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  • Annika Simon
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  • 19.10.2016

Multiple Sklerose, das Chameleon der Neurologie

Multiple Sklerose ist wie ein Chamäleon – die Krankheit kann sich sehr gut tarnen und stellt auch für versierte Diagnostiker eine echte Herausforderung dar. Wie kommt man der MS am besten auf die Spur?


Einen über den Durst getrunken?

Als der Wecker klingelt, ist Tanja noch ziemlich benommen und kann kaum die Augen öffnen. Kein Wunder, denn gestern Abend auf der Erstsemesterparty ist es ganz schön spät geworden und auch das Bier floss wieder reichlich. Mit Mühen quält sich die junge Medizinstudentin aus ihrem Bett und ist fest entschlossen, zumindest die Mittagsvorlesung noch mitzunehmen.

Dazu wird es aber nicht kommen, denn Tanja hat plötzlich höllische Schmerzen im rechten Auge und sieht auch noch alles doppelt. Sie wertet ihre Symptome rasch als Relikte der letzten Nacht und schläft weiter bis in den späten Nachmittag. Leider bringt das verlängerte Schläfchen nicht die erwünschte Wirkung: Tanja sieht immer noch alles doppelt und kann sich kaum auf den Beinen halten. Auch wenn sie am Vorabend sicher an die 5 Biere getrunken hatte, kann das doch die persistierenden Doppelbilder samt Schmerzen nicht ausreichend erklären. Sie geht also zum äußersten und macht für den nächsten Tag noch rasch einen Termin beim Hausarzt.

Dieser führt nach ausgiebiger Anamnese eine neurologische Untersuchung durch und schriebt ihr dann besorgt eine Einweisung zur stationären Behandlung in einer neurologischen Klinik. Dort wird ihre Nervenleitgeschwindigkeit erfasst, sie bekommt einen Termin in der Augenklinik, wird einmal ins MRT geschoben und ein Assistenzarzt macht sogar noch eine Liquorpunktion. Die Ergebnisse sind eindeutig: die Nervenleitgeschwindigkeit von Tanja ist verlangsamt, der Liquor ist positiv auf spezifische Antikörper und im MRT maskierten sich mehrere Entzündungsherde, unter anderem am Sehnerv. Der behandelnde Arzt sagt ihr, dass sie an Multiple Sklerose (MS) leidet. Als Akutmaßnahme wird Tanja mit einer Stoßtherapie Kortison behandelt. Der auch vom Körper selbst produzierte Wirkstoff – ein Steroidhormon – bremst das Immunsystem und lindert so die schädigende Entzündungsreaktion. Drei Tage später fühlt sich Tanja zwar noch deutlich geschwächt, kann aber wieder sehen und ihre versäumten Vorlesungen nachholen.

 

Die Krankheit der 1000 Gesichter

Multiple Sklerose zählt bei jungen Erwachsenen nach Epilepsie zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr, wobei Frauen etwa doppelt so häufig betroffen sind als Männer. Weltweit leiden gut 2,5 Millionen Menschen unter MS, die aufgrund vielfältiger Symptome und Verläufe auch als „Krankheit der 1000 Gesichter“ oder als das „Chamäleon der Neurologie“ bekannt ist. Auch wenn es hinsichtlich der Pathogenese bis heute noch viele offene Fragen gibt, geht man von autoimmunen Prozessen gegen die Markscheiden peripherer Nerven aus, die in der Folge zu Entzündungen und dauerhaften Nervenschädigungen führen. Je nach Entzündungsort leiden die Betroffenen dann wie Tanja unter Doppelbildern, Sensibilitätsausfällen und Lähmungserscheinungen. MS gilt als chronisch fortschreitend und unheilbar. Je nach Verlauf treten die Symptome schubweise oder persistierend mit zunehmender Schwere auf.

 

Leben mit MS

Da es sich bei MS um eine chronische und nicht heilbare Autoimmunerkrankung handelt, müssen betroffene Patienten langfristig neurologisch angebunden werden. Neben der Akuttherapie mittels Kortison-Stoßbehandlung gibt es eine Basistherapie – zum Beispiel mit Interferonen – die eine Progredienz abmildern soll. Schreitet die Erkrankung dennoch mit schweren Symptomen voran, verbleibt noch die sogenannte Eskalationstherapie, bei der monoklonale Antikörper wie zum Beispiel Natalizumab zum Einsatz kommen. Neben den Medikamenten gibt es für Betroffene mittlerweile vielfältige Hilfsangebote und Informationsstellen, die das Leben mit MS erleichtern können. Auch Tanja hat auf solch ein Angebot zurückgegriffen und nimmt seit ihrer Diagnose einmal wöchentlich an einer Selbsthilfegruppe teil. Dort tauscht sie sich mit anderen jungen Frauen mit MS aus und kann die Gruppe mit ihrem Wissen aus dem Studium sogar richtig bereichern. Das gibt ihr dann immer neue Kraft für den nächsten Schub und zeigt ihr: MS ist eine schwere Krankheit, aber ein Leben mit MS ist möglich!

 


 

Weiterführende Links

- Homepage der Deutschen MS-Gesellschaft

- Trailer zu einem Dokumentarfilm über MS

- Doku der Reihe „Planet Wissen“ über das Leben mit MS

- Leitlinien zu Diagnostik und Therapie der MS

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