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  • Björn-Ole Bast
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  • 11.11.2014

Das Physikum – Horror oder halb so schlimm?

Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier und schon steht das „Physikum“ vor der Tür. Als ob das nicht schon genug wäre, setzt sich das erste Staatsexamen aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil zusammen. Alles über den ersten Meilenstein im Medizinstudium und wie man ihn überwindet.

Physikuk - Foto: Björn-Ole Bast

 

Das erste Staatsexamen, auch Physikum genannt, besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil. Ja du hast richtig gehört, einem mündlichen Teil in den Fächern Anatomie, Biochemie und Physiologie. Falls du es bis jetzt noch nicht gewusst hast, hat in diesem Moment dein Nebennierenmark begonnen, ordentlich Katecholamine abzufeuern. Diese Reaktion ist vollkommen normal, wenn auch unnötig. Angst hat man meist nur vor dem Unbekannten. Also schreibe ich diesen Artikel oder besser gesagt Prüfungsbericht, um Licht ins Dunkel zu bringen. Vorhang auf und Bühne frei.

Lange hat man auf diesen Tag gewartet und ihm mit einer ordentlichen Portion Respekt entgegengefiebert. Das schriftliche Examen liegt schon knappe zwei Wochen zurück. Und Dank der Möglichkeit, seine Lösungen mit „Musterlösungen“ online abzugleichen, fühlt man sich gestärkt und bestätigt, dass man nun auch noch die Mündliche packen müsste. Doch die Zweifel bleiben bestehen.

Anatomie schön und gut, nach einer Vielzahl an zurückliegenden Testaten sollte dieser Abschnitt der Prüfung eigentlich kein Problem sein. Doch was ist mit den Fächern Biochemie und Physiologie? Wie sieht eine orale Examination dort aus? Welches Fach wird bei mir den Vorsitz haben, sprich in welchem Fach bekomme ich noch zusätzlich eine kleine schriftliche Aufgabe gestellt und wer werden meine Prüfer sein? Fragen über Fragen entstehen in meinem Cortex. Selbst so kleine Dinge wie „was muss ich alles zur Prüfung mitbringen und wo muss ich eigentlich zur Prüfung erscheinen?“, sorgen dafür, dass der Cortisolspiegel weiter ansteigt.

 

Alles auf Anfang – vor dem Physikum

Die Tasche ist schon am Vorabend gepackt; gefüllt mit einem strahlend weißen gebügelten Kittel, Taschenrechner, Glückskugelschreiber, reichlich Verpflegung, um den Glucosespiegel aufrecht zu erhalten und Flüssigkeiten zur Hydrierung.
Als morgens der Wecker schellt, ist er da: der Tag der Tage. Wie zu jeder Prüfung mache ich mich per pedes auf den Weg zum anatomischen Institut. Dort findet vor dem Haupteingang (Haupteingang bedeutet vorne, wo es zum Hörsaal der Anatomie geht) das Treffen der Prüflinge statt. Man wartet dort zunächst mit den anderen aufgeregten Kommilitonen, die zur selben Zeit zitternd die Prüfung antreten dürfen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erscheint dann endlich jemand aus dem Geschäftszimmer und lüftet das erste Geheimnis. Nacheinander werden die Prüfungsgruppen aufgerufen und die jeweiligen drei Prüfer genannt. Dabei hat immer das zu erst genannte Fach den Vorsitz.
Wie hätte es auch anders kommen sollen, bekam ich natürlich nicht die Anatomie als vorsitzendes Fach sondern die Physiologie.

 

Startschuss fürs Staatsexamen

Es ist soweit. Das Warten hat ein Ende. Einer der sehr netten Sektionsassistenten geleitet mich zu meinem Prüfungsbereich im Sektionssaal. Es sind noch keine einschüchternden Prüfer anzutreffen und ich habe noch eine letzte Chance, mir einen Überblick über die ausgelegten Präparate zu verschaffen. Zum Glück sind die Prüfungspräparate verdammt gut präpariert und so legt sich ein Teil des angestauten Respekts vor der Prüfung. Ich habe nun zumindest keine Angst mehr, irgendwelche Strukturen nicht erkennen zu können, sofern ich denn weiß, wo sie sich befinden und wie sie heißen.
Aber das Erschreckende ist, dass wirklich alle möglichen Präparate ausgelegt sind – und wenn ich alle sage, dann meine ich auch alle – von Kopf bis Fuß über Wirbelsäule, Neuropräparate, Situs und Co.

Es bleibt jedoch keine Zeit, um sich den Kopf weiter zu zerbrechen. Die Tür fliegt schwungvoll auf und die gut gelaunten Prüfer kommen herein. Plötzlich nehme ich den beruhigenden leicht süßlichen Geruch des Formalins nicht mehr wahr und meine Herzfrequenz steigt nochmals an. Die Spiele können beginnen!

