Zurück zu Hannover
  • Artikel
  • |
  • Annika Simon
  • |
  • 09.08.2016

Wege aus der Sucht: Erste Hilfe für Alkoholiker

Über 1,7 Millionen Deutsche gelten derzeit als alkoholabhängig – mit dramatischen Folgen für Lebensqualität und Gesundheit. Betroffene haben ein hohes Risiko für Krebserkrankungen und den sozialen Abstieg. Doch wie kann man den Zerfall durch Schnaps und Co. stoppen? Der Hausarzt oder eine qualifizierte Entgiftungsbehandlung bieten erste Hilfe aus der Sucht.

© Dmitry-Fotolia.com

Unfall mit Folgen

Für den Griff zur Flasche kann es viele Gründe geben: Die Frau ist weg, der Job ist scheiße oder der Stress nimmt einfach überhand. Der ganze Kummer lässt sich dann prima mit ein paar Bier „ertränken“. Das geht aber nur so lange gut, bis das Trinken zur Gewohnheit wird.

So wie bei Günter. Am Anfang stand ein schwerer Verkehrsunfall. Ein übernächtigter LKW-Fahrer übersah auf der berüchtigten A2 ein Stauende und presste Günters Kleinwagen gegen einen Schwertransporter. Es folgten eine stundenlange Rettungsaktion, fünf Operationen und eine einjährige Rehabilitationsbehandlung. Danach saß Günter im Rollstuhl und konnte seinen Beruf als Dachdecker nicht mehr länger ausüben.

Wiedereingliederungsversuche missglückten, seine Frau trennte sich und schließlich musste Günter auch noch das gemeinsame Reihenhaus verkaufen. Da saß er nun auf einem gebrauch-ten Sofa, fühlte sich ohnmächtig nach so vielen ungerechten Schicksalsschlägen und öffnete eine große Flasche Rotwein.

Gefangen im Teufelskreis

Die ersten Wochen konnte Günter das Trinken noch gut geheim halten und legte regelmäßige „trockene“ Tage ein. Doch mit der Zeit entwickelte sich ein regelrechter Teufelskreis. Auf allen Ebenen – finanziell und privat – ging es bergab, sodass die abendlichen Besäufnisse am Kiosk oder auf dem Sofa immer attraktiver und vom Ausmaß immer heftiger wurden. Ein paar Flaschen Wein war die Welt schien wieder in Ordnung, der Kopf wurde so schön leer und Günter war wieder gut drauf.

Leider hielt die positive Wirkung allenfalls bis zum nächsten Morgen. Nach dem Aufstehen – meist erst gegen Mittag - folgte die Ernüchterung: Anfangs waren es nur Kopfschmerzen, wenige Monate später kamen dann Tremor, Gedächtnislücken und morgendliches Erbrechen dazu. Günter kurierte die Entzugserscheinungen mit ein paar „Kurzen“, um wieder fit für den nächsten Gang zum Supermarkt zu sein.

In klaren Momenten war ihm durchaus bewusst, dass er mittlerweile ein Alkoholproblem hat-te. Aber da war es schon zu spät. Er schaffte es nicht einmal einen Tag ohne mindestens zwei große Flaschen Rotwein. So konnte es nicht weiter gehen. Schließlich wollte er eigentlich sein altes Leben, seine Frau und die gemeinsame Tochter zurück gewinnen. Er nahm allen Mut zusammen und ging zu seinem Hausarzt.

Erste Hilfe beim Hausarzt

Der erste Schritt aus einer Suchterkrankung ist immer die Selbsterkenntnis: „Ich bin krank, ich brauche Hilfe!“. Wer nicht sicher ist, ob sein Trinkverhalten noch normal ist oder schon aus dem Rahmen fällt, kann als Orientierung den sogenannten CAGE-Fragebogen zur Hilfe nehmen (siehe Link). Das Kürzel „CAGE“ steht dabei für die englischen Begriffe cut down, annoyed, guilty und eye opener, die jeweils den Inhalt einer der vier Screeningfragen zusam-menfassen.

