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  • Dr. med. Thomas Ziegenfuss
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  • 16.11.2007

Notfall: Polytrauma

Ein unachtsamer Schlenker mit dem Lenkrad, ein falscher Tritt ins Leere - schon ist es passiert: Mehrere Regionen oder Organsysteme des Körpers sind schwer verletzt. Wie behandelt man so einen Notfall? Dr. med. Thomas Ziegenfuß, Chefarzt der Anästhesie des St. Josef-Krankenhauses in Moers, schildert, wie Sie Patienten mit Polytrauma richtig versorgen.

 

 

Notarzt - Foto: Kzeno - Fotolia

Bei einem Polytrauma ist es wichtig, dass du den Überblick behältst. Foto: Kzeno/Fotolia

 

Tobias, Medizinstudent im 10. Semester, seufzt behaglich. Genüsslich nimmt er den ersten Schluck des gut gekühlten Roséweins. Es ist später sonniger Nachmittag, und er hat es sich auf dem Balkon bequem gemacht. Doch bevor er sich in seinen Roman vertiefen kann, schreit auf dem Nachbargrundstück plötzlich jemand auf - dann folgt ein lautes Krachen. Kaum eine Minute später schellt es Sturm an seiner Tür: Ein Nachbar, der Tobias als Medizinstudenten kennt, fordert ihn auf mitzukommen - auf der Baustelle nebenan sei "ein Unfall" passiert. Dort renoviert der Hauseigentümer, zusammen mit Freunden, nach Feierabend sein Haus.

 

Sturz in die Bewusstlosigkeit

Als sie das Grundstück erreichen, muss Tobias schlucken: Der etwa 50-jährige Hauseigentümer liegt regungslos bäuchlings auf der gepflasterten Garagenzufahrt, umgeben von einer kleinen Blutlache, die offenbar aus seinem rechten Ohr gespeist wird. Er ist von der obersten Gerüstplattform gestürzt, aus etwa fünf Metern Höhe. Noch während Tobi zu ihm läuft, fragt er den Nachbarn, ob jemand den Rettungsdienst alarmiert hat. Zu seiner Überraschung ist dies nicht der Fall - man hat auf ihn als Retter vertraut! Schnell beauftragt er einen der Arbeiter, mittels Handy über die 112 einen Notarzt anzufordern. Doch er weiß: Diese Hilfe wird nicht schnell eintreffen, denn das Dorf liegt 30 km von der Universitätsstadt entfernt. Zunächst wird er sich selbst um den Verletzten kümmern müssen.

"Hallo, hören Sie mich?", ruft Tobias den Mann an. "Haben Sie Schmerzen?" Keine Reaktion. Er hält ihm die Hand vor den Mund und spürt zu seiner Erleichterung deutliche Atemzüge. Der Puls am linken Handgelenk ist eindeutig zu tasten, mit schätzungsweise hundert Schlägen pro Minute. Der Medizinstudent ist zunächst froh, dass er es nicht mit einer richtigen Reanimationssituation zu tun hat, die Bewusstlosigkeit des Patienten und das Blut aus dem Ohr beunruhigen ihn aber. Auch als er den Hauseigentümer leicht an der Schulter rüttelt, reagiert dieser weder verbal noch motorisch. Die Augen bleiben geschlossen. Tobias befürchtet ein offenes Schädel-Hirn-Trauma (SHT) mit Schädelbasisfraktur. Er erinnert sich, dass der Schweregrad eines SHT nach der Glasgow Coma Scale eingeschätzt wird. Alles deutet hier auf ein schweres SHT hin. Aufgrund des Unfallmechanismus - ein Sturz aus größerer Höhe - vermutet er weitere Verletzungen an den Extremitäten, in den Körperhöhlen und besonders an der Halswirbelsäule (HWS) oder anderen Wirbelsäulenabschnitten.

