Zurück zu Kiel
  • Bericht
  • |
  • Björn-Ole Bast
  • |
  • 07.10.2014

Ein einschneidendes Erlebnis – das erste Mal präppen

Klar, zum Medizinstudium gehört es dazu, an Leichen zu lernen. Doch wenn es dann endlich soweit ist, schlackern einem die Beine. Björn-Ole erzählt, wie er sich im Präpsaal fühlte.

 

Leiche - Foto: Photographee.eu/Fotolia.com

Viele Medizinstudenten haben Bammel vor dem Präpkurs - Foto: Photographee.eu/Fotolia

 

Jeder von uns wird irgendwann sterben. Trotzdem ist der Tod ein Thema, das immer verdrängt wird. Doch gerade für uns zukünftigen Ärzte ist es wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Schließlich begegnet einem der Tod in diesem Job immer wieder und man sollte gut darauf vorbereitet sein, wenn ein Patient stirbt und Angehörige Fragen stellen.

 

Das erste Mal

In Kiel werden wir Medizinstudenten an dieses Thema langsam und bedacht herangeführt. Alles beginnt bereits im ersten Semester mit den Seminaren zum Bewegungsapparat. Dort berührt man als Student zum ersten Mal die Extremitäten einer Leiche, um an ihr die Bänder, Knochen und Gelenke des menschlichen Körpers zu studieren.
In den ersten Tagen hatte ich noch ein komisches, unangenehmes, vielleicht sogar befremdliches Gefühl – wieder zu Hause hatte ich dann das dringliche Bedürfnis ausgiebig zu duschen, um alles von mir abzuwaschen. Nach einigen Tagen legen sich diese Gefühlsregungen jedoch und ich begann damit, die Körperteile als eine Art Arbeitsgerät zu betrachten. So raten es einem auch die Professoren, um Abstand zu gewinnen.

Im zweiten Semester folgt der Kurs zur Neuroanatomie. Es werden erstmals selbstständig Schnitte vorgenommen und Gehirne präpariert. Ohne Vorankündigung liegt am zweiten Kurstag ein abgetrennter Kopf einer selig schauenden Frau auf dem Tisch. Da war es wieder, dieses befremdliche Gefühl des ersten Semesters: Ich will wieder duschen, stelle mir unzählige Fragen nach dem Leben des vor einem liegenden Menschen, sehe den Kopf immer wieder vor mir. So auch gerade in diesem Moment, in dem ich von dieser Erfahrung berichte. Letztendlich kehrt der wissenschaftliche Gedanke zurück und ich bin einfach dankbar, dass ich diese Möglichkeit habe, die Anatomie an einem Körperspender zu studieren. Bemerkenswert, dass es Menschen wie diese Dame gibt, die mit sich das letzte Spenden, was sie noch haben und sich somit im wahrsten Sinne des Wortes in die Hände der Wissenschaft und der Studenten legen.

 

Der Präpkurs

Nach diesem prägenden Kontakt mit einem Kopf, stellte ich mir nun die Frage, ob es mit dem Beginn des Präparationskurses noch intensiver wird, wenn man auf einmal einen ganzen Körper vor sich liegen hat.
Schon im Vorfeld keimen immer mehr Fragen in mir auf. Wer waren diese Menschen? Woran sind sie gestorben? Hatten sie Schmerzen oder mussten sie leiden? Warum haben sie sich uns zur Verfügung gestellt? Waren die Angehörigen damit einverstanden? Hatten sie überhaupt Angehörige? Gibt es eine Seele? Schaut mir diese womöglich in diesem Moment über die Schulter, wie ich ihren leblosen Körper präpariere? Was sagt Gott dazu, dass ich einen Menschen präpariere? Wo ist die Grenze zwischen Wissenschaft und Leichenschändung? Ist nach dem Tod wirklich alles vorbei? Gibt es eine Wiedergeburt? Existiert ein Paradies und wenn ja, wie sieht es dort aus? Waren diese Menschen glücklich? Wie fühlt es sich an zu sterben?
Der Kursleiter versichert uns Studenten, dass wir nach dem Kurs ein anderer Mensch sein werden. Diese Aussage und die Tatsache, dass wir parallel zum Kursus eine ethische Betreuung durch die Pastorin der Universität erhalten, lassen darauf schließen, dass die bevorstehenden Erfahrungen die bisherigen noch übertreffen werden.

