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- Annika Simon
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- 22.08.2016
Endokarditis im Rotlichtmilieu
Endokarditis als Differentialdiagnose bei Suchtpatienten mit Fieber und Herzgeräusch ist im klinischen Abschnitt ein beliebtes Prüfungsthema. Das IMPP formuliert dazu klare Fälle, die in der Realität selten so eindeutig ausfallen. Denn Diagnostik und Therapie sind bei Drogenabhängigen eine echte Herausforderung, wie der folgende traurige Fall verdeutlicht.
Naivität und Hoffnung
In jeder internistischen Notaufnahme quälen sich die Ärzte mit Suchtpatienten: Vom langjährig bekannten Alkoholiker, der am Wochenende seinen Rausch auf dem Flur ausschläft, bis hin zur Überdosis Heroin gibt es eigentlich nichts, was es nicht gibt. Ärzte und Pflegepersonal sind spätestens nach dem fünften Stammkunden genervt und empfinden sie mitunter als lästig.
Dabei lohnt es sich nicht nur zwecks einer vollständigen Anamnese hinter die Fassade zu blicken. Denn hinter einer schweren Sucht steckt fast immer eine traurige Geschichte. Seit Tagen geistert mir der Fall einer jungen Frau aus Osteuropa durch den Kopf, die sich an einem Sommerabend in Begleitung eines „Freundes“ mit hohem Fieber und neu aufgetretenem Herzgeräusch in der Notaufnahme eines städtischen Klinikums vorstellte.
Die etwa 40-jährige schlanke Frau mit rot gefärbten Haaren war wenige Tage zuvor mit der Diagnose einer tiefen Venenthrombose des rechten Oberschenkels entlassen worden und nahm an einem ambulanten Substitutionsprogramm teil. Sie kam als junge Frau aus armen Verhältnissen voller Hoffnung nach Deutschland und landete als Prostituierte auf dem Straßenstrich.
Dort machte man sie mit Drogen gefügig und seit etwa vier Jahren nahm sie an einem Substitutionsprogramm teil. Sinn eines solchen Programmes ist eine gewisse Kontrolle von Opioidabhängigen. Die Patienten müssen sich ihren „Stoff“ nicht mehr auf der Straße bei Dealern besorgen und mit gebrauchtem Besteck auf einer Toilette injizieren, sondern erhalten meist das sogenannte Polamedon – auch ein Opioid – gegen ihre Entzugssymptome.
Fieber und Herzgeräusch
Die Patientin erhielt nach Rücksprache mit dem Hausarzt täglich 16 ml Polamedon, was bei einem geschätzten Körpergewicht von 50 kg schon eine ganze Menge ist. Leider erfolgte die Aufnahme ins Programm zu spät, da die Patientin bereits eine chronische Hepatitis C hatte – keine seltene Infektion im Drogen – und Rotlichtmilieu.
Wer schon einmal für Prüfungen des klinischen Abschnitts im Fach Innere Medizin gekreuzt hat, kennt vielleicht die Kasuistiken mit den Drogenabhängigen und der Endokarditis. Da Heroin und andere Mischungen meist nicht unter sterilen Bedingungen injiziert werden, gelangen Bakterien in den venösen Kreislauf und setzen sich als Vegetationen an den Herzklappen fest. Bei der Konstellation von Drogenabusus, neu aufgetretenem Herzgeräusch und Fieber sollte man also immer sofort an eine Endokarditis denken.
Auch unser Team hatte bei besagter Patientin diese Diagnose im Hinterkopf, und so ergaben sich für mich als Studentin auch gleich ein paar ganz spezielle Arbeitsaufträge: Blut abnehmen, Blutkulturen abnehmen und Zugang legen! Normalerweise nichts Besonderes, aber diese junge Frau hatte nach jahrelangem „Drücken“ natürlich nicht mehr die besten Venenverhältnisse.
Ich konnte also praktisch nur verlieren und versuchte einfach mal mein Glück. Nach etwa einer Stunde und dem Versprechen an die Patientin, dass sie nach der „Operation“ runter zum Rauchen darf, hatte ich tatsächlich alle Aufträge erledigt. Zwar konnte ich nur eine kleine blaue Viggo legen, aber das war immerhin besser als gar nichts!
Als die Patientin wieder vom Röntgen zurück war, nutzten wir den frischen venösen Zugang für eine empirische Antibiotikatherapie bei dringendem Verdacht auf eine Endokarditis. Nach Rücksprache mit der Mikrobiologie starteten wir mit Gentamycin und Vancomycin bis zum Ergebnis der Blutkulturen.
Zugedröhnt bei der Visite
Zur weiteren Diagnostik veranlassten wir noch ein Herz-Echo und einen Röntgenthorax. Bei erstgenannter Untersuchung ergab sich eine leichte nicht vorbekannte Trikuspidalklappeninsuffizienz – vereinbar mit unserem Endokarditisverdacht. Als ich der Patientin während der Visite das Ergebnis erklären wollte, verdrehte sie immer wieder auffällig die Augen und war wie weggetreten.
Wir führten eine Urinuntersuchung auf Drogen durch und konnten neben dem erwarteten Methadon noch Benzodiazepine und Opioide nachweisen, obwohl sie einen Beigebrauch mehrfach verneinte. Im Laufe des Klinikaufenthaltes stellte sich heraus, dass sie sich zwischendurch in den „Raucherpausen“ im Hof immer wieder zudröhnte.
Da waren wir natürlich machtlos. Nachdem sie neue Schmerzen im Bein beklagte, entdeckten wir einen riesigen Leistenabszess und hatten damit endlich den Infektfokus gefunden. Es gibt also trotz typischer Anamnese auch Differenzialdiagnosen zur Endokarditis, an die man denken muss! Die Patientin wurde daraufhin gleich von der Chirurgie übernommen und dort weiterbehandelt. Ich selbst habe sie seither nicht mehr gesehen, werde den Fall aber sicher noch lange in Erinnerung behalten.
Weiterführende Links
Homepage des Bundesverbands für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V.
Infoseiten zur Methadon-Therapie
Dokumentationsfilm über Prostitution in Deutschland
Leitlinien zur Endokarditisbehandlung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie e.V.