Tobias fühlt sich in einer Zwickmühle: Die HWS sollte nach solchen Traumen möglichst nicht bewegt werden, da sonst weitere HWS- und Rückenmarkschäden drohen. Stattdessen sollte man sie so schnell wie möglich durch eine "Halskrause" (Orthese) immobilisieren. Andererseits gilt: Ein bewusstloser Patient ist durch eine drohende Atemwegsverlegung gefährdet, und so bäuchlings, wie der Hausbesitzer daliegt, hat Tobi überhaupt keine Kontrolle über die Atemwege.

 

Atmen ist Leben

Fieberhaft versucht sich der Medizinstudent an alles zu erinnern, was er im Notfall-Kurs und während seiner vierwöchigen Famulatur in der Anästhesie gelernt hat: Die Atemwegsfreiheit hat bei bewusstlosen Patienten oberste Priorität! Ihm fällt auch ein, wie man die Atemwege Bewusstloser ohne Hilfsmittel freihält: mittels Seitenlagerung oder Esmarch-Handgriff. Den Patienten in eine stabile Seitenlage zu bringen, erscheint ihm angesichts möglicher multipler Verletzungen weniger angemessen. Entschlossen dreht er ihn also mit Hilfe mehrerer Umstehender vorsichtig auf den Rücken, wobei er selbst sich ganz auf die "in-line"-Stabilisierung der HWS während des Drehmanövers konzentriert.

Dann, in Rückenlage, öffnet er den Mund des Bewusstlosen und zieht den Unterkiefer nach vorn. Da er eine HWS-Verletzung befürchtet, vermeidet er es, den Kopf des Hausbesitzers zu überstrecken - ohne diesen Verdacht hätte er es angestrebt. Beruhigt sieht Tobias danach, wie der Brustkorb sich regelmäßig hebt und senkt, und er spürt, wie die Atemluft an der Mundöffnung ein- und ausströmt. Zyanotisch ist der Patient nicht. Zum Glück, denn eine unzureichende Atmung, die zu Hyperkapnie und Hypoxie führt, ist eine der häufigsten Ursachen für sekundäre Hirnschäden!

 

Innere Blutungen - keine Chance für Ersthelfer

Beim Drehen ist Tobias das rechte Bein aufgefallen: Ab Mitte des Oberschenkels steht es in einem unnatürlichen Winkel nach außen ab, offenbar eine Fraktur. "Nehmen Sie bitte mal das Bein da am Fuß und ziehen es vorsichtig gerade!", fordert er einen Helfer auf. Er selber bleibt am Kopf. Er ist sich nicht ganz sicher, vermutet aber zu Recht, dass der Nutzen einer vorsichtigen Reposition einen möglichen Schaden überwiegt.

Weitere Verletzungen kann er zunächst - bei grober Inspektion des noch mit einer blauen Arbeitshose bekleideten Patienten - nicht feststellen. Der Puls ist weiterhin an der Radialarterie gut tastbar, regelmäßig, etwa 110 Schläge pro Minute. Tobias ist aber klar, dass intraabdominelle oder intrathorakale Verletzungen vorliegen können, die er so ohne weiteres nicht diagnostizieren kann, die aber zügig zu einem schweren hämorrhagischen Schock führen könnten oder sogar innerhalb weniger Minuten zum Ausbluten des Patienten . "Bloß keine Aortenruptur …", murmelt er vor sich - diese hat er noch als typische Verletzungsfolge eines Dezelerationstraumas in Erinnerung. Möglich wäre aber auch eine Ruptur von Leber oder Milz. Hätte der Hausbesitzer solche Verletzungen, könnte der Medizinstudent vor Eintreffen des Notarztes nicht viel für ihn tun - höchstens noch zur Autotransfusion die Beine 30° hochlagern. Diese Schocklagerung entspricht etwa einer Infusion von 500 bis 1.000 ml Flüssigkeit ...

Plötzlich hört er ein Geräusch, das zügig lauter wird - der Rettungshubschrauber (RTH). Tobias fällt ein Stein vom Herzen, als dieser fünfzig Meter entfernt auf einem freien Platz landet. Dazu ist der Notarzt (NA) noch ein bekanntes Gesicht: ein Anästhesist, bei dem er mal in einer Vorlesung saß.