Und schon ist er da der „große“ Tag, nach einer nahezu schlaflosen Nacht stehe ich auf und blicke dem ins Auge, was da kommen mag. Der Sektionskurs beginnt. Sechs Wochen pure Anatomie. Morgens Vorlesung und angeleitete Präparation. Nachmittags freie Präparation, freies Studieren und manchmal eine ergänzende Vorlesung zu klinischen Themen in Kooperation mit dem Universitäts-Klinikum. Alles in allem beginnt eine sehr intensive Zeit, die ich mit Worten eigentlich nicht so recht beschreiben kann.

Nach der Einführungsvorlesung geht es auf in den Saal. Überall liegen die Körperspender auf den Sektionstischen. Noch sind sie abgedeckt. Eine angespannte Stille liegt im Raum. Ich fühle mich unwohl aber auch erfüllt von Ehre, dass mir dieses Privileg und diese Möglichkeit gegeben wird, die menschliche Anatomie regelrecht zu „begreifen“. Mein Kopf ist voll und ich frage mich, ob dieses befremdliche Gefühl und der unwiderstehliche Drang nach einer ausgiebigen Dusche wieder in mir aufkeimen werden.

Kurze Zeit später öffnet sich die Tür und die Gemeinschaft der Dozenten betritt den Saal. Gemeinsam wollen wir die Körperspender aufdecken und uns zunächst einen Überblick über die Person und den Menschen machen. Denn erstens gehört das zu einer Anamnese dazu und zweitens hat das jeder dieser Menschen verdient.
So decken auch meine Kommilitonen und ich unseren Körperspender auf und beginnen mit der ersten Inspektion. Ein friedlich schauender Mann in hohem Alter liegt dort selig aufgebahrt vor uns.

 

The first cut is the deepest

Nach einem ersten Moment der Ehrfurcht überwiegt die Neugier. Ich traue mich den Körper zu berühren und noch genauer zu betrachten, bevor es plötzlich darum geht den ersten Schnitt zu setzen. Niemand an meinem Tisch will diesen einschneidenden Schritt wagen, bis ich schließlich zum Skalpell greife und mir, unter der Anleitung unseres Tischmentors, dieser Teil zu Ehre wird.

Der Präparationskurs hat begonnen. Innerhalb der nächsten Tage und Wochen studieren wir Stück für Stück die Anatomie von Rumpf, Situs und Extremitäten und steigen dabei immer tiefer in das Fach ein. Von Tag zu Tag vergesse ich mehr, dass ich dies an einem „echten“ Menschen tue, ohne dabei jedoch den Respekt zu verlieren. Der anfangs noch beißende, den Nervus trigeminus reizende Geruch des Formalins, fällt mir gar nicht mehr auf. Erst wieder zu Hause angekommen, bemerke ich wieder dieses nun süßliche Aroma, das ich gefühlt bis heute nicht aus dem einen oder anderen Shirt herausbekommen habe. Der Drang, direkt nach der Heimkehr zu Duschen, bleibt bestehen. Man fühlt sich zu Beginn wieder in gewisser Weise beschmutzt von der vollführten Tat und möchte diesen imaginären Schmutz und den Geruch der Fixierlösung abbrausen.

Mit der Zeit nimmt das Gefühl des beschmutzt seins ab und ich möchte nur noch duschen, um den Geruch von Haut und Haaren abzuwaschen. Wobei auch dies Gefühl immer mehr abebbt. Es kehrt ein gewisser Alltag ein und alles erscheint plötzlich so normal, obwohl es genau das Gegenteil von normal ist.

