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  • Bericht
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  • Benjamin Senst
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  • 12.11.2013

Traumatologiefamulatur in Nizhniy Novgorod

Osteuropa entdecken, das größte Land der Erde bereisen, tagelang Eisenbahn fahren, eine andere Kultur kennenlernen und einmal in einem russischen Krankenhaus arbeiten – das alles motivierte Benjamin eine Famulatur in Nizhniy Novgorod zu absolvieren.

Einen Tag nach meiner letzten Prüfung in diesem Sommersemester warte ich im Budapester Keleti Bahnhof auf den Nachtzug nach Russland. Vor einem Jahr habe ich den Beschluss gefasst, eine Auslandsfamulatur in Nizhniy Novgorod zu machen – viel Zeit um die Sprache zu lernen, Informationen über Land und Leute zu sammeln und die Reise zu planen. Wenn ich anderen von meiner Idee berichtet habe, wurde ich oft gewarnt und danach folgten typische Vorurteile. Aber das trübte meine Motivation nicht: Osteuropa entdecken, das größte Land der Erde bereisen, tagelang Eisenbahn fahren, eine andere Kultur kennenlernen und einmal in einem russischen Krankenhaus arbeiten.

 

Mit dem Nachtzug unterwegs

"Dobryy den'! Vashe bilet i pasport pozhaluysta!" Der erste Test meiner Sprachkenntnisse erfolgt schon beim Einsteigen. Es hat sich gelohnt, die Sprache zu lernen, denn Englisch sprechen die wenigsten und schon im Zug treffe ich nur Russen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten nach Russland zu kommen. Aber Nachtzugfahren bietet die Chance auf Gespräche und gemeinsames Essen und Trinken. Die Fahrt dauert viele Stunden, deshalb richtet sich jeder ein und das Abteil wird zum gemeinsamen Wohnzimmer. So lerne ich auch einen Mitreisenden kennen, der nach Moskau fährt, weil nur dort seine Krebserkrankung behandelt wird. Wie früher ist Moskau immer noch das medizinische Zentrum für die ehemaligen UdSSR Staaten.

Für Lemberg nehme ich mir einen Tag Zeit. Ich bin etwas geschockt. Mein erster Halt in der Ukraine: klapprige, alte Autos auf Kopfsteinpflasterstraßen zwängen sich neben überfüllten, abgaswolkenproduzierenden Bussen durch die engen Straßen. Rechts und links heruntergekommene Häuser. Ich hätte nicht erwartet, dass es einen so großen Unterschied zwischen Ungarn und der Ukraine gibt. Im Stadtzentrum angekommen, erlebe ich eine Überraschung. Dort zeigt die geschichtsträchtige Stadt ihr wahres Gesicht: Architektur aus verschieden Jahrhunderten zeugt von den wechselnden Herrschaften von Polen, Russland, Österreich-Ungarn.

 

Zwischenstopp in Kiew  

Als ich in Kiew aus dem Nachtzug aussteige, ist es noch früh am Morgen. Aber auf Kiews zentraler Meile, dem Kreshchatyk, tummeln sich schon einige Arbeiter. Was für eine Überraschung: Heute feiert die Ukraine ihre Unabhängigkeit und ich kann dabei sein. Ein riesiges Fest bis in die Nacht. Die Entscheidung ist gefallen – ich bleibe für ein paar Tage. Genug Zeit die große Stadt zu erkunden: Tschernobylmuseum, Kirchen und Klöster, Regierungsgebäude und riesige Neubaubezirke. Am Dnjepr-Ufer trohnt die Mutter-Heimat-Statue – ein Zeugnis der Sowjetvergangenheit und Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Es scheint, als ob die sowjetische Identität vor allem auf den Vaterländischen Krieg und die siegreiche Rote Armee aufgebaut wurde.

