Zurück zu Heidelberg
  • Bericht
  • |
  • Franziska Ippen
  • |
  • 29.10.2013

Meine Famulatur in Boston

Amerika – das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Für Lokalredakteurin Franziska Ippen ging mit einer dreimonatigen Famulatur in der Neurochirurgie an einem Teaching Hospital der Harvard Medical School ein Traum in Erfüllung. Welche Erfahrungen sie in Boston machte und warum die Stadt auch sonst immer eine Reise wert ist, erzählt sie euch hier.

Warum wollte ich nach Amerika? Meine Gründe dafür waren vielfältig. Der einfachste davon: Ich war noch nie dort und wollte das Land kennenlernen. Ich habe Verwandtschaft vor Ort, die ich noch nie besucht habe – und last but not least: Es war immer mein Traum, einen Teil meiner Ausbildung an einem der Teaching Hospitals der Harvard Medical School zu verbringen. Boston hat mich schon immer fasziniert, da die Stadt so viel zu bieten hat. Allein hinsichtlich ihrer Historie hat jeder von ihr gehört, beispielsweise durch die Boston Tea Party. Und dank dem MIT, Harvard oder die Tufts University ist sie auch in wissenschaftlichen Kreisen bekannt. Auch die Landschaft begeisterte mich – allein schon durch die fabelhafte Lage direkt an der Ostküste. Medizinisch gesehen wollte ich vor allem endlich wissen, was die im Ranking der besten medizinischen Fakultäten weltweit konstant auf Platz 1 bleibende Harvard Medical School anders macht als die anderen –  und was ich dort an Erfahrungen fürs Leben sammeln kann.

 

Das Krankenhaus

Das Beth Israel Deaconess Medical Center entstand 1996 aus der Fusion des 1916 gegründeten Beth Israel Hospitals und des 1896 gegründeten New England Deaconess Hospitals. Der Komplex ist in der Longwood Medical Area gelegen, in der sich unter anderem auch die Harvard Medical School selbst, das Brigham and Women’s Hospital, das Dana Farber Cancer Research Institute und das Joslin Diabetes Center befinden.

Im Jahr 2003 wurde die Klinik zudem „official hospital“ der Boston Red Sox, die gleich in unmittelbarer Nähe zum Krankenhaus im Fenway Park lokalisiert sind.

 

Der Ablauf der Famulatur

Die Organisation meines Aufenthalts im Krankenhaus war von Anfang an sehr gut geplant. Gleich am ersten Tag erhielt ich von dem für mich verantwortlichen Neurochirurgen einen Stundenplan mit den interessantesten Dingen, die ich gesehen und erlebt haben sollte.

Montags startete der Tag mit der „Brain Tumor Conference“, einer interdisziplinären Veranstaltung, zu der sich regelmäßig Ärzte verschiedener Fachgebiete treffen, um die Therapiemöglichkeiten der einzelnen Patienten mit Hirntumoren oder -metastasen zu diskutieren. Von Neurologen über Neurochirurgen hin zu Radioonkologen und Neuropathologen sind alle Experten rund um das zentrale Nervensystem vertreten, um für die Patienten die beste Therapieoption zu finden.

Dienstags war „Clinics“-Tag, was so viel bedeutet wie Ambulanz. Neue Patienten, die aus externen Krankenhäusern oder von ihren „local physicians“ überwiesen wurden, werden voruntersucht und MRTs und CTs werden beurteilt. Am Ende wird die Entscheidung getroffen, ob eine OP sinnvoll ist oder nicht.