Der Kopf raucht, die Zeit rennt, ein Testat schließt sich an das nächste an, viele ernähren sich nur noch vegetarisch – die Fleischeslust ist ihnen vergangen. Und schon sind die sechs Wochen um. Alles wirkt noch immer absolut surreal und ich kann einfach nicht verstehen, was da in der letzten Zeit geschehen ist. Vielleicht begreife ich das nach dem nächsten, letzten und vermutlich intensivsten Kurs – dem Kopfkurs, der im vierten Semester die Anatomie abschließt.

Allein bei dem Gedanken daran, dass wir im kommenden Kurs sämtliche Strukturen an einem Kopf herauspräparieren werden, löst wieder ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Doch als immer enger zusammen gewachsenes „Präpteam“ von unserem Tisch, werden wir auch diese Erfahrung gemeinsam meistern. Davon bin ich überzeugt.

So sollte es dann auch sein. Wobei ich schon zugeben muss, dass es ein besonders hohes Maß an Überwindung kostet, das Orbitadach mit einer Säge zu entfernen oder mit Hammer und Meißel die Paukenhöhle und die Bogengänge freizulegen. Wie im Kurs zuvor, fliegt auch der Kopfkurs an mir vorbei. Auf einmal ist alles zu Ende und so richtig begreifen kann ich das Erlebte bis heute nicht. Was sicherlich eine Art Protektivfaktor ist.

Durch diese auf vielerlei Art und Weise intensive Zeit, ist das gesamte Semester unter Anleitung eines ganz bestimmten Dozenten mit dem Leitmotto „The first cut is the deepest“ von Sheryl Crow, um ein vielfaches enger zusammengewachsen. So wird dieses Lied einen jeden von uns vermutlich auf Lebzeiten an diese Erfahrung erinnern und uns immer wieder in Ehrfurcht erzittern lassen.

Wie jedes Jahr organisieren auch wir im Anschluss an den letzten Abschnitt des Kurses eine Gedenkfeier in der Universitätskirche mit einem anschließenden „Come-together“ zwischen uns Studenten und den Angehörigen. Diese eindrucksvolle Veranstaltung rundet den Kurs für uns ab.

Im Kontakt mit den Angehörigen haben wir die Chance, mehr über die Körperspender zu erfahren und diese wieder als Menschen und als Person zu sehen. Zugleich bieten wir den Trauernden die Möglichkeit abzuschließen, Fragen zu stellen, die ihnen auf dem Herzen liegen und uns, die wir ihre Liebsten auf der letzten Reise begleitet haben, kennenzulernen.

Alles in allem hat erst diese Veranstaltung dazu beigetragen, dass ich langsam beginne, das Erlebte zu verstehen. Eine Erfahrung die man einzig und allein mit anderen Medizin- und Zahnmedizinstudenten teilt. Eine Erfahrung, die man, wie ich schon erwähnte, nicht in Worte fassen kann. Eine Erfahrung, die jeder Student vielleicht anders erlebt und die jeder für sich erleben muss.

Mein Dank gilt allen Körperspenderinnen und Körperspendern, die sich der hochschulischen Ausbildung und der Forschung zur Verfügung stellen. Ohne diese bemerkenswerten Menschen wäre die Anatomie im Studium nicht so anschaulich und der wissenschaftliche Fortschritt verlangsamt. Man kann aus einem Buch vieles lernen, doch richtig Begreifen kann man es erst, wenn man es sich mit seinen eigenen Händen erarbeitet hat.

„Mortui vivos docent“ – „Die Toten lehren die Lebenden“

 

Mehr zum Thema

Artikel: Weihnachten als Medizinstudent*in - Eine Anleitung zum „Überleben“

Interview: Es ging mir immer um den guten Umgang mit Menschen

Artikel: Studienplatz- und nun?

Schlagworte