 

Über Moskau und Sankt Petersburg nach Nizhniy Novgord

Von einer Megastadt in die Nächste ­– von Kiew nach Moskau. Das russische Machtzentrum wird umgeben von sieben prächtigen Sowjethochäusern. Trotz riesiger Straßen kommt es zu den Hauptverkehrszeiten zu Staus, die die ganze Stadt durchziehen. Wie ich später feststelle, ist es genau das, was Moskau von anderen russischen Städten unterscheidet: Größe, Macht und Reichtum.  

Mit dem Nevsky-Express dauert die Fahrt nach Petersburg nur vier Stunden, ist dafür aber empfindlich teurer als mit dem Nachtzug. Da ich diesmal tagsüber fahre, bekomme ich einen Eindruck von Russlands Weite. Birkenwälder bis zum Horizont – viel Abwechslung bietet die Fahrt nicht. Umso mehr freue ich mich nach der Ankunft, mein Klapprad entfalten zu können und eine neue, spannende Stadt zu erkunden. Da ich nur wenig Zeit habe, muss ich mich zwischen einem Ausflug nach Pushkin oder Peterhof entscheiden. Sankt Petersburg ist eine echte Perle und bietet ein reiches Kulturleben. Hubbrücken, Kanäle und der Blick auf das Baltische Meer.

Auf dem Weg über Moskau erreiche ich das eigentliche Ziel meiner Reise: Nizhniy Novgord. Dort treffe ich mich mit einer Bekannten, die ich vor drei Jahren in der Türkei getroffen habe. Eine ihrer ersten Fragen ist: "Und, bist du geschockt?" So eine direkte Frage hätte ich nicht erwartet. Ich bin ehrlich und bestätige, dass diese Stadt mich ein wenig erschrocken hat: Als ich dort ankomme, regnet es. Die Stadt ist grau und der Himmel auch. Eine triste Stimmung. Wohnblocks, Fabriken, große Straßen und viel Autoverkehr. Eine wirkliche Industriestadt. Nizhniy hat, wie einige andere Russische Städte im letzten Jahrhundert, mehrmals ihren Namen geändert. Bis 1990 war es als Gorki bekannt und eine geschlossene, sprich Nichtortsansässigen nicht zugängliche Stadt, weil hier fürs Militär produziert und geforscht wurde.

 

Die Unterkunft und das Krankenhaus

Meine Unterkunft befindet sich im internationalen Studentenheim der Staatlichen Medizinischen Akademie. Da im September in Russland das Studium wieder beginnt, lerne ich meine Nachbarn aus Afrika kennen, und beim Kochen in der Gemeinschaftsküche treffe ich auf Studenten aus Indonesien. Warum in Russland studieren? Ihre Antwort ist kurz: "Die staatliche Akademie ist sehr gut und günstig".

Jeden Tag fahre ich mit meinem Rad durch die halbe Stadt und durch gewaltige Staus, um zu meinem Arbeitsplatz zu gelangen: das Regionale Traumazentrum im Semashko Krankenhaus (http://www.semashko.nnov.ru/dtp.html). Das Team dort ist sehr bemüht. Der Leiter der Abteilung und sein Sohn sprechen hervorragendes Englisch und erklären mir vieles während der Operationen und Patientenvisiten. Meine Aufgabe besteht vor allem im assistieren. Im Grunde lässt es sich mit europäischen Traumazentren vergleichen. Notaufnahme, MRT, CT, Akutsono, Bettenstation, eigener Operationssaal (mit Röntgendienst und C-Bogen/Bildwandler) und eine angeschlossene Intensivstation.

Ein paar Unterschiede gibt es dann aber doch, zum Beispiel keinen Traumahubschrauber, was vor dem Hintergrund der "Golden Hour of Shock" und den vielen Staus bei der Versorgung für eine Millionenmetropole kritisch ist; deshalb werden viele Unfallpatienten vorerst zum nächstgelegene Spital zur Erstversorgung und Stabilisierung gefahren und erst später ins Regionale Traumazentrum verlegt.