 

Hypo- und Hyperventilation sind gefährlich

Tobias stellt sich als Medizinstudent im 10. Semester vor und schildert kurz, was er von Patient und Unfallhergang weiß. Der Anästhesist bedankt sich für die Vorarbeit und bindet ihn in die weitere Versorgung mit ein. Zunächst tastet der Arzt den Carotispuls des Patienten, er ist kräftig und regelmäßig, und auskultiert den Thorax. Die Lunge ist beidseits belüftet, die Atmung regelmäßig. Nach wie vor reagiert der Patient nicht - auch nicht, als ihn der NA heftig kneift. Der Rettungsassistent (RA) hat unterdessen alles für eine endotracheale Intubation vorbereitet, so dass der Notarzt schon etwa eine Minute nach ihrer Ankunft intubieren kann. Aufgrund des tiefen Komas des Verletzten braucht er keine Narkosemedikamente. Tobias' Aufgabe ist es, den Kopf des Patienten mit beiden Händen von der Seite zu stabilisieren, damit Rotations-, Flexions- und Extensionsbewegungen der HWS unterbleiben.

Nach der Intubation wendet sich der NA an ihn: "Jetzt sind die Atemwege am besten vor Aspiration und Verlegung geschützt. Außerdem können wir mit 100 Prozent Sauerstoff beatmen und so eine optimale Oxygenierung sicherstellen. Durch die künstliche Beatmung verhindern wir zudem eine Hypoventilation - eine häufige und vermeidbare Ursache für einen Hirndruckanstieg. Eine stärkere Hyperventilaton, wie sie im Eifer des Gefechts öfter vorkommt, ist jedoch ebenfalls gefährlich. Früher hat man sie beim SHT bewusst angestrebt, aber die Hirndurchblutung kann dadurch bedrohlich abnehmen." Bei diesen Worten stellt der NA am Beatmungsgerät ein Hubvolumen von 600 ml und eine Atemfrequenz von zwölf pro Minute ein. Der Patient, dessen Gewicht der NA auf etwa 90 kg schätzt, bekommt also in der Minute ein Volumen von 7,2 l. Unmittelbar nach der Intubation wird ihm noch die HWS-Orthese ("stiff-neck") angelegt. Mittlerweile hat der RA den Blutdruck gemessen: 110/80 mmHg bei einer Herzfrequenz von 100 pro Minute. "Eigentlich würde ich mir einen höheren Blutdruck wünschen". Der Arzt wiegt den Kopf. "Zerebral wäre das wahrscheinlich gut für ihn. Aber ich weiß nicht, ob er nicht innere Blutungen hat, die sich dann verstärken würden."

 

Schnell wieder weg

Er untersucht orientierend und rasch die Extremitäten - abgesehen von dem bereits bekannten Oberschenkelbruch hat er keinen weiteren Frakturverdacht. Die Pupillen sind anisokor, mit weiter rechter Pupille. NA und RA legen nun am linken und rechten Arm jeweils eine dicke, graue Venenverweilkanüle. An diese wird jeweils eine Vollelektrolytlösung angeschlossen. Die Beutel drücken sie Tobias in die Hand; er soll auf eine mäßig schnelle Tropfenfolge achten. Eine "Massivinfusion" möchte der NA explizit nicht, um nicht eine etwaige Blutung zu verstärken. Er drängt darauf, den Patienten zügig in den RTH zu verfrachten. Auf Tobias' Nachfrage erklärt er, dass er bewusst auf weitere, detaillierte Untersuchungen verzichte, da die Zeit für den Patienten knapp sei - vor allem müsse sein SHT versorgt werden.

Mittels Schaufeltrage legen sie den intubierten Hausbesitzer auf eine Vakuummatratze. Durch Luftabsaugen wird sie unter Anmodellation "hart gemacht" und schient so das frakturierte Bein. Die Vakuummatratze wiederum liegt auf der Transporttrage, die unverzüglich zum Hubschrauber geschoben wird. Knapp zwölf Minuten nach ihrer Ankunft steigen NA und RA wieder ein, und der Pilot startet die Rotoren für den Rückflug.

