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  • Marisa Kurz
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  • 03.11.2016

Beruf Krankenhausfriseurin: Seelsorge beim Spitzenschneiden

Denkt man an Berufsgruppen, die in einem Klinikum arbeiten, fallen einem wohl zuerst die „Götter in Weiß“ ein: Ärzte, dicht gefolgt von der Krankenpflege und vielleicht noch die Physiotherapeuten. Eine Berufsgruppe hingegen bleibt fast unbekannt: die Krankenhausfriseure. Ich wollte wissen, wie der Arbeitsalltag einer Krankenhausfriseurin aussieht und habe bei Ruth Braun im Klinikum Großhadern nachgefragt.

Foto:Fotolia/ikonoklast_hh 

Ruth Braun ist 65 Jahre alt und arbeitet seit fast 40 Jahren als Krankenhausfriseurin im Salon „Jumel & Wanner“ im Klinikum Großhadern in München. Durch Zufall ist sie damals an den Job gekommen, doch heute kann sie sich nicht mehr vorstellen, in einem „normalen“ Friseursalon zu arbeiten. Wenn ihre Chefin Eleonore Wanner-Keil eine Aushilfe für einen ihrer anderen drei Salons sucht, winkt Ruth ab. Sie gehört ins Klinikum. Bei der Arbeit trägt sie immer einen weißen Friseurkittel.

Etwa 60-80 Kunden kommen pro Tag in den Salon. Erstaunlich ist: nur 20% davon sind direkt aus dem Klinikum, sprich Patienten, Besucher oder Mitarbeiter. Die anderen 80% der Kunden wohnen in der Nähe und kommen zum Haareschneiden extra ins Klinikum. Sogar einige der Ärzte, die schon in Rente sind. Das freut Ruth besonders.

Trotz der vielen externen Kunden hat ihr Arbeitsalltag wenig mit dem einer gewöhnlichen Friseurin zu tun. Manchmal holt Ruth ihre Kunden mit dem Rollstuhl vom Patientenzimmer ab - oder sie schneidet die Haare direkt auf dem Zimmer. Wenn sich Kunden sehr schlecht bewegen können, müssen Ruth und ihre Kolleginnen beim Haare waschen schon mal zu dritt anpacken. Manchmal kommen Kunden in den Salon, die nicht sprechen können, weil sie eine Laryngektomie hinter sich haben. Sie schreiben dann auf, ob die Spitzen geschnitten oder Strähnchen gefärbt werden sollen.

Andere haben Verletzungen an Kopf, Gesicht oder Ohren. Ruth fragt dann als erstes „Sind die Fäden schon gezogen? Haben Sie den Arzt gefragt, ob Sie schon die Haare waschen dürfen?“ Nicht die Fragen, die ein Friseur zur Begrüßung normalerweise stellt. Doch Ruth ist hart im Nehmen, die Wunden und Krankheiten der Kunden machen Ruth nichts aus. Dafür können sie ja nichts. Im Gegenteil, sie ist sogar froh, dass die Patienten hierher kommen können. Denn draußen, in den anderen Salons, wüsste man nicht, wie man mit kranken Menschen umgeht. Ein Altenheim schickt regelmäßig Demenzkranke Patienten zum Schneiden her. Die Kompetenz des Salons ist gefragt.

Ein paar Mal hat Ruth schon erlebt, dass Kunden während des Aufenthalts im Salon zusammengebrochen sind. Einmal wurde eine ältere Dame während ihrer Dauerwellen-Behandlung bewusstlos und das Gebiss fiel ihr aus dem Mund. Die Belegschaft ruft in solchen Situationen sofort den Klinik-internen Herzalarm, in zwei Minuten ist das Team da. Ruth bleibt dann ruhig. Sie weiß, dass sie in einem Krankenhaus sind und dass schnell Hilfe kommt.