Mittwochs und donnerstags waren in der Regel die reinen OP-Tage, an denen ich mich fast ausschließlich im OP bewegt habe. Je nach Eingriff war es aber auch möglich, sich andere Fachgebiete anzusehen, zum Beispiel bei der Entnahme eines Tumors. Hierbei konnte ich mit den Pathologen zur Schnellschnittdiagnostik, bei der mir die Neuropathologen sämtliche Färbungsmethoden für die Verdachtsdiagnose und die einzelnen Charakteristika des Tumors erklärten, die letztendlich zur Diagnose führten. Diese Diagnose bestimmt wiederum das operative Vorgehen des Neurochirurgen, was ich danach wieder im OP erleben durfte. Transnasale Eingriffe werden am Beth Israel Deaconess Medical Center traditionell mit den ENT-Surgeons (Hals-Nasen-Ohren Ärzten) durchgeführt, die mir auch jederzeit bereitwillig die einzelnen Leitstrukturen für den Eingriff und ihr genaues Vorgehen näherbrachten.

Der Freitag war immer variabel – je nachdem, was gerade zu tun war. Das konnte ein Notfall sein oder eine Revisions-OP, Zusatzveranstaltungen wie Neuropathologische Konferenzen oder klinikinterne Vorträge.

An allen Tagen konnte ich, je nach persönlichem Zeitplan, mit den Physician Assistants (PAs) und Nurse Practitioners (NPs) die Patienten vorvisitieren, die hinterher den zuständigen Chirurgen vorgestellt wurden. Besprochene Fälle wurden vor- und nachbereitet, und dank meines Mitarbeiterausweises stand mir dazu auch die Bibliothek der Harvard Medical School, die Countway Library, offen. An Vorträgen, Konferenzen oder sonstigen Veranstaltungen des Krankenhauses konnte ich immer ohne Probleme teilnehmen und so auch über die Famulatur hinaus mein Wissen erweitern und einen Einblick in angrenzende Fachgebiete bekommen.

Zudem bekam ich meinen eigenen Schreibtisch in einem Büro, das ich mir mit einem der Research Fellows teilte. Ein Luxus, den ich aus Deutschland nun zunächst gar nicht gewohnt war und darum umso mehr zu schätzen wusste.

 

Berufsgruppen, die ich vorher nicht kannte

Abgesehen davon, dass das medizinische Bildungssystem in den USA sich deutlich vom deutschen System unterscheidet, gab es auch einige Berufsgruppen, die mir bis dato völlig unbekannt waren, beispielsweise „Nurse Practitioners (NPs)“ und „Physician Assistants (PAs)“. Beides sind Berufe, die sich zwischen dem des Pflegers und des Arztes bewegen.  NPs und PAs dürfen genauso Anamnese erheben, Untersuchungen durchführen, Medikamente verordnen, Bildgebung und Labor anordnen sowie Diagnosen stellen. PAs nehmen dabei eine Sonderstellung ein. Sie dürfen sogar kleinere Operationen selbst durchführen, sowie bei größeren Eingriffen im OP assistieren. Diese Berufsgruppen übernehmen zum großen Teil den Aufgabenbereich, den sonst „residents“ (Assistenzärzte) erfüllen.

 

Die Unterschiede zu Deutschland

Lehre nimmt definitiv einen anderen Stellenwert ein als in Deutschland. Die Professoren nehmen sich mehr Zeit für Studenten, um alles in Ruhe zu erklären und scheinen sich über jede interessierte Frage und jeden Teilnehmer in Konferenz oder OP zu freuen. Ich habe in meiner Zeit in Boston nicht einen einzigen unfreundlichen Arzt erlebt. Das mag durch die Mentalität bedingt sein, die von vielen auch als oberflächlich bezeichnet wird, dennoch: Freundlich sein ist doch ein Anfang, und ein Student fühlt sich in der Klinik auf diese Weise sofort willkommen.

Was mich allerdings schockiert hat, sind die Kosten für das US-amerikanische Bildungssystem. Ein Medizinstudent ohne reiche Eltern und Stipendium wird nach seinem Abschluss an der Harvard Medical School rund eine Viertelmillion Dollar Schulden haben. Ein großer Berg, mit dem man sicher nicht leicht ins Berufsleben startet.