Nun findet Tobias Zeit, ein paar Worte mit der Frau des Patienten zu wechseln, die verständlicherweise völlig verzweifelt am Unfallort umherläuft. Tobias ist ebenfalls aufgewühlt. Für eine angenehme Lektüre findet er an diesem Abend keine Ruhe mehr.

 

Nicht nur ein Trauma

Da er am nächsten Tag ohnehin in der Uni-Klinik ist, sucht er dort den Anästhesisten auf, der glücklicherweise nicht dienstfrei hat. Der Arzt freut sich über die Nachfrage und berichtet Tobi ausführlich, wie "ihr" Patient in der Klinik weiter versorgt wurde:

Im Schockraum übernahmen ihn zunächst Anästhesisten, Chirurgen und Neurochirurgen - das typische ärztliche Schockraumteam, ergänzt durch Pflegepersonal. Sie entkleideten den Verletzten vollständig und untersuchten ihn gründlich - auch neurologisch. Für Blutabnahmen legten sie ihm eine arterielle Kanüle, die vor allem für Blutgasanalyse, Gerinnung, Hämoglobinwert, Blutgruppenbestimmung und die invasive Blutdruckmessung genutzt wurde. Ganz wichtig war die Ultraschalluntersuchung des Abdomens, zum Glück ergab sich dabei kein Hinweis auf freie intrabdominelle Flüssigkeit.

Danach kam der Patient ins CT: Schädel, HWS und Thorax wurden durchleuchtet. Eine HWS-Fraktur hatte er nicht, aber ein Hämatothorax links sowie vor allem ein großes epidurales Hämatom rechts mit beginnender Mittellinienverlagerung - sofort fuhr man ihn deswegen zur Trepanation in den OP. Vor der Operation legten die Ärzte schnell noch eine Thoraxdrainage links. Dann führten die Neurochirurgen eine Hemikraniotomie rechts durch: Sie entfernten temporär den Schädeldeckel der Seite, damit das Gehirn des Patienten ungehindert schwellen konnte. Ins Parenchym legten sie eine Hirndrucksonde.

So weit ging alles gut. Nach Ende der neurochirurgischen OP war die Diagnostik für den Patienten aber noch nicht vorbei: Jetzt erst wurde er detailliert radiologisch untersucht, und die Bilder zeigten mehr Verletzungen, als Tobias in der Notfallsituation erkennen konnte: eine distale Oberschenkelfraktur rechts, eine Sprunggelenksfraktur rechts und eine Claviculafraktur rechts. Diese Frakturen wurden zunächst konservativ versorgt. Insgesamt ergab sich ein ISS-Score von 29. Der Patient hat ein schweres Polytrauma.

 

Überlebt, aber nicht überstanden

Der Hausbesitzer liegt nun intubiert, beatmet und sediert auf der Intensivstation. Tobias erkundigt sich an den nächsten Tagen häufiger nach ihm. Was er hört, macht ihn froh: Glücklicherweise entwickelt der Patient kein Multiorgan-, Lungen- oder Nierenversagen. Nur der Hirndruck ist in den ersten Tagen mäßig erhöht. Die Ärzte behandeln ihn mit intermittierenden Gaben von Mannitol 20 Prozent (in 100 ml-Portionen). Weil er weiter im Koma liegt, wird er am fünften posttraumatischen Tag tracheotomiert. Zwei Wochen nach dem Unfall öffnet er dann aber auf Ansprache die Augen und bewegt die rechte Seite gezielt auf Aufforderung. Sicher liegt noch ein langer Rehabilitationsprozess vor ihm, aber angesichts Tobias' schlimmster Befürchtungen am Unfallort freut sich der Medizinstudent doch über diese Entwicklung.

Für seine kompetente Erstbehandlung hat ihm die Ehefrau einige Tage nach dem Unfall einen großzügig bemessenen Korb mit italienischen Roséweinen vorbeigebracht. So denkt Tobias noch eine Weile bei jedem Glas Wein an "sein" erstes Polytrauma.

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