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  • Melanie Poloczek
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  • 29.03.2019

Famulaturbericht Hausarzt: Der Arzt für alles

Die Hausarztfamulatur – vier Wochen, die jeder Mediziner im Rahmen des Studiums ableisten muss. Nicht selten ist diese Verpflichtung mit Unmut verbunden, oft aber lehrreicher als gedacht. Ob Allgemeinmedizin für die erste Famulatur eine gute Wahl ist und was hinter Praxistüren auf dich wartet, erfährst du in diesem Bericht.

 

 

Montagmorgen, kurz nach sieben Uhr. Die Straßenbahn schlängelt sich am Berufsverkehr vorbei, müde Passagiere klammern sich an Kaffeebecher, Schulkinder erzählen sich vom Wochenende, hie und da ein Hustender, vielleicht ja auf dem Weg zum Hausarzt - so wie ich. Nicht, weil mein Hals kratzt oder mir die Nase läuft, im Gegenteil. Ich trete meine erste Famulatur an, beim Allgemeinmediziner.

Allgemeinmedizin – für viele Studenten ein Fach mit bitterem Beigeschmack. Mehr Allgemeinmediziner braucht das Land, vor allem auf dem Land, und nebst Lehrveranstaltungen mit Werbecharakter trudeln regelmäßig Ausschreibungen für Hausarzt-Stipendien im Mailverteiler ein, dazu der Eindruck, die Allgemeinmedizin - entgegen anderer Fächer - aufgedrückt zu bekommen: Famulatur beim Hausarzt? Pflicht. Ambulanter PJ-Teil? Bald Pflicht. Allgemeinmedizin bindend im 3. Staatsexamen? In Planung. Ich kenne wenige, die eine Zukunft als Hausarzt erwägen, viele aber, die beim Thema mit den Augen rollen. Es herrscht Allgemeinmedizin-Allergie.

Die vier Wochen beim Hausarzt direkt hinter sich bringen - anfangs auch einer meiner Beweggründe, diese Famulatur als erstes abzuleisten, dazu die Befürchtung, nach erst einem klinischen Semester für das Krankenhauschaos noch nicht ganz gewappnet zu sein. Beim Hausarzt, so die Idee, schmeißt man mich nicht - wie in der Klinik vielleicht - direkt ins kalte Wasser, ermöglicht mir Ein- und Überblick in sämtliche Fachgebiete - schließlich fehlt mir noch jegliches Expertenwissen - und nach kurzem Hadern, ob Famulatur Nummer eins nicht doch in der Anästhesie stattfinden sollte (für mehr Übung im Zugang legen), stürze ich mich ins „Abenteuer Allgemeinmedizin“.

Die Morgen beginnen mit Blutabnahmen, und ich als blutiger Anfänger. In den ersten Tagen staucht mich nicht nur der Stauschlauch, auch der Umstieg von Butterflys auf Sicherheitskanülen, das Aufspüren - und Treffen versteckter Venen, das einhändige Wechseln von Röhrchen und das Punktieren ohne Stauen müssen gelernt, und dann geübt, geübt, geübt werden. Übung macht den Mediziner und aller Anfang ist klein. Umso größer dafür ist die Lernkurve - und das Blutabnehmen schon bald Routine. Manchmal folgen sogar Komplimente, etwa vom älteren Herrn, der in den letzten 30 Jahren keine so angenehme Blutabnahme erlebt hätte, und vermutlich werde ich ein wenig rot - wenn auch nicht ganz so rot wie das EDTA-Röhrchen.

Hinzu kommen Impfungen, Ferritinspritzen, Tiffenau-Tests, Check-Ups, DMP und EKG - die Aufgaben in einer Hausarztpraxis sind vielfältig, aber repetitiv. Dass sich vieles wiederholt, wird vor allem an einem Umstand deutlich - der Grippewelle. Meine Famulatur beginnt im Februar, und kein Tag soll vergehen, an dem ich nicht Lungen abhöre, nach Lymphknoten taste, Rachenringe inspiziere, Fieber messe, Nasennebenhöhlen abklopfe. Es fällt schwer, hier nicht in ein Muster zu verfallen, sind es doch oft die gleichen Ratschläge und Rezepte, die in diesen Fällen über den Behandlungstisch wandern: Schleimlöser und Schmerztabletten, Bettruhe, Salbei, und viel Trinken.
Das Häufige ist häufig, das Seltene ist selten, und „grippaler Infekt“ die Diagnose der Saison, dazu Harnwegsinfekte, Rückenleiden, Schilddrüsenerkrankungen, Stoffwechselleiden, die vielen Volkskrankheiten. „Wenn du Hufgetrampel hörst, sind es wahrscheinlich Pferde, keine Zebras“.

Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich bekomme auch seltene Krankheitsbilder zu Gesicht: Leprechaunismus etwa oder Lymphomtypen, von denen es nur eine Handvoll in ganz Deutschland gibt. Und es gibt sie, die Patienten*, die - mitunter nichtsahnend - den Hausarzt aufsuchen und kurze Zeit später im Rettungswagen sitzen. Die Routine-Blutdruckmessung mit Werten über 200mmHg; die Kieferschmerzen, die sich im EKG als Herzinfarkt entpuppen; der Patient, der im Wartezimmer zusammensackt und reanimiert werden muss.
Spontan besucht eine Frau die Praxis, sie arbeitet in der Bäckerei gegenüber, ihre Kollegin habe einen Hautausschlag bei ihr bemerkt, erst am Hals, jetzt auch an den Armen. Als sie im Sprechzimmer sitzt, ist auch ihr Rücken rot, das Atmen fällt ihr zunehmend schwerer. Es ist, als würde jemand einen Schalter umlegen, denn plötzlich herrscht ein anderer Ton in der sonst so ruhigen Praxis. Ehe ich verstehe, was los ist, ist die „112“ gewählt, der Arzt ruft Kommandos in den Flur, hektisch werden Infusionen aufgezogen, ein Zugang gelegt, SDH und Clemastin verabreicht - die Diagnose: Anaphylaktischer Schock.

Doch ist ein Allgemeinmediziner nicht nur Arzt, sondern auch Bürokrat, und die Arbeit in einer Praxis nicht nur Patientenbehandlung; stattdessen Dispute mit den Krankenkassen, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, Regresszahlungen, Abrechnungsziffern, neue Verbote, neue Gebote. Und auch der medizinische Berufsteil hat seine Kehrseiten, so ist der Hausarzt nicht selten ein „Buhmann für alles“, die Anlaufstelle, an die vieles abgeschoben wird - Rezepte, die vom Facharzt ausgestellt werden müssten, Untersuchungen, die den Rahmen hausärztlicher Versorgung sprengen, „Weiterbehandlung durch den Niedergelassenen“ das Schlusswort allerlei Entlassungsbriefe.

Ehe ich mich versehe, ist meine erste Famulatur vorüber, und bestätigt sich als gute Wahl. Auch als Klinikneuling kann ich mich einbringen, darf sonografieren und im eigenen Sprechzimmer Anamnesegespräche führen. Viele Vorklinikinhalte sind brauchbar (Paradebeispiel: Physiologie für die Befundung von EKGs) und durch mein Wissen über „MGUS“ (gelernt im 5. Semester) kann einmal sogar der Hausarzt von mir profitieren.
Die Famulatur hat mein Bild von der Allgemeinmedizin verändert, zum Positiven. Ich bin beeindruckt von innigen Arzt-Patienten-Beziehungen - der Tatsache, dass selbst in der Großstadt ein Hausarzt Patienten beim Namen kennt, sich privater Sorgen und Probleme annimmt, an Schicksalen teilhat, aber auch an Erfolgsgeschichten. Und nicht selten bringen Patienten Blumen und Kuchen mit, oder schauen bei Gelegenheit in die Praxis rein, um „Hallo“ zu sagen - einfach so.
Nicht umsonst nennen die Briten ihren Hausarzt auch „Family Doctor“, und ganz ohne Kittel und Krankenhausflure gibt es vermutlich wenige Orte in der Welt der Medizin, an denen es so familiär zugeht wie in einer Hausarztpraxis.

*Zur Wahrung des Patientenschutzes wurden Einzelheiten, die Rückschlüsse auf eine Identität erlauben könnten, zweckgebunden geändert.

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