altbewährter Trick unter Rechtsmedizinern, so sagt man. Ich begrüße meine Präpgruppe, „unsere“ Körperspenderin liegt schon von ihrer Abdeckung befreit auf dem Tisch. Wir wissen weder, wie sie heißt, noch wissen wir, was für ein Leben sie geführt hat. Wo kommt sie her, woran ist sie verstorben, was hat sie dazu bewegt, mir und zehn weiteren Medizinern die Möglichkeit zu geben, die Anatomie am echten Menschen studieren zu können? Fragen, auf die wir keine Antwort bekommen werden, einzig ihren Patientenbericht können wir nach und nach rekonstruieren – anhand von Narben vielleicht, oder anderen Geschichten, die allein ihr Körper uns erzählt.

„Mortui vivos docent“, stand es im alten Präpariersaal der Uni Münster an die Wand geschrieben, „die Toten lehren die Lebenden“. Von diesem Ort, an dem einst sogar eine Folge „Tatort“ gedreht wurde, ist heute nichts mehr übrig. Stattdessen präparieren wir in einem neuen Saal, mit Bildschirmen über den Tischen und iPads samt Schnittbildern, welche die Orientierung am Körperspender vereinfachen sollen. Helle Wände und metallene Tische machen den Saal zu einem farblosen Ort, er wirkt steril, vereinzelt sieht man aufgeschlagene Anatomieatlanten. Es ist kalt im Saal und einzig nackte Beine unter langen Kitteln lassen erahnen, dass draußen eigentlich der Sommer wütet.

Der Präparierkurs ist nach Themen gegliedert: Vier Wochen Bewegungsapparat, vier Wochen Situs, vier Wochen Kopf und Hals. Jeder von uns bekommt Präpariergebiete zugeteilt und während ich autochtone Rückenmuskeln freilege, trägt ein Kommilitone unter mir – es ist eng am Tisch, kreative Positionierung ist gefragt – sogfältig die dünne Haut des Handrückens ab. Präparieren ist penible Arbeit: Bevor große Schritte – bzw. Schnitte – getan werden können, muss Vorarbeit geleistet werden. Fettzupfen ist mühevoll und dauert Stunden, ungewollt einen Nerv zu durchtrennen hingegen nur Sekunden. 

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Erst später inspizieren wir Organe, und obwohl das tägliche Präparieren nach wenigen Wochen schon fast Gewohnheit wird, beinahe schon Routine, passiert es manchmal doch: Die eine Hand im Bauchraum steckend, die andere das Skalpell umgreifend, halte ich plötzlich inne und schaue auf, nehme das Formalin plötzlich wieder wahr, frage mich, was ich hier eigentlich gerade tue, wie das auf Außenstehende wirken muss, und ob es seinen Grund hat, dass meine Oma am Telefon das Thema wechselt, wenn ich ihr wieder vom „Anatomiekeller“ erzähle.

Ein Präparierkurs ist alles andere als gewöhnlich, wird von den meisten Studenten zum Highlight der Vorklinik ernannt, von manchen sogar zum Highlight des gesamten Medizinstudiums. Jeden Freitag kommt ein Arzt aus der Uniklinik vorbei, mal ein Gynäkologe, mal ein Neurochirurg, demonstriert uns an Körperspendern Eingriffe, die wir später einmal selbst durchführen werden und erzählt dabei, wie gut der eigene Präparierkurs noch in Erinnerung ist, wie hilfreich dieser war. Dass Anatomie mehr ist als kirschrote Arterien und perfekt angeordnete Unterarmmuskeln aus dem Lehrbuch, das stellt nach und nach jeder von uns fest. Sätze wie „Das sieht ja alles gleich aus“ oder „Im Buch kann man das viel besser erkennen“ fallen täglich, und selbst der größte Skeptiker wird am Ende des Semesters zugeben, dass ein Atlas allein die Arbeit am echten Menschen nicht hätte ersetzen können. Viele Universitäten haben den Präparierkurs mittlerweile aus ihrem Stundenplan gestrichen, das Lernen an Kunststoffmodellen oder mithilfe virtueller Programme soll das Präparieren am echten Menschen ersetzen. Kann es das?

Die Möglichkeit zur Teilnahme am Präparierkurs ist ein Privileg. Ich habe meinen Finger über knisterndes Gewebe der Lunge fahren lassen, habe Knochen zersägt, Muskeln gespalten, war von Tumoren fasziniert, hielt Herzen in den Händen. „Meine“ Körperspenderin war für mich, und für viele andere, der erste Kontakt zu einem toten Menschen. Einer Trauerveranstaltung glich der Präparierkurs jedoch nicht. Meine Tischgruppe und ich, wir haben viel gelacht, mussten grinsen, als der Erste von uns den abgesetzten Arm in den Händen hielt, haben uns während simpler Arbeiten über das Mensaessen unterhalten, uns abends mit den Tutoren in Bars getroffen oder zusammen gegrillt, sobald eines der mündlichen Anatomietestate überstanden war.

„Ich finde, dass es dich auf den Boden der Tatsachen zurückholt“, hat eine Kommilitonin einmal über das Präparieren gesagt, ein Semester später, als der Kurs schon lange hinter uns liegt und wir, wie so oft, an ihn zurückdenken müssen. „Wenn du mit jemandem redest, steht die emotionale Komponente im Vordergrund. Du nimmst den Menschen so wahr, wie er sich gibt, hast zum Beispiel Angst vor Prüfern. Aber jetzt weißt du, dass jeder Mensch, den du ansiehst, im Grunde nur aus Muskeln und Knochen besteht.“

Warum wir uns trotzdem so sehr unterscheiden, das versuchen wir im ZNS-Kurs zu begreifen. Nun liegen Gehirne auf den Tischen, alle gleich aufgebaut, trotzdem jedes das Wesenszentrum eines anderen Körperspenders, eines anderen Menschen.
Anatomie fasziniert. Der Präparierkurs führt uns die Genialität des menschlichen Körpers vor Augen, die Würde menschlichen Lebens, ein Stück weit auch die Verantwortung ärztlichen Handelns. Und wann immer anatomisches Wissen gefragt ist, habe ich nicht nur die Bilder aus dem Prometheus vor Augen, sondern auch solche aus dem Präparierkurs, die nirgends festgehalten wurden außer in den eigenen Köpfen selbst.
Über meinem Schreibtisch hängt ein Foto von mir und meiner Präpgruppe, Tisch acht. In weißen Kitteln posieren wir nach unserem letzten Testat auf den Treppen zum Anatomiegebäude, so wie es schon Generationen vor uns getan haben – und nach uns tun werden, denn jede Form der Technik kann die Arbeit am echten Körper, so denke ich, niemals ganz ersetzen.

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