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  • 12.01.2007

Kasuistik Migräne

Fast 10 Millionen Menschen leiden in Deutschland unter Migräne. Typische Migräneattacken sind wiederkehrende, pulsierende Kopfschmerzen, die meist einseitig auftreten. Begleitende Symptome sind Übelkeit und Erbrechen sowie Licht- und Lärmüberempfindlichkeit. Wie Sie eine Migräne diagnostizieren und therapieren, schildern Ihnen Dr. Katja Heinze-Kuhn und Dr. Axel Heinze.

Der Presslufthammer im Schädel

Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne. Das sind Kopfschmerzen, auch wenn man keine hat", schrieb Erich Kästner in "Pünktchen und Anton". Treffender kann man die Vorurteile gegen Migräniker nicht zusammenfassen. Dabei fühlen sich Migränekranke hundeelend. So wie Alexandra G.: Sie liegt zusammengekauert auf einer Untersuchungsliege. Ihr Gesicht ist blass. Trotz einer Wolldecke ist ihr kalt. Als wäre der hämmernde, pochende Schmerz im Kopf nicht genug, quält sie starke Übelkeit. Gerade hat sie sich übergeben. Das Licht der Deckenlampe brennt ihr wie Feuer in den Augen. Das leiseste Geräusch und die kleinste Anstrengung verstärken den Schmerz.

In kurzen Zeitabständen erleidet Alexandra G. drei weitere Kopfschmerzanfälle und sucht beunruhigt ihren Hausarzt auf. Dieser untersucht sie körperlich und veranlasst eine Blutuntersuchung und eine Computertomographie des Kopfes. Er überweist sie an einen Neurologen zum Ausschluss eines krankhaften Hirnprozesses. Sein Ergebnis ist erfreulich.

Er kann anhand des CTs und der neurologischen Untersuchung eine bösartige Erkrankung ausschließen, Alexandra G. leide an Migräne. Die junge Frau ist erleichtert; jedoch nur bis zum nächsten Kopfschmerzanfall, der ihr quälender erscheint als alle bisherigen.

 

Spezialsprechstunde für Kopfschmerzpatienten

Deshalb beschließt Alexandra G., sich in einer Spezialsprechstunde für Kopfschmerzerkrankungen in einer neurologischen Schmerzklinik vorzustellen. Im Mittelpunkt des ersten Vorstellungstermins steht ein intensives Gespräch mit dem Arzt, der sie über ihre Migräne, die auslösenden Faktoren und die Therapie informiert. Er versichert ihr, dass Migräne eine echte Krankheit ist – und zwar eine neurologische und keine psychiatrische!

 

Diagnosekriterien der Migräne

Der Arzt erklärt ihr, dass es 246 verschiedene Kopfschmerzdiagnosen gibt. Bei mehr als 90% aller Patienten, die unter chronischen Kopfschmerzen leiden, ist die Ursache nicht bekannt. Kopfschmerzen sind hier nicht Symptom einer anderen Gesundheitsstörung, sondern die Erkrankung selbst. Charakteristisch für eine Migräne sind Kopfschmerzattacken mit einer Dauer von 4 bis 72 Stunden. Die neurologische Untersuchung ist dabei unauffällig. Der häufig einseitige, pochend-pulsierende und stark behindernde Kopfschmerz wird durch körperliche Anstrengung zusätzlich verstärkt. Begleitend treten meist Übelkeit und Erbrechen sowie Lärm- und Lichtscheu auf. Ein Verdacht auf Migräne besteht, wenn der Patient mindestens fünf Kopfschmerzattacken erlitten hat. Untersuchungen wie EEG, CT, MRT sind nur dann erforderlich, wenn die neurologische Untersuchung auffällig ist.

 

Volkskrankheit Migräne

Alexandra G. erfährt weiter, dass Migräne zu den häufigsten Schmerzerkrankungen gehört. In Deutschland leiden etwa 8 Millionen Menschen darunter. Dass sie eine typische Frauenkrankheit sei,

ist ein Vorurteil. Jeder dritte Patient ist ein Mann! Bei den meisten beginnt die Migräne bereits vor dem 25. Lebensjahr. Bei etwa 30% der Kranken kündigen sich Migräneattacken schon ein bis zwei Tage vorher an: Vorboten sind beispielsweise Verstimmung, Gereiztheit und Müdigkeit, aber auch Überaktivität, Heißhunger auf Schokolade und Euphorie. Bei 10% beginnt der Migräneanfall mit neurologischen Störungen: der Migräneaura. Am häufigsten tritt sie in Form von Sehstörungen auf wie einseitigem Augenflimmern oder umschriebenen Gesichtsfeldausfällen, seltener sind Gefühlsstörungen und Kribbelmissempfindungen, Lähmungen oder Sprachstörungen. Aurasymptome entwickeln sich allmählich über mehrere Minuten hinweg und bilden sich im typischen Fall innerhalb von 60 Minuten vollständig zurück. In einer Attacke können verschiedene Aurasymptome nacheinander auftreten. Innerhalb einer Stunde nach Verschwinden der Aura folgen meist die Kopfschmerzen.