 

Boston und Umgebung

Alles, was ich über Boston vorher gelesen hatte, war nicht zu viel versprochen. Die Stadt ist unglaublich lebenswert, vor allem im Sommer. Man kann nahezu alles zu Fuß erreichen und lernt auf diese Weise die Stadt besser kennen. Dadurch, dass Boston eine sehr hohe Universitätsdichte hat, lernt man viele junge Leute kennen, besonders Anfang August, wenn die „Freshmen“ (Erstsemester) ankommen. Dann gleicht besonders der Stadtteil Cambridge einer einzigen Erstsemesterparty. Studenten laufen mit ihrer Tuba musizierend durch die Straßen, bis andere sich mit ihren Instrumenten anschließen. Andere bieten zum Spaß Massagen für einen Dollar je fünf Minuten auf der Straße an. Man sieht die verrücktesten Dinge und lernt eine Menge interessanter Menschen kennen. Auch kulturell hat Boston viel zu bieten. Mit dem Angebot „Shakespeare on the Common“ kann man sich im Sommer jeden Mittwoch kostenlos unter freiem Himmel ein Schauspiel von Shakespeare ansehen. Es macht auch Sinn, sich regelmäßig über aktuelle Veranstaltungen zu informieren. So konnte ich zum Beispiel mir ein Open-Air-Konzert von Panic at the Disco und ein Comedyprogramm im Wilbur Theatre kostenlos ansehen. Manche Segelschulen bieten zudem kostenlose Schnupperangebote für Gruppen auf dem Charles River oder dem Atlantik an, was man auf jeden Fall erlebt haben sollte. Museumsbesuche wie für das Museum of Fine Arts (MfA) sind gegen Vorlage eines gültigen Studentenausweises ebenfalls kostenfrei.

Natürlich sollte man auch ein wenig typisch US-amerikanischen Sport gesehen haben. Dazu besuchte ich einige Spiele des Bostoner Baseballteams „Boston Red Sox“. Mein großer Vorteil dabei war, dass das Beth Israel Deaconess Medical Center gleichzeitig das „official hospital“ der Boston Red Sox ist, und so bekommen Krankenhausmitarbeiter übrig gebliebene Tickets nach Spielbeginn für fünf Dollar pro Stück. Allein schon wegen der Atmosphäre lohnt es sich dorthin zu gehen. Vor allem, weil man es von anderen Sportarten überhaupt nicht gewohnt ist, dass Fans gegnerischer Mannschaften friedlich nebeneinandersitzen können, ohne dass die Situation eskaliert.

Um zwischendurch zur Ruhe zu kommen, ist der Boston Public Garden besonders gut geeignet, aber auch der Harvard Yard, in dem man sich an einem warmen Sommerabend auf eine der vielen Sitzgelegenheiten auf der Wiese setzen kann, um den Abend gemütlich ausklingen zu lassen.

Beliebte Ausflugsziele zum Strand wie Cape Cod und Rockport sind ebenfalls absolut sehenswert. Wer mehr Action möchte, ist mit dem Bus in ca. 3-4 Stunden in New York, wo ich eine Woche verbrachte. Diese Stadt ist ein Erlebnis für sich und aus meiner Sicht mit keiner anderen Großstadt auf der Welt vergleichbar. Weitere, leicht erreichbare Ausflugsziele von Boston aus sind Washington D.C. oder Montréal.

 

Fazit

Ich hatte einen fabelhaften Sommer in Boston. Ich habe viel gelernt und konnte in der Klinik dank der sehr guten Betreuung viele wertvolle Erfahrungen sammeln, habe viele nette und interessante Menschen kennengelernt, meine Verwandten wiedergesehen und einige Städte erkundet. Das alles hat bei mir den Wunsch bekräftigt, für einen Abschnitt meines Medizinerlebens nochmals dorthin zu gehen. Vielen herzlichen Dank daher an alle, die diesen Aufenthalt ermöglicht, gefördert und für mich so wertvoll gemacht haben. Ich war bestimmt nicht zum letzten Mal dort.

Mehr zum Thema

Artikel: Meine Tutorinnenstelle in der Allgemeinmedizin

Artikel: Mein liebstes Vorklinikfach - Anatomie am Lebenden

Artikel: Warum du in Heidelberg Medizin studieren solltest