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  • Interview
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  • Das Interview führte Tanja Peschel
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  • 28.03.2013

Multiple Sklerose: Erfahrungen mit der Therapie

Dr. med. Jutta Scheiderbauer ist selbst an Multipler Sklerose erkrankt. Sie engagiert sich bei TAG, einer Trierer Aktionsgruppe von MS-Betroffenen für Betroffene. Im Interview berichtet sie von ihren Therapieerfahrungen, gibt Ratschläge für den Umgang mit MS-Patienten und informiert über alternative Therapieoptionen.

Dr. Jutta Scheiderbauer - Foto: Rika Maria Ishida

> Seit wann leben Sie schon mit der Diagnose Multiple Sklerose?

Seit 16 Jahren. Bisher hatte ich sechs Schübe. Meine schlimmste Beeinträchtigung ist aber das Fatigue-Syndrom. Das bedeutet, ich erschöpfe sehr schnell und unvorhersehbar. Was mir an manchen Tagen wenige Probleme bereitet, stellt sich an anderen als unmöglich heraus.

> Welche Symptome haben Sie außerdem?

Meine Symptome wechseln von Schub zu Schub. Mein erstes Symptom 1996 war eine schmerzhafte Parästhesie in den Beinen. Im Jahr 2000 kam mit einer relativ milden Optikusneuritis der zweite Schub. 2001 hatte ich eine Hemiparese rechts, die dank Kortison wieder wegging, 2002 Doppelbilder und 2004 Schwäche und eine lokale Ataxie im rechten Bein. Nach einer lange schubfreien Zeit kam es 2011 zu schmerzhaften Parästhesien der linken Körperhälfte. Über viele Jahre hin wurde eine Spastik des rechten Beines immer stärker, seit Mitte 2011 jedoch ist sie deutlich rückläufig. Immer wieder gibt es kleinere Sensibilitätsstörungen hier und da.

 

> Sie sind selbst Ärztin. Ist das ein Vorteil?

Viele Ärzte haben Angst mir zu nahe zu treten, indem sie Dinge erklären, die man als Kollege bereits weiß. Deswegen leidet manchmal die Aufklärung etwas. Andererseits ist es für mich einfacher, mich selbst zu informieren.

 

> Was würden Sie jungen Kollegen empfehlen? Worauf sollte man im Umgang mit MS-Patienten besonders achten?

Patienten erinnern sich vor allem an das erste Gespräch nach der Diagnose. Der Arzt oder die Ärztin sollte sich grundsätzlich Zeit dafür nehmen, umfangreich zu informieren und zu ermutigen. Für Patienten ist es wichtig, auch die bestehenden Unsicherheiten zu erfahren, also was über die Krankheit oder Therapieoptionen noch nicht bekannt ist. Andererseits sollte man als Arzt schon deutlich machen, dass die Krankheit auch einen milden Verlauf nehmen kann, und dass mittlerweile viele Therapien zur Verfügung stehen. Dieses Wissen und die Tatsache, dass man nicht einfach so an der Krankheit stirbt, finde ich sehr beruhigend.

Da oft über kognitive Veränderungen geredet wird, denken viele zunächst, dass es sich hierbei um Wesensveränderungen handelt. Normalerweise handelt es sich aber eher um Konzentrationsstörungen. Das heißt, die eigene Persönlichkeit verändert sich nicht, was natürlich auch sehr tröstlich ist. Da die Krankheit oft sehr plötzlich beginnt, ist es gerade am Anfang trotzdem schwer, damit umzugehen, denn man fürchtet sich jeden Morgen davor, dass ein Symptom dazu gekommen sein könnte. Die Patienten haben große Angst, mit der man sie nicht alleine lassen sollte.

 

> Welche Therapieerfahrungen haben Sie gemacht?

Meine erste prophylaktische Therapie wurde nach den motorischen Ausfällen 2001 begonnen. Copaxone (Wirkstoff Glatirameracetat) habe ich ganz gut vertragen, außer dass es nach der Injektion bis zu einer Stunde im Gewebe extrem weh tat. Man musste gut kühlen und dann war es nicht ganz so schlimm, aber die Zeit dazu brauchte man abends. Da ich schwanger wurde, habe ich Copaxone nur einen Monat genommen. Später habe ich das Medikament nochmal nehmen wollen, aber ich bekam eine allergische Reaktion darauf (Urtikaria/Nesselsucht).

Kortison bekam ich zum ersten Mal 2001 aufgrund der Hemiparese rechts. Von heute auf morgen waren 80% der Ausfälle wieder da, die restlichen 20% dauerten länger. Interessant fand ich, dass Kortison, wenn man nicht daran gewöhnt ist, eine enorme Euphorie verursacht. Natürlich klingt das wieder ab, aber es ist schon beeindruckend. Eigentlich kann man kaum laufen, aber man fühlt sich, als könnte man die Nächte durchtanzen.