 

Häufigste Auslöser von Migräneattacken

Verschiedene Faktoren können Migräneattacken auslösen. Sie sind aber nicht die eigentliche Ursache der Migräne. Patienten berichten darüber, dass sie besonders unter Migräne leiden, wenn sie ihren Tagesablauf ändern, Mahlzeiten auslassen sowie zuviel oder zuwenig schlafen. Andere sind bei einem abrupten Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung anfälliger für Migräne, wenn zum Beispiel am Wochenende der Stress der Woche von ihnen abfällt. Auch außergewöhnliche psychische Belastungssituationen wie Stress, Freude oder Trauer spielen eine Auslöserrolle. Weitere "Trigger" von Migräneattacken sind ungewohnte körperliche Belastungen wie Reisen, Erschöpfung oder Hungern. Bei einem Teil der betroffenen Frauen ist die Migräne streng an den Menstruationszyklus gebunden. Häufig nennen Patienten äußere Reize wie Licht, Lärm, Gerüche oder Wetteränderungen wie Fön und Hitze als auslösende Faktoren. Auch nach Konsum von Alkohol kann es zu Migräneattacken kommen.

 

Migräne – eine Entzündungsreaktion

Wissenschaftler gehen davon aus, dass es während einer Migräneattacke zu einer sterilen Entzündung im Bereich der Hirnhaut und der Blutgefäße, die in ihr verlaufen, entsteht. Auslöser dieser Entzündungsreaktion ist ein "Migränegenerator" im Hirnstamm. Die Hirnhaut besitzt ein dichtes Netz von Schmerzrezeptoren, die durch die Entzündung so empfindlich werden, dass schon das Pulsieren der Blutgefäße zu dem typischen hämmernd-pochenden Migränekopfschmerz führt. Jede körperliche Aktivität führt über ein verstärktes Pulsieren zur Zunahme der Schmerzen. Für Patienten wie Alexandra G. wird Bettruhe erforderlich.

 

Genetische Prädisposition

Auch die Vererbung spielt bei Migräne eine Rolle. Leidet ein Elternteil unter Migräne, haben die Kinder ein 2- bis 4fach erhöhtes Risiko, Migräneattacken zu bekommen. Für eine seltene Unterform, die familiäre hemiplegische Migräne, ist der entscheidende Gendefekt auf Chromosom 19 bzw. Chromosom 1 bereits bekannt.

 

Die Therapie der Migräne

Eine ursächliche Behandlung der Migräne ist bis heute nicht möglich. Schon reine Verhaltensmaßnahmen bewirken aber, dass Migräneattacken weniger stark und seltener auftreten. Die persönlichen Auslösefaktoren sollte man meiden und auf einen regelmäßigen Tagesablauf achten. Entspannungsverfahren und Ausdauersport haben sich zur Stressbewältigung bewährt.

Treten trotz dieser Maßnahmen weiterhin mehr als drei Migräneattacken pro Monat auf oder sprechen die einzelnen Anfälle nicht prompt auf Medikamente zur Attackenbehandlung an, kann eine medikamentöse Vorbeugung zum Beispiel mit Betarezeptorenblockern, Flunarizin, Topiramat, Valproat, Perstwurzextrakten oder Magnesium sinnvoll sein. Die positive Wirkung dieser Substanzen auf Migränepatienten wurde zufällig entdeckt. Wie sie bei Migräne wirken, ist nicht genau bekannt. Ziel der Medikation ist es, die Attackenhäufigkeit, -dauer und -intensität um die Hälfte zu reduzieren. Komplett können die Attacken nicht unterdrückt werden. Die Medikamente sind auch kein Ersatz für Verhaltensmaßnahmen. Sie sollten täglich über einen Zeitraum von sechs bis neun Monaten eingenommen werden, wobei die Wirkung frühestens nach vier bis acht Wochen eintritt. Dann kann ein Auslassversuch erfolgen.

 

Die Behandlung der Migräneattacke

Auch wenn Medikamente zuverlässig Migränebeschwerden lindern können, sollten sich Patienten bis zu deren Wirkbeginn eine Ruhepause gönnen. Am besten, sie ziehen sich in ein dunkles, ruhiges Zimmer zurück.