 

Eine ganze besondere Prüfung

In der Regel werden drei bis vier Prüflinge in jedem Fach nacheinander geprüft, sodass man zwischenzeitlich immer ein wenig Zeit (bis zu 45 Minuten) für die schriftliche Aufgabe oder das Zeichnen der Skizzen für den Histologieteil hat. Doch meine Prüfungssituation sollte eine andere sein.

Ich wurde alleine geprüft! Die mir zugelosten Mitprüflinge sind nicht aufgetaucht. Der vorsitzende Professor erklärt mir, dass wir dann aufgrund der Situation einfach ein Fach nach dem anderen durchprüfen – ohne dabei eine Pause einzuplanen. Ich solle aber sagen, wenn ich einen Moment zur Erholung benötigen sollte. Aufgrund der besonderen Situation hätten wir schließlich alle Zeit der Welt.

Es beginnt mit der schriftlichen Aufgabe. Dazu bekomme ich von dem vorsitzenden Prüfer zunächst ein Glas Wasser, um jeglicher Dehydration vorzubeugen und ein kleines, aus dem Praktikum bekanntes Gerät zum Membranpotential. Darauf soll ich die Membranpotentiale für Kalium, für eine Zelle mit einem Kalium und Natrium-Fluss, sowie die Potentialänderungen im Verlauf eines Aktionspotentials des Arbeitsmyokards einstellen und meine Ergebnisse in eine Tabelle eintragen. (Es war also exakt die gleiche Aufgabe, wie sie im Praktikumsskript zu finden ist).

Zuerst war ich geschockt und dachte, ich muss jetzt erst einmal alles ausrechnen. In so einer Prüfungssituation steht man schon mal neben sich. Ich strengte meine grauen Zellen nochmal an, dachte nach und prompt fand ich alle nötigen Werte für die Aufgabe. Mit etwas Logik kombiniert, kann man diese Aufgabe also auch ohne viel Vorwissen zu dem besagten Gerät lösen. Ich hab es schließlich auch geschafft und hatte mir zuvor nichts mehr gewünscht, als eben nicht diese Aufgabe zu bekommen. Die Zeit rennt, Die Zeiger einer Uhr stehen niemals still; wie ein Moment vergeht, so bleibt er bestehen. Der Dozent kommt vorbei, um die Lösung entgegen zu nehmen – Glück gehabt, ich bin gerade so fertig geworden.

 

Biochemie und ich – David gegen Goliath

Weiter geht es direkt mit der Biochemie. Die erste Frage lautet: "Woraus sind Proteine aufgebaut?", ganz klar einer Abfolge von Aminosäuren in unterschiedlichen Kombinationen, Variationen und Strukturen. Es geht weiter mit "Aminosäuren, sehr gut. Malen sie mal eine Aminosäure auf", nichts leichter als das, dachte ich mir und wählte Glycin und damit die einzige nicht chirale Aminosäure, da sie die einfachste zu malen ist. Doch damit war es noch lange nicht getan: "Was für Gruppen an Aminosäuren gibt es und nennen sie jeweils ein paar Beispiele", daraufhin zählte ich ein paar Gruppen auf und lieferte auch die passenden Beispiele, wie beispielsweise basische Aminosäuren – Histidin, Lysin und Arginin. (Mein Merkspruch für die drei war immer Hilde lü(y)gt arglistig in der Basis. Ist vielleicht nicht der beste Spruch der Welt, aber für mich war er super, gerade da er so bescheuert ist). "Wo wir gerade bei basischen Aminosäuren sind, welche Aufgabe haben diese bei der Auflockerung der DNA? Was sind Histone und was machen diese? Welche Formen gibt es? Welche Strukturen des Zellskeletts spielen bei der Mitose eine Rolle und wie sind diese aufgebaut?“ Alles in allem konnte ich feststellen, dass sich durch die gesamte Prüfung ein roter Faden zieht und, dass der Dozent gerne die Antworten von einem zur Erstellung der nächsten Frage nutzt. Also passe gut auf, was du antwortest und versuche dich nicht selbst in eine Sackgasse mit Wissenslücke zu manövrieren, weil du meinst, noch ein besonders schlau klingendes Wort fallen zu lassen, dass du dann gar nicht erklären kannst.

Zu guter Letzt bekomme ich dann doch noch eine vollkommen aus dem Zusammenhang gerissene Frage: "Erklären Sie mir den Rezeptormechanismus von Interleukinen.". Gut, dass ich mir am Morgen des Prüfungstages noch den Wikipedia-Artikel zu IL-6 und gp130 durchgelesen habe. Dieses Themengebiet ist nämlich die Spezialität der Kieler Biochemiker und so konnte ich die Frage auch mit dem Hinweis auf Janus-Kinasen (JAK – STAT) beantworten.