2003 begann ich eine Betaferon-Therapie (Wirkstoff Interferon-beta-1b), aber die habe ich weniger gut vertragen und ich fühlte mich mit der Therapie immer schlechter als ohne. Die ersten 3-4 Monate waren am schlimmsten mit Fieber und Gliederschmerzen sowie Fatigue, danach ging es erst einmal relativ gut, aber Kopfschmerzen und Migräne traten häufig auf. Nach drei Jahren kamen auf einmal die Gliederschmerzen wieder, später sogar noch intestinale Beschwerden und unklare abdominelle Schmerzen. Schließlich fanden sich 2007 pathologisch vergrößerte Lymphknoten am Truncus coeliacus, woraufhin ich Betaferon absetzte. Man fand in der folgenden umfangreichen Diagnostik keine andere Ursache für die Beschwerden als das MS-Präparat. Danach hat es einige Monate gedauert, bis die Lymphknoten kleiner wurden, und nach einem Jahr waren auch die Schmerzen weg.

 

> Hatten Sie denn je eine sogenannte "Basistherapie"?

Unter "Basistherapie" versteht man eine Langzeitschubprophylaxe mit immunmodulierenden Substanzen, die möglichst früh nach Diagnosestellung begonnen werden soll. Dies wurde 1996 noch anders gehandhabt, die Indikationsstellung für Interferone war an den Nachweis einer hohen Krankheitsaktivität gebunden. Da ich nach dem ersten Ereignis jahrelang schubfrei war, bekam ich zunächst keine Immuntherapie, erst, wie gesagt, nach einem schweren Schub Copaxone und später Betaferon.

2009 habe ich mich von einem Neurologen überreden lassen, trotz Schubfreiheit seit 2004 doch noch einmal eine Basistherapie zu beginnen, diesmal Avonex (Interferon-beta-1a), aber das habe ich wieder sehr schlecht vertragen und es nach einem Jahr abgesetzt. Teilweise war ich eine halbe Woche außer Gefecht gesetzt, aber ich musste schließlich trotzdem meine Familie versorgen. Zu dieser Zeit habe ich begonnen, mehr zu lesen und mir die ganzen Evidenzen für verschiedene Therapien anzuschauen. Irgendwann habe ich dann erstens für mich entschieden, zu einer Selbsthilfegruppe zu gehen, um zu hören wie andere Betroffene damit umgehen, und zweitens, dass ich mir nicht einreden lasse, was ich machen muss. Was ich machen muss, ist -meiner Meinung nach- meine Kinder zu versorgen und ein glückliches Familienleben zu führen.

Die Erfahrungen mit den Medikamenten sind sehr unterschiedlich, das habe ich in der Selbsthilfegruppe festgestellt. Es gibt Leute, die sich aufgrund von Nebenwirkungen weigern, etwas zu nehmen und es gibt welche, die gut damit zurecht kommen. Da gibt es ein breites Spektrum. Wenn mich jemand fragt, sage ich, dass ich nichts nehme. Aber ich würde keinem einen Rat geben, außer, dass so etwas jeder für seine eigene Situation einschätzen muss.

> Nehmen Sie denn im Moment Medikamente ein?

Seit 2010 nehme ich nichts mehr und mir geht es im Moment sehr gut. Wenn ich je wieder eine Therapie möchte, dann nur eine, bei der die Nebenwirkungen mein Allgemeinbefinden nicht verschlechtern. Ich hatte Tage, da war aufgrund extremer Müdigkeit Duschen bereits meine Höchstleistung.

> Was ist heute für Sie anders?

Heutzutage bin ich richtig glücklich mit meinem Leben und ich denke auch gar nicht, dass ich nie wieder arbeiten könnte. Ich bin mittlerweile wegen des Fatigue-Syndroms berentet, aber ich denke mir immer: Vielleicht kann ich ja irgendwann doch wieder arbeiten. Täglich früh aufstehen funktioniert zum Beispiel bei mir nur ungefähr zwei Tage lang gut. Regelmäßige Tätigkeiten gehen deswegen noch nicht, aber eine ehrenamtliche Tätigkeit, wo ich mir die Zeit frei einteilen kann, das funktioniert. Und damit bin ich schon glücklich, aber ich bin auch privilegiert, weil ich finanziell abgesichert bin.

Heute kann ich besser um Hilfe bitten, denn manchmal braucht man einfach Hilfe. Bis ich verstanden habe, dass andere Menschen meine Erschöpfung nicht sehen können, hat es auch eine Weile gedauert. Ich musste mich zum Beispiel erst dazu durchringen, bei einem Familienausflug einfach zu sagen "Wir gehen jetzt in diese Gaststätte, egal ob sie gut oder schlecht ist, ich kann gerade nicht mehr weiterlaufen!".

