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  • Interview
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  • Tobias Herbers
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  • 24.10.2012

Live-OPs in der Lehre

Die klinische Anatomie Tübingen hat mit der Sectio chirurgica didaktisches Neuland betreten. Die Veranstaltung zeigt Eingriffe aller chirurgischen Disziplinen an Körperspendern. Dank modernster Telemedizin können auch externe Studierende die Veranstaltung live am Monitor mitverfolgen. Tobias Herbers traf sich mit PD Dr. med. Bernhard Hirt, dem Leiter der klinischen Anatomie Tübingen und Initiator der Veranstaltung, zum Interview.

> Die Sectio chirurgica wird im Oktober eine neue Staffel starten. Seit wann gibt es die Veranstaltung, für wen wurde sie konzipiert und worum handelt es sich dabei?

Dr. Hirt: Wir haben im Jahr 2008 mit der Veranstaltung begonnen. Somit wird im Oktober die vierte Staffel anlaufen. Es handelt sich dabei um eine Veranstaltung bei der renommierte Kliniker, charakteristische Eingriffe in anatomisch aufgearbeiteter Form an Körperspendern vornehmen.

Die Studenten können dabei alles mitverfolgen. Die Sectio chirurgica findet jeweils im Wintersemester statt und ist in das curricular im Studiengang Humanmedizin verankert. Zusätzlich nehmen regelmäßig Zahnmediziner an der Veranstaltung teil. Dabei sind die Live-OPs an den jeweiligen Präparationsabschnitt des parallel stattfindenden Präparationskurses angepasst, um den Studierenden die gerade gelernten anatomischen Strukturen praktisch vor Augen zu führen.

 

Der Live Op in Tübingen - Foto: Klinische Anatomie Tübingen

 

> Seit der letzten Staffel der Sectio chirurgica im Jahre 2010 gibt es nun auch die Möglichkeit für externe Zuschauer, an der Veranstaltung teilzunehmen. War diese Erweiterung von Anfang an geplant?

Dr. Hirt: Grundsätzlich wurde die Sectio chirurgica für die Studierenden in Tübingen konzipiert. Dies wird sich auch weiterhin darin zeigen, dass die vorgestellten Operationen an den parallel stattfindenden Tübinger Präparationskurs angepasst sind. Allerdings erlebten wir eine verstärkte Anfrage externer Studierender, die für die Sectio chirurgica Interesse zeigen und die Zugangsdaten für die Veranstaltung anfordern. Dies bewog uns, die Veranstaltung nun auch für sie zu öffnen.

Über ein Passwort können sie nun per Internetübertragung an der Veranstaltung teilnehmen. Dabei haben die Studierenden auch die Möglichkeit, Fragen an den Operateur via Chatfunktion zu stellen. Durch diese Chatfunktion konnten wir bereits einen Austausch unter den Studierenden während der Veranstaltung beobachten, der sich auch unter dem Aspekt des eLearnings als sehr spannend herausstellte.

Dabei möchte ich betonen, dass diese Erweiterung nicht durch uns beworben wurde, sondern ausschließlich durch den deutschlandweiten Austausch vonseiten der Studierenden zustande kam. Dabei wird bei uns streng die Angehörigkeit dieser Personen an eine medizinische Fakultät beziehungsweise einen medizinnahen Beruf kontrolliert, um einer erlebnisheischenden Schauanatomie entgegenzuwirken.

 

Während des Drehs - Foto: M. Mauz

 

> Die neue Approbationsordnung für Humanmediziner fordert eine stärkere Verknüpfung der Klinik mit der Vorklinik. War dies das ausschlaggebende Argument für die Konzipierung der Sectio chirurgica?

Dr. Hirt: Ganz klar war dies der Aufhänger für diese Veranstaltung. Durch die neue Approbationsordnung sind wir jetzt gefordert, klinische Inhalte auch in das vorklinische Curriculum zu integrieren. Allerdings muss man wissen, dass wir in Tübingen zu einem grundsätzlich traditionellen Aufbau des Studiums in Vorklinik und Klinik stehen, der sich mit der neuen Approbationsordnung zu stoßen schien.

Um dennoch traditionell bleiben zu können und gleichzeitig didaktisch modern zu arbeiten, haben wir ein innovatives, longitudinales Querschnittcurriculum entwickelt. Dadurch konnten nun einige Elemente der beiden Abschnitte in ganz besonderer Weise miteinander verknüpft werden.