Der Einstieg ist geschafft und ich fühle mich deutlich besser, als je zuvor erwartet, fast schon erleichtert, wenn auch noch etwas angespannt. Wenn ich etwas nicht wusste, dann wurde die Frage nochmal umformuliert oder ein Hinweis gegeben. Einmal musste ich gänzlich passen, da wurde dann auch nicht weiter nachgefragt und die nächste Frage gestellt. Keiner erwartet von einem, dass die Antworten wie aus der Pistole geschossen kommen. Einiges habe ich mir hergeleitet und bin dann erst über Umwege zum Ziel gekommen. Doch das fanden die Prüfer gut, denn so habe ich gezeigt, dass ich auch die Zusammenhänge verstanden habe.

 

Anatomie – Meine Westentasche

Weiter geht es direkt mit der Anatomie. Wäre da nicht das Problem, die Handschuhe über die Finger zu bekommen – bei meiner Sympathikus-Aktivität waren die Finger ganz schön vom Schweiß getränkt. Nun kommt es auf das richtige Präparat an, geht es in meinem Kopf immer auf und ab, was nicht unbedingt dabei hilft die Sympathikusaktivität herabzusetzen.
Glück gehabt! Der Dozent geht zum Tisch mit dem Arm- und Beinpräparat. "Erklären Sie mir die Adduktorengruppe mit der Innervation". Wieder einmal lege ich los und zähle, noch beim verzweifelten Versuch die Finger weiter in den zweiten Handschuh zu bekommen, die Besonderheiten der Innervation auf. Nämlich, dass der M. pectineus vom N. femoralis und vom N. obturatorius innerviert wird und der M. adductor magnus vom N. tibialis und N. obturatorius. Alle anderen Muskeln der Adduktorenloge werden rein vom N. obturatorius versorgt.

Als ich damit fertig bin, bedeckt endlich auch der zweite Handschuh meine ganze Hand und prompt kommt die nächste Frage: "Welche klinischen Zeichen gibt es bei der Obturatoriusläsion und was kann dafür die Ursache im RM oder Skelettsystem sein?". Mir fällt im ersten Moment nur der Ausfall eines handtellergroßen Areals auf der medialen Seite des Kniegelenks ein. Mit etwas Hilfestellung komme ich dann noch auf das typische Gangbild des Seemannsganges und, dass eine mögliche Ursache dafür eine Beckenringfraktur mit eventueller Kallusbildung, die den Nerven beeinträchtigt, sein kann. Abschließend zum Bein werde ich noch gefragt, was mir zur Pes anserinus superficialis einfalle und, ob es auch eine Pes anserinus profundus gebe.

Doch damit nicht genug. Wir wechseln das Präparat und nehmen uns einen Kopf vor. Sehr gut, denke ich mir. Der Kopfkurs liegt noch nicht so lange zurück, da dürfte ich theoretisch keine Probleme haben. Zu früh gefreut. Die Frage lautet: "Was ist der Proc. uncinatus?" Ich stehe hier total auf dem Schlauch und verwechsle diesen erst einmal mit den Unkovertebralgelenken. Doch fällt mir der Fehler noch selber auf und ich ziehe die Antwort schnell genug zurück. Das hilft mir allerdings auch nicht. Ich komme einfach nicht auf die richtige Lösung. Der Dozent gibt mir noch einige Tipps, doch will die Lösung einfach nicht in meinem Cranium auftauchen. Da hat die Langzeitpotentierung wohl nicht so gut funktioniert. Mittlerweile weiß ich, dass es sich dabei um eine dünne, hakenförmig gekrümmte Knochenlamelle, die vom anterioren Anteil der Seitenfläche des Siebbeinlabyrinths nach kaudal und dorsal zieht, handelt.

 

Histo – Hot or Not?

Makroskopisch bin ich damit durch und wir widmen uns den Histopräparaten zu. Hier werde ich nur oberflächliche Dinge, wie Färbung, Organdiagnose und grobe Strukturen abgeprüft. Ich erhalte einen Schnitt durch die Niere und einen durch das Duodenum. Jackpot! Beide sind in HE gefärbt und mir dank der Virtuellen Mikroskopie des anatomischen Institutes in Kiel bestens bekannt. Die einzige Frage, die etwas in die Tiefe geht lautet: "Wie ist der Glomerulus aufgebaut?“ Ich beginne mit der Aufzählung der Schichten und der Beschreibung des Schlitzdiaphragmas mit den Komponenten Nephrin, P-Cadherin, interdigitierenden Füßen der Podozyten usw., bis mir der Prüfer symbolisiert, dass es ihm genüge.

