- Bericht
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- Martin Wendland
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- 21.11.2007
4 Wochen im Emergency-Camp Sewa Ashram (2)
Von AIDS, Vergewaltigungen und Religion - Schicksale
Ich hatte diesen Ort nicht gewählt, um mir medizinisches Fachwissen anzueignen. Ich wollte wissen, wie diese Menschen leben, was sie bewegt.
Viele Patienten waren HIV- und TB-krank. Die meisten lebten auf der Strasse und waren nicht mehr in der Lage, sich selbst zu helfen. Normalerweise ein sicheres Todesurteil in Indien.
In der Uni hat mich Sozialmedizin und Prävention sehr gestört. Es waren narkotisierende, ja schon hyperästhesierende und fast psychisch traumatisierende Fächer. Doch in Ländern wie Indien lernt man die Bedeutung kennen. Die Verknüpfung zwischen Medizin und sozialer Struktur wird einem tagtäglich mitunter auf brutalste Art und Weise nahegebracht.
Hier in Indien lernte ich mit jedem Patienten auch ein Schicksal kennen. Mehr als die dramatischen Verstümmelungen und Wunden haben mich die persönlichen Leidensgeschichten der Menschen geschockt und betroffen gemacht. Die Brutalität, die es in dieser Gesellschaft gibt, übersteigt alles, was mir bislang begegnet ist. Auch eine amerikanische Mitarbeiterin, die bereits in den Slums von Nairobi und Uganda gearbeitet hatte, sagte mir: "Dort sind die Menschen auch arm, es gibt auch Leid, Brutalität, aber dort ist es nicht so schlimm wie in Indien."
In diesen Ländern gibt es ein soziales Restgefüge, das in Indien anscheindend vielerorts verottet ist. Zu viele Menschen lassen den Wert des Einzelnen (zumal Armen) sinken.
200 Millionen Inder führen ein sehr gutes Leben oder eines wie die meisten Menschen in Europa. 800 Millionen Menschen gehören der Unterschicht an. Nicht alle leben in Slums, aber eine kastenbedingte Wertigkeit und Rangfolge gibt es auch hier.
Zwischen der oberen und der unteren Grenze der Unterschicht gibt es eine Vielzahl von Zwischenschichten, an unterster Stelle stehen dann die "Unberührbaren".
Deren Leben hat de facto gar keinen Wert, und niemanden stört es, wenn ein Mensch verreckt.
Während hierzulande auf der Straße lebende Menschen eine deutliche -wenn auch nicht zu vernachlässigende- Minderheit darstellen, so ist es in Indien ein Massenphänomen. Man fährt mit dem Taxi kilometerweit an Plastikplanen vorbei, unter denen ganze Familien leben. Die Kinder spielen auf der Strasse im Dreck, "duschen" und kochen mit dreckigem Wasser, schlafen dort - bei 30°C wie im massiven Monsunregen, der die Fäkalien die Strasse entlangspült.
Allgegenwärtig ist die Präsenz von harten, i.v. gespritzte Drogen. Neben dem ungeschützten Geschlechtsverkehr ist dies ein extrem wichtiger Faktor für die rasche Ausbreitung von HIV. Mehr als 5 Millionen infizierte Menschen gibt es in Indien! Besonders in den östlichen Landesteilen sind Drogen der Hauptgrund, sind doch die Drogenanbaugebiete Burmas und Thailands nicht weit entfernt.
In unserem kleinen Weg gab es zwei Hindu-Tempel und einen Sikh-Tempel. Wenn man genau hinhörte, so konnte man auch hin und wieder den Muezzin einer Moschee hören. Den ganzen Tag lang rief ein Sprecher vom Sikh-Tempel Rezitationen durch einen Lautsprecher - während vor der eigenen Tür ein Junkie seinen Schuss "genoss".
Die Bedeutung der Religion wurde mir hier nicht deutlich. Wo setzt sie an, erreicht sie die Menschen, was machen die religiösen Menschen für ihre Mitmenschen? In solchen Momenten verkommen für mich die Rezitationen gleich welcher heiligen Texte oder Religionen zu einem sinnlosen Geplärre, und ich merkte in dem Moment die Wut in mir.
Niemand hat verdient so zu leben
Während ich anfangs unser kleines Dorf um das Camp herum als eine harmonische Umgebung angesehen hatte, merkte ich mehr und mehr, dass auch diese Siedlung durch und durch von Armut und sozialer Brutalität durchsetzt war. "HIV, Prostitution, Gewalt, Vergewaltigung kannst Du hier an jeder Ecke bekommen" versicherte man mir. Wenn ich die kleinen Kinder dabei ansah, so wurde mir ganz furchtbar zumute. Wo wachsen diese kleinen Kinder auf? Was für eine Zukunft haben sie? Werden sie jemals die Chance haben ein besseres Leben zu führen? Das sind die Fragen, die mir durch den Kopf gingen. Und mit Gewissheit kann man sie beantworten: Sie werden nie aus diesem Sumpf herauskommen, es sind verlorene Seelen, hineingeboren in eine unmenschliche Umgebung.