Es werden viele europäische und amerikanische Osteosynthesesysteme verwendet, abseits dessen sind aber auch alle Platten und Schrauben erlaubt, die irgendwie passen. Operationstechniken sind zielführend aber manchmal ungewöhnlich. Die Besonderheit dieser Abteilung liegt in der Spezialisierung auf kombinierte Traumata. Deswegen wird es auch von allen als Zentrum für Autounfälle bezeichnet, die in Russland – im Gegensatz zu Europa – immer noch in ihrer Anzahl steigen und deren Opfer schwerere Verletzungsmuster zeigen.

 

Zu Besuch in Kazan

Eine russische Kollegin lädt mich in ihre Heimat ein. Sie will mir Kazan zeigen. Wie man mir schon voller Stolz berichtet hat, ist die Hauptstadt von Tatarstan mit europäischen Städten zu vergleichen. Für die Universiade hat man die Stadt auf Vordermann gebracht, Straßen repariert, Parks ausgebaut, Sportstätten errichtet. Kazan zählt zu den schönsten Städten Russlands. Der Wohlstand hier stammt auch aus den reichen Erdölvorkommen der autonomen Republik Tartarstan. Diese Republik Russlands blickt  auf eine reiche Geschichte zurück. Die Tataren, einst ein mächtiges, expandierendes Reitervolk mit muslimischem Glauben, sind jetzt wichtiger Teil der multikulturellen Russischen Föderation. Das Wochenende verbringen wir mit Sightseeing, Familientreffen, Datscha und russischem Banja.  

 

Abschied

Als ich Nizhniy verlasse, bemerke ich, dass ich mich an die Stadt und das Leben hier gewöhnt habe. Die Menschen, die ich kennengelernt habe, die versteckten schönen Plätze. Diese Stadt hat mir einen Einblick in das normale Russland gegeben, abseits von Moskau und Sankt-Petersburg. Und ich stelle fest, dass es sich gelohnt hat. Ein Jahr lang habe ich mich auf den Aufenthalt vorbereitet, habe Sprache, Kultur und Geschichte mit einem Sprachtandem gelernt. Die Zeit hier hat mich auf eine andere Art bereichert als erwartet, und schon die Vorbereitung war eine gute Erfahrung für mich.

Nachdem ich von meiner geplanten Rückreiseroute abweichen muss – Weißrussland verlangt ein Visum, auch wenn man nur Transitreisender ist – fahre ich nach Lettland und werde über den EU-Korridor zwischen der russischen Enklave Kaliningrad und Weißrussland von Litauen nach Polen weiter reisen. Irgendwie überkommt mich ein Gefühl von Heimat, als die lettischen Grenzbeamten unseren Zug kontrollieren. Russland hat mir gezeigt, welchen Wert die Europäische Union für mich hat. Es folgen Zwischenhalte in Riga und Vilnius.

Gleich neben dem Warschauer Hauptbahnhof erstreckt sich der Palast der Kulturen und Wissenschaft über die Stadt. Dieses und ähnliche Gebäude in vielen großen Städten des ehemaligen Ostblocks entstanden in der Zeit Stalins. Ich nehme mir Zeit um Museen zu besuchen und lerne so die wechselvolle Geschichte Polens – umkämpftes Land zwischen den historischen Großmächten Europas – und Warschaus, das im Zweiten Weltkrieg komplett in Schutt und Asche gelegt wurde.  

Zurück in Österreich startet für mich das neue Semester mit einem Praktikum auf der Chirurgie. Dadurch bietet sich mir ein guter Vergleich zu Russland. Als ich zum Assistieren in den OP gerufen werde, bin ich zuerst überfordert. Nachdem ich mich an das russische Prozedere gewöhnt habe, erscheint mir der Waschplatz hier wie eine andere Welt.

Und: ein Patient auf unserer Station spricht nur schlecht Deutsch - er kommt aus Russland!

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