Einmal hat Ruth sogar einer bayerischen Prinzessin auf dem Patientenzimmer die Haare gelegt. Dafür musste sie extra einen Hofknicks einüben. Und nachdem Irene Epple-Waigel, die Frau des ehemaligen Bundesfinanzministers Theo Weigel, ihr Kind im Klinikum entbunden hatte, machte Ruth ihr die Haare für den Fototermin – und sah das Baby sogar noch vor dem Vater.

Manchmal ist der Job allerdings schwer für Ruth, vor allem dann, wenn sie mit Krebspatientinnen zu tun hat. Der Salon verkauft auch Perücken und bedient täglich Krebspatienten. Manche Kundinnen kommen vor der Chemotherapie vorbei, um sich den Kopf rasieren zu lassen. Dann müssen sie nicht ertragen, wie ihnen büschelweise Haare vom Kopf fallen. Die Kopfrasur kostet 7,50 Euro. Wer gleich eine Perücke im Salon kauft, bekommt die Rasur umsonst.

Mit der Zeit hat Ruth auch eine Menge medizinisches Fachwissen aufgeschnappt. Wenn sie Begriffe wie „kleinzelliges Bronchialkarzinom“ hört, weiß sie schon, dass es schlecht um ihren Kunden steht. Was aus ihren kranken Kunden wird, erfährt sie in den meisten Fällen nicht, auch wenn sie oft darüber nachdenkt. Manchmal kommen die Ehemänner verstorbener Krebspatientinnen vorbei und wollen die Perücken zurückgeben. Aus hygienischen Gründen geht das nicht. Ruth schickt die Männer dann ins Altenheim, dort freuen sie sich über solche Spenden. Wenn Kundinnen es geschafft haben, Jahre später zur Nachsorge im Klinikum sind und im Salon vorbeischauen, freut sich Ruth mit ihnen.

Ob sie mehr Psychotherapeutin als Friseurin ist, frage ich sie. Ja, antwortet sie. Und gerade deshalb will sie hier nicht weg. Hier kann sie Gutes tun. Sie ist die gute Seele des Salons, sagen ihre Kolleginnen. So wie ihre Chefin Eleonore, die ihr Herz am rechten Fleck trägt und hat Ruth schon viel ermöglicht hat. Ruth durfte mit ihr sogar schon zu Friseurmeisterschaften nach London und Paris reisen, erzählt sie stolz. Viele der kranken Kunden sprechen sich bei Ruth aus, und sie hat immer ein offenes Ohr. Auch auf der Palliativstation hat sie schon oft Haare geschnitten. Aber sie versucht, traurige Geschichten, die sie bei der Arbeit erlebt, nicht mit nach Hause zu nehmen.

Viele Patienten genießen es, wenn sie bei Ruth und ihren Kolleginnen ganz normale Kunden sein können – und die Krankheit nicht im Mittelpunkt steht. Das bestätigt auch Friseurin Marina. Sie erzählt, wie viel den Kranken diese Normalität bedeutet. Kollegin Lilly liebt es besonders, ihre Kunden mit einer duftenden Haarpackung oder einer entspannenden Kopfmassage zu verwöhnen. Wie Ruth wollen auch ihre Kolleginnen den Salon nicht mehr verlassen. Friseurin Wicky zum Beispiel arbeitet schon seit 29 Jahren bei Jumel & Wanner. 

Im Salon ist auch ein kleiner Klamottenladen integriert. Die Aushilfe hat früher als Kellnerin gearbeitet. Jetzt bedient sie Patienten. Manchmal bringt sie den Stammkundinnen sogar eine Auswahl an Kleidern aufs Patientenzimmer, damit sie am Krankenbett shoppen können. „Alles für die Seele“ sagt sie. Gerade wenn man lange im Krankenhaus ist, muss man sich auch mal etwas Schönes gönnen.

Manchmal kommen Kunden vorbei, die sich die Zeit vertreiben müssen, weil ihre Angehörigen gerade operiert werden. Ruth versucht dann sie zu beruhigen. In ihrem weißen Kittel ist sie auch so etwas wie eine Ärztin. Eine für die Seele.

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