> Wie sind Ihre Kollegen mit dem Thema umgegangen?

Da meiner Erfahrung nach nur die wenigsten Menschen mit Schicksalsschlägen umgehen können, hatte ich Angst davor, es meinen Kollegen zu erzählen. Die meisten Menschen wissen nicht genau, wie sie darauf reagieren sollen, dass jemand MS hat und wie sie auf Dauer mit einem umgehen sollen. Ich habe befürchtet, durch meine Diagnose stigmatisiert zu werden, dass man mir nichts mehr zutraut oder dass sich das Verhältnis zu meinen Kollegen trübt. Deswegen habe ich erst nach längerer Zeit mit einigen Kollegen darüber geredet. Als ich schließlich gesagt habe, dass ich MS habe, tat es mir eigentlich leid, es so lange verschwiegen zu haben, denn für einige Leute war es schon ein Schock.

Als wir nach Trier umgezogen sind, habe ich offener über das Thema geredet und habe jedem bei der ersten passenden Gelegenheit gesagt, dass ich MS habe. Zu dieser Zeit hatte ich auch gerade Schwierigkeiten länger zu stehen und musste mich oft hinsetzen. Und wenn man noch fit aussieht, aber überall direkt auf den nächsten Stuhl fällt, dann fragen doch einige nach.

Ich glaube, die jungen Kollegen hätten mit MS mehr Arbeitsmöglichkeiten als ich damals, da im Moment eher ein Ärztemangel herrscht. Als ich eine frisch erkrankte junge Assistenzärztin war, gab es die Ärzteschwemme. Damals war es also schon sinnvoller, die Krankheit zu verschweigen, um den Job zu behalten. Rechtlich ist man aber auch nicht verpflichtet, die Erkrankung anzugeben. Als ich meine Arbeitszeit im Jahr 2001 aufgrund meiner Erkrankung reduziert habe, habe ich das auch lieber damit erklärt, dass ich mich mehr um meine Kinder kümmern möchte, als die MS-Erkrankung offen zu legen.

 

> Was halten Sie für besonders wichtig für ein glückliches Leben mit MS?

Nach dem was ich von anderen Patienten gehört habe, ist das wichtigste für die Lebensqualität, die Unterstützung der Familie oder des Partners. Ganz wichtig ist es, auch langfristig realistisch zu planen. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Hochseilartist zu werden wahrscheinlich keine geeignete Option mehr ist und auch Chirurg wohl keine ideale Berufswahl wäre. Aber man sollte an allem festhalten, was einem wichtig ist.

> Worum geht es bei Ihrem Projekt?

Ich hatte mir vorgenommen, etwas in der Selbsthilferichtung zu tun, wenn es mir wieder besser geht. Das mache ich jetzt mit dem Projekt "TAG", bei dem ich ehrenamtlich mithelfe. TAG steht für "Trierer Aktionsgruppe für Neuerkrankte und junge Erwachsene mit Multipler Sklerose".

Zur TAG-Homepage

"Unser Projekt ist vor allem auf die Bedürfnisse junger Erwachsener zugeschnitten und stellt ein Begleit- bzw. Anschlussangebot zur medizinischen Basisversorgung dar. Es soll nicht einfach eine weitere Selbsthilfegruppe sein, sondern ein Informations- und Bewegungszentrum, in welchem Wissen vermittelt, Fragen beantwortet, sozialer Isolation vorgebeugt, vor allem aber, Betroffene ermutigt werden sollen, ihr Leben selbst zu gestalten und aktiv Einfluss auf den weiteren Krankheitsverlauf zu nehmen. Dabei kann, unserer Meinung nach, vor allem eine positive Grundeinstellung helfen." (Von der Projekt-Homepage.)

Wir raten jungen Leuten zwei Dinge: Sich viel zu bewegen und sich selbst zu informieren. Es gibt nämlich umfangreiche Literatur zum Thema Sport und Reha bei MS und sogar eine aktuelle randomisierte Studie mit verminderter Krankheitsaktivität durch ein Stressmanagementprogramm.

Außerdem gibt es Untersuchungen zur evidenzbasierten Patienteninformation und Shared-decision making bei MS, die dafür sprechen, dass Patienten zufriedener mit ihren Therapien sind, wenn sie ausreichend informiert sind und selbst mitentscheiden können, ob sie eine Therapie möchten oder nicht. Die Krankheitsaktivität wird hiervon wohlmöglich auch beeinflusst.

Vielen herzlichen Dank für das Interview!

 

Weiterführende Links

Stress-Management: Bericht beim Deutschen Ärzteblatt

MS-Arbeitsgruppe am UKE

Mehr zum Thema

Artikel: Gott in Weiß im House of God

Artikel: Effektive Reanimation durch richtige Kommunikation

Artikel: Wie menschlich darf ein Arzt sein?

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