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  • Annika Simon
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  • 20.09.2016

Alarm in der Notaufnahme

Es ist der Alptraum eines jeden Berufsanfängers: Man schiebt alleine Dienst in der Notaufnahme, die Patienten stapeln sich auf den Gängen und plötzlich fängt die mutmaßliche Simulantin an, massenweise Blut zu spucken. Was jetzt?

© MEV

Zwischen Alkis und Simulanten

Als noch recht unerfahrene Medizinstudentin stand ich inmitten einer internistischen Notaufnahme und schaute einer ähnlich unerfahrenen Assistenzärztin über die Schulter. Es war Freitagabend und das Thermometer zeigte 28°C Außentemperatur, ganz zu schweigen von der dicken Luft in den nicht klimatisierten Untersuchungsräumen. Ein ebenfalls für den heutigen Dienst eingeteilter Facharzt-Kollege hatte sich kurzfristig krank gemeldet und so waren die Ärztin und ich die einzigen Vertreter des medizinischen Lagers.

Während die Schwestern für jeden Neuzugang eine Akte anlegten und die Vitalparameter dokumentierten, machte ich fleißig Anamnesen und einige Voruntersuchungen. Im Hintergrund brüllte ein Dementer aus dem Pflegeheim in Dauerschleife um Hilfe und zwei kräftige Pfleger versuchten mit Fixierungsgurten einen randalierenden Alkoholiker im Zaum zu halten. Die meisten unserer Patienten kamen mit unklaren Infekten oder exsikkiert aus Nachbarkliniken und Heimen oder spazierten ohne akute Beschwerden durch das Eingangstor, um Untersuchungen machen zu lassen, für die man im ambulanten Bereich lange auf einen Termin hätte warten müssen. Ich nannte sie dann „Fußgänger“ oder Simulanten.

Harmloser Kollaps

Auch meine nächste Patientin gehörte vermutlich der Simulantenpartei an. Sie berichtete im Anamnesegespräch von einem kleinen Schwächeanfall am Vormittag, Ohrensausen und einer Leistungsminderung seit einigen Wochen. Ich fragte weiter nach und wurde dann doch etwas hellhöriger. Vor zwei Monaten hatte Sie einen Herzinfarkt, war im Herzkatheterlabor und hatte einen Stent bekommen.

Seitdem nehme sie ein neues orales Antikoagulanz ein, das einen erneuten Infarkt verhindern sollte. Ok, alles klar: Abklärung Kollaps, Ausschluss Reinfarkt! Ich legte ihr einen intravenösen Zugang, nahm Blut für ein Herzlabor mit Troponin und CK ab, veranlasste ein 12-Kanal-EKG und hängte noch einen Liter Ringer an. Die Patientin wurde dann zur Überwachung aufgenommen und vom Flur auf eine nahe gelegene Normalstation verlegt. Soweit, so gut. Auf zum nächsten!

Alles andere als harmlos

Etwa zwei Stunden später – ich suchte gerade eine flüchtige demente Patientin – bekam die Assistenzärztin einen Anruf von Station, wurde bleich um die Nase und rannte los. Fünf Mi-nuten später schob sie gemeinsam mit zwei Schwestern rennend das Bett meiner Kollaps-Patientin in Richtung Notfallraum. Ich rannte hinterher und versuchte natürlich zu helfen. Meine Patientin war käsig weiß und hatte nur noch einen Blutdruck von systolisch 60 mmHg – natürlich viel zu niedrig! Der Puls war auch nicht wesentlich besser und so legten wir zwei weitere Zugänge und gaben der Patientin zwei Liter Infusion im Schuss. Das schien zu helfen und während die Schwestern ein neues EKG ableiteten machten wir erstmal mit einem der anderen tausend Patienten weiter.

Da rief plötzlich eine Schwester „Hilfe!“ aus dem Notfallraum und so legten die Ärztin und ich den nächsten Sprint ein. Diesmal war es ein wirklich waschechter Totalnotfall: Die Patientin spuckte schwallartig hellrotes Blut – eine gastrointestinale arterielle Blutung. Die Assistenzärztin drehte nochmal die Infusionen auf, versuchte, die Patientin zu beruhigen und holte schnell den Oberarzt in Rufbereitschaft ans Telefon. „Jürgen, du musst kommen!“, sagte sie mit aufgeregter Stimme, „Meine Patientin hier braucht ganz dringend eine Gastroskopie zur Blutstillung. Sie hatte vor zwei Monaten einen Herzinfarkt und nimmt seitdem Antikoagulanzien ein. Sie blutet wie Sau, ich brauch deine Hilfe!“

Der Teufel ist ein Eichhörnchen!

Der besagte Oberarzt war zum Glück schnell vor Ort und konnte die Blutung durch eine Ligatur und durch das Unterspritzen des ursächlichen Gefäßstumpfes mit Adrenalin zur Vasokonstriktion stoppen. Aus einem auffälligen riesigen Ulkus nahm er noch eine Probe für die Pathologie. Die Patientin stabilisierte sich zunächst, musste aber bei erheblicher Verschlechterung ihrer Kreislaufsituation schließlich auf die Intensivstation verlegt werden.

Eine Computertomographie des Abdomens ergab einen ausgedehnten gastrointestinalen Stromatumor (GIST), der wohl die Blutung verursacht hatte und auch der inzwischen eingetroffene Patho-Befund bestätigte diese Arbeitsdiagnose. Glücklicherweise konnte der Tumor durch eine Magenteilresektion entfernt werden und als ich die Patientin drei Wochen später in der Krankenhaus-Kantine sah, konnte sie schon wieder im Rollstuhl sitzen und mit ihren Angehörigen einen Tee trinken. Für mich war dieser Fall eine echte Lehre: Denn auch vermeintlich harmlose Schwächeanfälle könnten sich als medizinische Katastrophen entpuppen.

Weiterführende Links

Vortrag über gastrointestinale Blutungen der Uni Regensburg

ViaMedici Artikel über die gastrointestinale Blutungen als Notfall

 

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