Dabei ist die Sectio chirurgica eine Veranstaltung, die im Rahmen dieses neuen Curriculums die Verknüpfung schon früh aufgegriffen hat, um dem vorklinischen Studierenden praktische, anatomische Einblicke zu geben. Allerdings möchte ich betonen, dass diese Verknüpfung nicht nur in Richtung Vorklinik-Klinik erfolgen sollte sondern nun auch klinische Studenten die Möglichkeit haben, sich erneut vorklinischen Grundlagen zu nähern. Hierdurch möchten wir ein strategisch sinnvolles Gesamtkonzept erreichen, in dem sich der vorklinische- und klinische Student im gleichen Hörsaal gegenübersitzen, um voneinander zu lernen und zu profitieren.

 

Während der OP - Foto: M. Mauz

 

> Damit die Sectio chirurgica von den Studenten live und hautnah verfolgt werden kann, musste im Präparationssaal der Universität Tübingen viel umgebaut werden. Nun kann der Zuschauer unter anderem durch eine in die OP-Leuchte eingebaute Kamera direkt in das OP Feld schauen. Wie wurden diese und andere kostspieligen Investitionen für die Sectio chirurgica finanziell ermöglicht?

Dr. Hirt: Das finanzielle Konzept der Sectio chirurgica basiert unter anderem auf den vielfältigen Aufgabenbereichen der klinischen Anatomie Tübingen. So erfüllen wir zum Beispiel nicht nur den studentischen Unterricht in anatomischen Fächern sondern betätigen uns außerdem in einem sehr modernen Tätigkeitsschwerpunkt der experimentellen Fort- und Weiterbildung von Ärzten sowie von medizintechnischen Unternehmen.

In der Vergangenheit konnten wir dieses Tätigkeitsfeld weiter ausbauen und professionalisieren. So konnten wir jetzt eine eigene Infrastruktur erreichen, mit der wir Projekte der studentischen Lehre, wie die Sectio chirurgica, in finanzieller Eigenregie durchführen können. Dabei sind wir von Geldern der Fakultät oder von Studiengebühren gänzlich unabhängig.

Außerdem konnten wir hierdurch einen vollständigen und theoretisch offiziell zugelassenen OP-Saal in der klinischen Anatomie installieren und verfügen zusätzlich noch über zehn weitere OP-Arbeitsplätze, an denen regelmäßig chirurgische Fort- und Weiterbildungen stattfinden. Somit ist es unter anderem unser großes Ziel, die Einnahmen aus der neu entstehenden Infrastruktur wieder in die studentische Ausbildung zurückfließen zu lassen, um auch kostspielige Projekte wie die Sectio chirurgica weiterhin anbieten zu können.

 

> Sie arbeiten mit dem Konzept der Sectio chirurgica auf einem ethisch heiklen Feld. Die Live-OPs werden an Körperspendern durchgeführt, die sich vor ihrem Tod bereit erklärt haben, ihren Körper zu wissenschaftlichen und lehrenden Zwecken zur Verfügung zu stellen. Gab es bei der Entscheidung, die Veranstaltung auch für externe Studenten zu öffnen, nicht ethische Bedenken bezüglich der Körperspender?

Dr. Hirt: Tatsächlich ist dies ein heikles Feld, und wir sind uns dabei unserer Verantwortung gegenüber den Körperspendern bewusst. Damit wir uns mit der Veranstaltung nicht in einer juristisch, ethischen Grauzone befinden, war es uns während den Vorbereitungen sehr wichtig, mit der Ethik Kommission zusammenzuarbeiten, die den aktuellen Ablauf der Sectio mit einem positiven Votum bewertete.

Des Weiteren legen wir Wert darauf, dass das Präparat während der Übertragung professionell chirurgisch abgedeckt ist und somit das Individuum selber nicht mehr zu erkennen ist. Seit dem Beginn der Sectio chirurgica im Jahre 2008 haben wir auch das Verfügungsschreiben, das der Spender zu Lebzeiten ausfüllt, um sich bei uns zu registrieren, durch eine zusätzliche Klausel ergänzt. In dieser wird er auch über die Möglichkeit einer Videoübertragung informiert. Durch die klare Abgrenzung unserer Zielgruppe können wir sicherstellen, dass die Sectio chirurgica ganz klar das Ziel der Fort- und Weiterbildung verfolgt.

