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  • Christine Zeides
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  • 09.02.2018

„Entartungspotential“ - Medizin in NS-Zeiten und heute

Das Berliner Historikerlabor beleuchtet in seinem aktuellen Dokumentartheaterstück „Der nützliche Mensch“ die NS-Medizin und die Rolle der Charité-Ärzte. Wie aktuell ist dieses Thema aber in der modernen Medizin?

© Hannes Riemann

Die Optik stimmt: Der rote Klinkerbau gibt sich traditionsbewusst, das neue Bettenhochhaus erstrahlt in zukunftsweisendem weiß, das Logo „Barmherzigkeit“ thront selbstbewusst wie ein Denkmal über der Stadt. Die Fassade stimmt. Sie stimmte immer. Was sich in diesem Augenblick hinter den Mauern der Charité abspielt, ist von außen nicht einsehbar. Was sich damals, zu Zeiten des Nationalsozialismus dort ereignet hat, ist dank der Arbeit engagierter Medizinhistoriker heute rekonstruierbar.

Schon damals war die Charité eine der größten und fachlich führenden Kliniken Europas – noch dazu in der deutschen Hauptstadt gelegen – stand sie unausweichlich auch im Fokus der NS-Ideologie. Koryphäen der Zeit wie etwa Ferdinand Sauerbruch (Chirurg) oder Walter Stöckel (Gynäkologe) trugen die NS-Ideologie durch ihr konservativ-monarchistisch geprägtes Denken in die Klinik und in die ärztliche Ausbildung. Frei gewordene oder frei gemachte Stellen wurden mit NS-treuen Ärzten besetzt. Zahlreiche jüdische Kollegen enthob man von ihrer Tätigkeit an der Charité. 

Die Ärzte erteilten den nationalsozialistischen Ideen unbemerkt ihre Absolution, indem sie sie in ihren wissenschaftlichen Diskurs aufnahmen und beispielsweise über die optimale OP-Methode zur Zwangssterilisation debattierten, ohne die Maßnahme selbst in Frage zu stellen. Darüber hinaus waren einige Fachgesellschaften stolz darauf, als Experten zu Rate gezogen zu werden und flochten in ihre Dankesworte gleich das Bekenntnis mit ein, an der „Gesundung und Gesunderhaltung des deutschen Volkes mit aller Kraft mitarbeiten zu wollen“ (Walter Stöckel, 1933). 

Vom Fuchs und dem Raben

Ähnlich wie in der Fabel vom Fuchs und dem Raben, in der der Rabe voller Freude über das hinterlistige Lob zu seinem Gesang den Käse aus dem Schnabel fallen lässt, schmeichelte auch der NS den Ärzten: er ermöglichte es ihnen (noch mehr als früher) Macht auszuüben. Sie wurden in ihrer Überheblichkeit bestärkt, alles besser zu wissen und in ihrer Unfehlbarkeit zweifelsfrei und absolutistisch urteilen zu können.

Schon rein strukturell nimmt der Arzt eine Machtposition ein: Er vergibt Diagnosen, hat die Hoheit über therapeutische Entscheidungen und verfügt über besonderes Wissen, das ihn für andere unabkömmlich macht. Im OP-Saal ist der Patient dem Arzt ausgeliefert und muss ihm seinen Körper anvertrauen. Der Arzt verfügt über die Definitionsmacht, zwischen „krank“ und „gesund“ zu unterscheiden. Nach dem langen Studium besitzt er zudem eine intellektuelle Macht: Mit seinem Fachwissen erhebt sich der Gebildete über den Ungebildeten. 

Um einem Machtmissbrauch vorzubeugen, ist die fachliche Bildung nicht ausreichend – auch eine gefestigte moralische Haltung ist nötig. Diese Moral ging den Ärzten von damals zuweilen verloren: Sie betrachteten den Patienten fortan nicht mehr als ein würdevolles, mit Lebensrecht ausgestattetes Wesen, sondern als ein ihnen frei verfügbares Objekt. So konnten ohne große Bedenken Zwangssterilisationen, Medikamentenversuche und zuletzt auch Patientenmorde durchgeführt werden. Bedeutsam ist dabei, dass die wenigsten Ärzte der Charité selbst Hand anlegten: Die Taten geschahen meist in Krankenhäusern und Heilanstalten der Berliner Außenbezirke – die Ideen und die Zustimmung kamen jedoch aus dem Zentrum der Stadt.

