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  • Bericht
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  • Annika Simon
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  • 22.01.2016

Notarzteinsatz: Person unter Zug!

„Aufgrund eines Notarzteinsatzes am Gleis verzögert sich die Weiterfahrt um unbestimmte Zeit!“ Nahezu jeder Bahnreisende hat diese Durchsage schon mal gehört und erinnert sich an stundenlanges Warten auf Informationen und die Ankunft am Reiseziel. Aber was genau verbirgt sich hinter dieser Meldung? Bei einem Notarzteinsatz blickte ich hinter die Kulissen und wurde Zeugin einer Tragödie.

Die Ruhe vor dem Alarm

Als PJlerin hatte ich die Gelegenheit, für ein paar Tage mit dem diensthabenden Notarzt eines städtischen Klinikums in Hannover mitzufahren. Es war ein Freitagmorgen Ende September und wir hatten über Stunden keinen einzigen Einsatz. Nach der morgendlichen Besprechung fuhren wir zunächst zum Frühstück auf die Feuerwehrwache und machten dann einen Ausflug zur Rettungsleitstelle der Region Hannover. Der Notarzt zeigte mir diese wichtige Zentrale und ich beobachtete eine Weile die Bearbeitung von Notrufen.

Auch zwei Stunden später blieb mein Pieper noch still, sodass wir – diesmal zum Mittagessen – wieder auf der Feuerwehrwache einen kleinen Zwischenstopp einlegten. Ich war schon ein wenig enttäuscht über unserer Arbeitslosigkeit und machte ein paar Scherze, als der Notarzt gerade zum Essen Platz nahm: „Sobald du in deine Bulette gebissen hast, kommt der erste Einsatz, wetten?“ Und tatsächlich hatte ich Recht: Der Notarzt führte seine Gabel zum Mund – und der Piepser schrillte. Wir ließen das Essen stehen und eilten zum Auto.

 

 

Mit Blaulicht über die Autobahn

Während der holprigen Fahrt las ich erstmal das Einsatzstichwort: Person unter Zug! Mir wurde etwas mulmig. Schließlich hatte ich von solchen Dingen schon oft gehört oder in der Zeitung gelesen. So etwas aber live vor Ort zu sehen, ist mir bislang glücklicherweise erspart geblieben und auch einige Notärzte hatten wohl noch niemals einen solchen Einsatz. Schließlich sind Notfälle dieser Art ja auch deutlich seltener als zum Beispiel Herzinfarkte.

Allerdings bin ich kaum dazu gekommen, weiter über den bevorstehenden Einsatz nachzudenken, denn die Fahrt war einfach zu schnell. Wir rasten mitten im Feierabend- und Wochenendverkehr mit Blaulicht und Martinshorn über Schnellstraßen und Abschnitte der Autobahn. Mir kam es vor, als verursachten wir dabei zahlreiche „Beinahe- Unfälle“. Der Appetit war mir definitiv vergangen, als wir unser Ziel, den S-Bahnhof eines hannoverschen Vorortes, erreichten. Feuerwehr, Polizei und ein Rettungswagen waren schon eingetroffen, als wir uns Notfallkoffer und Beatmungsgerät schnappten und die Treppen zu den Gleisen aufstiegen.

 

 

Bilder des Schreckens

Oben angekommen sahen wir zunächst rote Spritzer und zahlreiche Gewebefetzen am Bahnsteig und auf den Gleisen. Die Polizei hatte schon alles abgesperrt und der kleine Bahnhof war wie leergefegt. Ein Feuerwehrmann half mir nach unten auf die Gleise und so folgte ich dem Notarzt zu unserem Patienten. Mit jedem zurückgelegten Zentimeter wurden die Gewebefetzen größer und ich konnte sie teilweise sogar schon Organen zuordnen: da waren Leberreste, Haut und Darmteile.

Plötzlich zuckte ich zusammen: Ich blickte auf einen abgetrennten Arm und konnte meine Übelkeit nur schwer unterdrücken. Schnell schaute ich wieder geradeaus und kletterte weiter über die Schienen. Der Notarzt hatte inzwischen deutlich Vorsprung und war bereits beim Patienten angekommen. Leider konnten wir nur noch dessen Tod feststellen, obgleich die Integrität des Körpers trotz Hochrasanztrauma noch sehr gut erhalten war.

Der leblose Körper eines jungen Mannes um die 30 lag neben den Gleisen. Das Abdomen war offen, ein Unterschenkel war teilamputiert und der Kopf extrem verdreht, sodass man eine schwere Schädigung der Halswirbelsäule annehmen musste. Auch der Notarzt war gedämpfter Stimmung, als wir den Toten  abdeckten und den Arm holten, um ihn zum Körper zu legen. Ich glaube, ich werde diesen Nachmittag und vor allem diese schrecklichen Bilder nie wieder vergessen.

 

 

Trotzdem: Eine wertvolle Erfahrung

Da wir nichts mehr für den Patienten tun konnten, kehrten wir zum Bahnsteig zurück, gaben unsere Informationen weiter und gingen über zu den Formalitäten: dem Ausfüllen des Totenscheines. Paradoxerweise wurde das Wetter plötzlich besser und die Sonne strahlte auf uns herunter. Der Notarzt war wieder deutlich gefasster und erklärte mir genau, was wir wo auszufüllen hatten. Leider kann ich mich kaum daran erinnern, denn meine Konzentration war wie weggeblasen.

Kurze Zeit später ging es zurück zur Wache. Während sich der Notarzt sein angefangenes Essen in der Mikrowelle aufwärmte, war mir immernoch flau im Magen. Ich wollte nur noch nach Hause und machte auch bald Feierabend. Rückblickend, mit ein paar Monaten Abstand, würde ich diesen Nachmittag als eine Art Härtetest betrachten. Seit Beginn meines Studiums möchte ich Notärztin werden. Hätte ich jetzt feststellen müssen, dass ich solche Einsätze gar nicht aushalte, wäre diese Fachrichtung wohl eher weggefallen. Ich kann daher allen Kommilitonen mit dem Weiterbildungswunsch Notfallmedizin nur empfehlen, mal ein paar Einsätze mitzumachen. Denn die Rettungsmedizin ist eine Welt für sich!

 

 

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