Schon wieder verging die Zeit wie im Fluge und ich bitte um eine kurze Pause, bevor ich von dem Physiologen noch ein letztes Mal gelöchert werde. Es sei kein Problem und ich solle mir Zeit lassen. Während ich etwas esse, unterhalten wir uns über einen gerade neu entdeckten Mechanismus in der Niere und die Atmosphäre wird immer entspannter. Auch wenn ich meine Leistung bis dahin überhaupt nicht einschätzen kann, fühle ich mich gänzlich wohl in der Runde.

 

Physiologie – weiter geht’s

Gestärkt geht es auf die Zielgerade. Der Physiologe setzt direkt an die schriftliche Aufgabe an, die ich zuvor in seinem Fach erfolgreich bearbeitet habe. Er befragt mich weiter zu den einzelnen Kanälen und dem Aktionspotential, das ich ihm von vorne nach hinten durcherklären darf. Ich stelle noch den Vergleich zu dem Aktionspotential des Myokards auf (Plateauphase durch Calcium-Einstrom) und werde von ihm gefragt, was die Refraktärzeit sei. Die Zeit ist schon wieder fast um. Die Prüfung endet mit einer Frage zum Atemwegswiderstand und der Wirkung des Sympathikus an der Lunge. An mehr kann ich mich leider nicht mehr erinnern.

Es ist vollbracht. Doch der schlimmste Moment soll noch kommen. Die Prüfer bitten mich heraus, um sich in Ruhe zu besprechen. Und das ohne mich auch nur in irgendeiner Weise wissen zu lassen, dass ich bestanden habe und es nun nur noch um meine Note geht.
Da ich alleine geprüft wurde, muss ich nun auch alleine vor der Tür warten, was die Zeit noch langsamer erscheinen lässt. Schon verrückt; bis eben ist die Zeit vergleichbar mit der Innervation einer A-Faser davongerannt und nun beginnt sie mit der Geschwindigkeit einer C-Faser zu schleichen. Ich verbrenne weitere unzählige Kalorien, bis endlich die Tür aufgeht und mich der vorsitzende Dozent mit einem freudigen Lächeln wieder hinein bittet. Ich bekomme das erfreuliche Ergebnis mitgeteilt und von da an ist mein Gehirn absolut refraktär und alles an Wissen gefühlt vergessen – das Kurzzeitgedächtnis gelöscht. Die Vorklinik ist damit geschafft. Was für ein unbegreifliches Gefühl!

 

Fazit zum Physikum

Die Professoren haben mir ein sehr gutes Gefühl in der Prüfung gegeben und mich immer wieder in meinen richtigen Antworten bestätigt. Alles in allem kann ich nur sagen, dass das mündliche Physikum viel entspannter ist, als man es vorher denkt. Ich fühlte mich wohl und wie schon erwähnt, sind sich auch die meisten Prüfer darüber im Klaren, dass man nicht alles Wissen kann. Gefragt wird immer vom Groben zum Feinen, sodass man in der Regel mit einem Erfolgserlebnis in jedes Prüfungsthema einsteigen kann.

Wenn man erst einmal das schriftliche Examen hinter sich gebracht hat, dann sollte der mündliche Abschnitt auch kein Problem darstellen. Hilfreich ist es auf jeden Fall, sich vorher noch einmal mit den Praktikumsskripten der Physiologie und der Biochemie zu beschäftigen. Manch ein Biochemiker mag auch gerne die Frage stellen, was denn das Thema am ersten Praktikumstag gewesen sei – korrekt wäre die Einweisung in Datenbanken, computergestützte Erstellung von Primern und Erhalt eines Überblickes über Interleukin-6 und seinen Rezeptor gp-130. Außerdem kann es sehr sinnvoll sein, sich einmal grob über die Forschungsgebiete der Kieler Institute zu informieren.

Mitzubringen hat man eigentlich nur einen klaren Kopf, Personalausweis o.ä. mit Prüfungsladung, einen Kittel (am besten gebügelt; macht immer einen besseren Eindruck) und bei Bedarf einen kleinen Snack, um die Kohlenhydratspeicher nicht gänzlich aufzubrauchen. Wasser, Stifte, Papier, Radiergummis und Handschuhe werden gestellt. So war es zumindest bisher immer.

In diesem Sinne wünsche ich allen kommenden Prüflingen viel Erfolg. Ihr schafft das, müsst nur an euch glauben und dürft den Teufel nicht an die Wand malen. Danach fühlt man sich auf jeden Fall unbeschreiblich großartig und erleichtert.

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