Aber wie verhält es sich heutzutage bezüglich Macht im ärztlichen Alltag?  Die zahlreichen neuartigen Methoden der genetischen Diagnostik und Interventionen wie mittels CRISPR/CAS werfen neue Fragen nach „lebenswert“ und „lebensunwert“ auf. Der Arzt kann dabei in seiner beratenden Funktion massiven Einfluss auf die Entscheidung des Patienten nehmen. Der ehemalige Halbgott in Weiß erobert sich den Olymp und ist auf dem Weg, sich als ebenbürtiger Schöpfer gleichzustellen. Leben geben und Leben nehmen wird technisch beherrschbar und das Zepter trägt – der Arzt.

Pränataldiagnostik erlaubt es heute, voraussichtlich mit Fehlanlagen behafteten Kindern das Leben zu versagen. Andererseits können Paare, die es sich leisten können, auf künstliche Befruchtung zugreifen und so trotz höherem Lebensalter Kinder bekommen. Wo der menschliche Fortbestand so stark technisch kontrolliert und immer mehr manipuliert wird, bleibt auch die statistische Auswertung des Bevölkerungswachstums nicht aus: Weltweite Überbevölkerung, stagnierende Zahlen in Deutschland. In direkter Folge schließt sich die Frage nach der Ressourcenverteilung an. Und auch diese Debatte ist nicht neu: In der Zeit des Dritten Reiches wurde nicht nur zu Kriegszeiten mit knappen Lebensmitteln und medizinischen Ausgaben gerechnet, sondern der gesamte gesellschaftliche Alltag auf Ökonomie geprüft.

 Es wurde zwischen wertem und unwertem Leben unterschieden und die Daseinsberechtigung all jenen entzogen, die aus ihrer ideologischen Sicht nicht nützlich oder gar schädlich waren. Der in ihren Augen „unnützliche Mensch“ wurde noch bis zuletzt benutzt und ausgenutzt, indem er beispielsweise als Versuchsobjekt für medizinische Versuche eingesetzt wurde. Diese Versuche wurden von Ärzten durchgeführt, die ausnahmslos dem Hippokratischen Eid unterstanden. Die indoktrinierende Ideologie und der fehlende Mut, sich den Anweisungen von oben zu widersetzen, machten sie zu Tätern und ihre „Patienten“ zu Opfern.

Noch viel stärker als früher scheint die heutige Medizin ökonomischen Prinzipien unterworfen zu sein. Viele Therapieziele schließen den Erhalt der Arbeitsfähigkeit ein, was nicht nur im Sinne des Patienten sondern auch der Gesellschaft ist, die so keine Leistungen an den berenteten Patienten zahlen muss. Und auch im Klinikalltag selbst hört man immer wieder die Frage, ob denn eine bestimmte medizinische Maßnahme „jetzt noch nützt“. Es erfolgt eine Abwägung der Kosten für die Behandlung und der Wahrscheinlichkeit, dass diese Anwendung wirklich zur Genesung des Patienten führt. Das einzelne bedrohte Menschenleben wird gegen die finanziellen Ressourcen des Krankenhauses abgewogen. 

Man fragt sich, ob die Behandlung „gewinnbringend“ sei und sich „lohne“, oder ob das alles doch nur „umsonst“ sein werde und man sich den Aufwand „sparen“ könne. Leider ist das Krankenhaus darauf angewiesen, mit seinen Mitteln zu haushalten, damit es weiter bestehen kann. Die dadurch forcierte Argumentationsweise kann im Zweifelsfall zu Ungunsten des Patienten ausfallen. Ein wohlsituierter Patient hätte noch die Möglichkeit, die Kosten der Behandlung selbst zu tragen. Im Extremfall: Zahlen oder Sterben. Der Umgang mit unversicherten Patienten ist in der Klinik immer noch ein kontroverses Thema.

Müssen wir uns jetzt fürchten?

Noch ist unser Gesundheitssystem trotz seiner Mängel ein Ort, an dem Ärzte menschlich handeln und im Sinne ihrer Patienten agieren. Die gezeigten Parallelen zwischen damaligen Strömungen und heutigen Tendenzen sollten jedoch aufhorchen lassen: Auch wenn die moderne Medizin sich als fortschrittlich und den alten Zeiten entwachsen betrachtet, gilt es, die kommenden Medizinergenerationen im Gedenken an die medizinischen Verbrechen der NS-Zeit dafür sensibel zu machen, einschleichende Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und im Zweifelsfall einzuschreiten. Damit auch die Weste der Ärzte weiß bleibt – und nicht nur die Fassade des Krankenhauses, in dem sie wirken. 

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