Die Wahl der Medikamente richtet sich nach der Schwere der Kopfschmerzattacke. Leichte Migräneattacken lassen sich durch die Kombination eines Mittels gegen Übelkeit mit einem einfachen Schmerzmittel lindern. Das Medikament gegen Übelkeit beschleunigt dabei zusätzlich die Aufnahme des Schmerzmittels in den Körper. Schmerzmittelmischpräparate, die Zusatzstoffe wie Koffein enthalten, sind grundsätzlich zu meiden, da sie mit einem erhöhten Risiko einhergehen, selbst Kopfschmerz auszulösen.

Bei schweren Migräneattacken werden spezifische Migränemittel erforderlich. Früher standen nur Ergotaminpräparate zur Verfügung, die starke Migränekopfschmerzen meist nur wenig mildern konnten. Übelkeit und Erbrechen nahmen oft sogar noch zu. Auf lange Sicht problematisch waren bei regelmäßiger Einnahme Durchblutungsstörungen und ergotamininduzierte Dauerkopfschmerzen.

 

Triptane greifen gezielt an

Heute stehen mit den Triptanen Substanzen zur Verfügung, die schnell, zuverlässig und gut verträglich auch schwerste Migräneattacken bekämpfen können. Grund für die gute Wirksamkeit der Triptane ist ihr gezielter Angriffspunkt am Ort des entzündlichen Schmerzgeschehens, den Blutgefäßen der Hirnhaut. Als selektive 5-HT-Rezeptoragonist hemmen sie direkt die Freisetzung der inflammatorischen Neuropeptide (wie CGRP), die für die Entstehung der neurogenen Entzündung verantwortlich sind. Dadurch kontrahieren die Gefäße und die Entzündung wird gehemmt. Welches Triptan man gibt, entscheidet man anhand der Eigenschaften der individuellen Migräneattacken und der speziellen Bedürfnisse des Patienten. Die einzelnen Triptane unterscheiden sich dabei in ihrer Wirkstärke, Wirkgeschwindigkeit, Wirkdauer und in ihrer Verträglichkeit. Machen ausgeprägte Übelkeit und frühes Erbrechen in der Migräneattacke die Einnahme von Tabletten unmöglich, stehen als alternative Darreichungsformen Zäpfchen, Nasenspray und Spritzen zur Verfügung.

Mit dem Eintritt der Wirkung kann zum Teil schon nach 30 Minuten gerechnet werden. Viele Patienten haben bereits zwei Stunden später ihre Migräneattacke überwunden. Bei etwa einem Drittel der zunächst schmerzfreien Patienten muss aber damit gerechnet werden, dass die Migränebeschwerden wieder auftreten. Dieser "Wiederkehrkopfschmerz" spricht auf eine erneute Einnahme des Triptans an. Triptane sind in der Regel gut verträglich. Patienten mit Durchblutungsstörungen dürfen allerdings weder Triptane noch Ergotamine einnehmen. Die Einnahmehäufigkeit sollte auch bei Triptanen bei nicht mehr als 10 Tagen im Monat liegen, damit es nicht zu medikamenteninduziertem Kopfschmerz kommt.

Können auch Triptane eine Migräneattacke nicht durchbrechen oder halten Migränebeschwerden im Sinne eines Status migraenosus mehr als drei Tage an, wird eine ärztliche Intervention erforderlich. In der Regel setzt man dieselben Medikamente wie bei leichten Migräneattacken ein, nur werden Analgetika und Antiemetika intravenös verabreicht.

Migräne ist heute ein Leiden, das man nicht mehr hinnehmen muss. Auch Alexandra G. hat sich gegen ihre Krankheit gewappnet. Derzeit ist sie meist in der Lage, Migräneattacken rasch in den Griff zu bekommen. Wenn sie rechtzeitig zu Beginn einer Attacke 20 Tropfen Metoclopramid nimmt in Kombination mit zwei Tabletten Acetylsalicylsäure, sind die Beschwerden häufig schon nach einer Stunde Vergangenheit. Wirken diese Mittel nicht oder sind die Attacken sehr heftig, führt die Einnahme eines Triptans zum Ziel. Erst zweimal musste ihr Arzt zur Spritze greifen. Spätestens die i.v. Gabe von ASS konnte dann den Anfall beenden. Zu Frau Direktor Pogges Zeiten gab es diese Migränemittel leider noch nicht.

 

Infos über die Autoren

Dr. med. Axel Heinze ist Leitender Oberarzt an der Neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik in Kiel.

Dr. Katja Heinze-Kuhn ist Stationsärztin an der Neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik in Kiel.

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