 

Während der OP - Foto: M. Mauz

 

> Das Konzept der Sectio chirurgica zeigt, dass Sie nie den Bezug zur Praxis verloren haben. Gibt es bei solch einem hohen Praxiswissen auch für Sie noch Momente in denen Sie immer wieder neu ins Staunen kommen?

Dr. Hirt: Das ist eine schwere Frage. Grundsätzlich finde ich es aber spannend, parallel zur Anatomie, alle Disziplinen weiter zu verfolgen. Dabei gibt es keine Disziplin die ihre Basis nicht auf die Anatomie baut. Das wollen wir in der Sectio chirurgica auch so vermitteln. Bei den gezeigten Eingriffen handelt es sich um charakteristische Eingriffe einer bestimmten Disziplin in der auch ich jedes Mal etwas Neues entdecken kann.

Dabei finde ich nicht die High-End-Operationen am Spannendsten sondern die einfachen Routineoperationen, die in der chirurgischen Praxis schließlich auch den Großteil der Behandlungen ausmachen. Diese Operationen - didaktisch solide dargestellt - finde ich besonders spannend.

Außerdem ist es auch immer wieder schön, die Medizintechnik im Hintergrund zu erläutern, zu erklären und schließlich auch abzufragen. Zudem begeistert mich der Umgang der Chirurgen untereinander, die Kommunikation mit der OP-Pflege und der interdisziplinäre Austausch. Hier kann auch der Student schon von Anfang an lernen, die Situation im OP richtig einzuschätzen, um danach aktiv mitzuhelfen.

 

> Bei der letzten Evaluation der vorklinischen Veranstaltungen landete die Sectio chirurgica mit einer Gesamtnote von 1,41 auf Platz 1. Was glauben Sie, warum die Veranstaltung bei den Studenten so beliebt ist?

Dr. Hirt: Ich glaube, dass die Möglichkeit, angepasste klinische Inhalte schon im vorklinischen Abschnitt lernen zu können, die Motivation bei den Studierenden ausmacht, die Dinge zu lernen und zu erfassen.

So erkennen die Studierenden den Grund, warum sie so viel Anatomie pauken müssen und bekommen einen Einblick in die Relevanz der einzelnen Themengebiete. Gleichzeitig entwickeln sie aber auch ein Gefühl dafür, was weniger relevant ist und als "sehr akademisch" bezeichnet werden kann. Gerade auch diese Trennung des Gelernten in wichtig und unwichtig macht wohl einen Großteil der Motivation bei den Studierenden aus.

 

> Sie arbeiten außer für die Sectio chirurgica auch noch als Oberarzt in der Klinik für Hals-Nasen-Ohren Heilkunde und halten anatomische Vorlesungen. Dabei scheint es, als würden Sie dieses hohe Arbeitspensum gut kompensieren können. Was sollte man nach Ihrer Meinung während des Studiums, trotz des hohen Arbeitspensums, nicht vergessen?

Dr. Hirt: Ich denke, dass man sich ein klares Ziel vor Augen halten sollte. Dabei muss es wichtig sein, sich nicht in einzelnen Kleinigkeiten zu "verkopfen" sondern einen Schritt zurück zu schalten, um den Blick für das große Ganze zu bekommen.

Dies hat natürlich sehr viel mit der eigenen Grundmotivation zu tun, die sehr schnell durch den Alltag verloren gehen kann. Wenn man sich aber zwingt, diesen Schritt zurück zu gehen und sich "das Ganze" ansieht, macht alles wieder Sinn und man ist in der Lage, den Kraftakt auf sich zu nehmen.

Verbinden möchte ich diesen Grundgedanken mit dem Ratschlag, seine großen Interessen nicht außen vor zu lassen und sich Freiräume zu schaffen. Genauso sollte man aber auch Freiräume innerhalb des Faches schaffen und sich zum Beispiel fremde Lebensläufe anschauen, um vielleicht auch hier Anregungen zu bekommen. Solche Dinge sind unheimlich wichtig. So behält man seine Motivation und entwickelt sich auch persönlich weiter.

Ich bedanke mich ganz herzlich für das informative Interview und wünsche Ihnen, dass sie auch weiterhin genau diese Motivation aufbringen, um die Lehre in Tübingen stetig zu verbessern.

Infos und Anmeldung zur Sectio chirurgica

Anmeldung, Programm und Infos zur Sectio chirurgica

 

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