Die vier Fragen können dabei entweder mit Ja oder Nein beantwortet werden. Entscheidet sich der Getestete zweimal für ein Ja, liegt die Wahrscheinlichkeit für bestehende Alkoholp-robleme bei über 60 Prozent. Da man die vier Fragen auch gut in ein Anamnesegespräch ein-binden kann, eignet sich der beschriebene CAGE-Fragebogen auch für die allgemeinmedizi-nische Praxis.

Das Wissen um bedenklichen Alkoholkonsum eines Patienten ist nicht nur hinsichtlich der Erklärung von Symptomen oder der Auswahl von Medikamenten relevant. Der Hausarzt kann auch Hilfe anbieten und den Patienten allein durch das Ansprechen der Suchtproblematik ent-asten. Daneben nimmt der Mediziner auch eine wichtige Rolle als Kontaktvermittler ein und kann seinen Patienten mit Informationsbroschüren geeigneter Selbsthilfegruppen versorgen oder ihn bei bedrohlichen Entzugserscheinungen oder Wahnvorstellungen in eine Klinik einweisen.

Qualifizierte Entgiftung in der Klinik

In vielen Krankenhäusern gibt es spezielle Programme zur Entgiftung von Alkohol und ande-ren Suchtmitteln wie Benzodiazepinen oder Opiaten. Diese Programme werden meist als „Qualifizierte Entgiftungsbehandlung“ bezeichnet und dauern etwa zwei bis drei Wochen. Dabei umfassen die therapeutischen Maßnahmen weit mehr als die Gabe von Medikamenten gegen die Entzugserscheinungen.

Die Patienten treffen sich täglich zur Morgenrunde, sprechen dort über ihr Befinden und kön-nen sich in Gemeinschaftsräumen untereinander auszutauschen. Zusätzlich gibt es therapeuti-sche Gespräche und Hilfestellung durch qualifizierte Pflegekräfte und Sozialarbeiter. In eini-gen Einrichtungen gibt es auch ergotherapeutisch betreute Gruppen und Vorträge von Selbst-hilfegruppen wie zum Beispiel den Anonymen Alkoholikern.

Da der Suchtdruck dennoch gerade in den ersten Tagen besonders groß ist, haben die Patien-ten meist die Auflage, sich auf Station aufzuhalten und können erst gegen Ende der Therapie-zeit größere Ausflüge unternehmen oder Besuch empfangen. Noch vor der Entlassung sind die Sozialarbeiter bemüht, die Patienten in eine ambulante Weiterbehandlung oder eine stati-onäre Entwöhnungsbehandlung in einer Spezialklinik zu vermitteln.

Die Hilfsangebote in Deutschland für Alkoholabhängige sind also ziemlich umfangreich. Der Patient muss diese Unterstützung aber natürlich auch annehmen und sich ändern wollen. Sonst kann auch der beste Suchtexperte nichts ausrichten. Bei fehlender Motivation wird der Patient entlassen, geht zum Kiosk, trinkt sich ins Koma und landet wieder in der Notaufnahme und schließlich in der Entgiftung: der sogenannte „Drehtürentzug“.

Günters Geschichte hatte hingegen noch ein kleines Happy End: Sein Hausarzt überwies ihn an eine Uniklinik zur stationären qualifizierten Entgiftungsbehandlung. Die dortige Sozialar-beiterin konnte ihm einen Platz zur mehrmonatigen Entwöhnungsbehandlung verschaffen. Kurz nach der Therapie erlebte Günter zwar einen schweren Rückfall, konnte sich aber nach erneuter Entgiftung wieder fangen und ist bis heute „trocken“. Er arbeitet halbtags als Aushilfe im Büro einer Handwerkerfirma und kann einmal im Monat seine Tochter besuchen. Günter konnte die Sucht besiegen. Durch Selbsterkenntnis und das Annehmen von Hilfe!

Weiterführende Links

 

Mehr zum Thema

Artikel: Resterampe Innere: Einweisungsdiagnose AZ-Verschlechterung

Artikel: Halloween mit Nebenwirkungen

Artikel: Alarm in der Notaufnahme

Schlagworte