Viellicht wird das kleine süße Mädchen, das sich jetzt noch hinter ihrer Puppe versteckt, schon bald von einem dieser verkommenen Typen vergewaltigt, vielleicht wird der kleine Junge von den eigenen Eltern verkauft? Vielleicht sterben sie auch schon bald im Drogenrausch oder an AIDS.
Oder sie sterben an Infektionen, an Tetanus, Tollwut, oder bei einem der vielen Verkehrsunfälle. Dann möchte man ihnen lieber den schnellen Tod wünschen, als unsagbare Qualen mit verstümmelten und nie heilenden Gliedmassen.
Das ist alles nicht übertrieben, entstammt keinem perversen Hirn eines Boulevard-Reporters, sondern ist alltägliche Realität in Indien.
In Indien passiert es auch immer wieder, dass Menschen als Ersatzteillager benutzt werden: Sogar in den Krankenhäusern kommt es vor, dass nach einer Blinddarm-OP plötzlich eine Niere fehlt - ein schönes Zusatzeinkommen für den Doc.
"Den müssen wir jetzt sterben lassen. Wir können nicht jeden retten"
Am schwierigsten und kaum zu begreifen waren für mich Momente, in denen Menschen aufgund von Banalitäten starben, bei denen man bei uns noch sehr viel hätte tun können, und bei denen der Mensch sogar sehr einfach wieder gesund geworden wäre! Doch wenn ich dies aussprach, wurde mir meist nur ein Blick zugeworfen, der mich wissen ließ, dass es kein Spaß war.
"Warum sollen wir den Patienten ins Krankenhaus bringen, nach ‚Auschwitz'? Dort wird er doch nur gequält! Wir sind hier in Indien, wir können nicht mehr machen! Wir lassen ihn jetzt sterben, in Frieden… mit einem Rest an Würde…" Worte, die aus dem Munde "Tonbabas" kamen. Der Inhalt der wenigen Sätze war zwar hart, aber doch von so viel Erfahrung geprägt. Seit 10 Jahren war er in Indien, hatte dieses Camp mit der kleinen Klinik aufgebaut, hatte viele Menschen sterben sehen. Er hat die Erfahrung, und nachdem ich in den Krankenhäusern gewesen war, konnte ich ihm nicht mehr widersprechen.
"Wir können ihm jetzt nur Liebe und Wärme geben und ihn begleiten" sagte er, und drückte einen Sterbenden an sich. Die umgangssprachliche Redewendung "der Tod auf Latschen" bekommt hier eine ganz und gar unwitzige, reale Natur .
Besonders bei jungen Menschen ist es wirklich nicht einfach. Kurz vor meiner Abreise bekamen wir eine junge Frau herein. Sie kam aus Delhi mit einer Autorikscha und war vollkommen entkräftet. Schon auf den ersten Blick konnten wir sehen, dass sie eine TB im fortgeschrittenen Stadium hatte. Sie klagte über Schmerzen und Atemnot.
... und sieht dann ihr Röntgenbild.
Die Anamnese verursachte bei mir wieder ein Gefühl des hilflosen Zornes: Ihr Mann hatte sie verlassen, da ihm die TB-Therapie zu teuer geworden war. Da sie sich nicht mehr um ihr ebenfalls TB-krankes 10 Monate altes Kind kümmern konnte, gab sie es zu Nachbarn und suchte Zuflucht bei ihrem Vater. Dieser setzte sie aber nach kurzer Zeit in ein Taxi und warf sie an irgendeiner anderen Ecke der 15-Millionenmetropole Delhi hinaus.
Was genau passiert war bevor sie zu uns kam, wissen wir nicht; was mit dem Kind war genauso wenig. War es noch am Leben? War es schon Opfer von Misshandlungen geworden? Hatte man vielleicht Organe entnommen?
Ich frage Tonbaba wie es wäre, das Kind zu finden, zu seiner Mutter zu bringen und zu therapieren. Er schaute mich nur traurig an und mein Schweizer Kollege sagte: "Können wir nicht, wir haben nicht das Geld. Wir können nicht jeden retten."
Malaria und Montezumas Rache
Dann irgendwann erwischte es mich: Fieber 39.5°C. Ich war vollkommen daneben im Kopf, konnte nicht mehr geradeaus laufen. Sofort liess ich im nahegelegenen Labor einen Test auf Malaria machen. Das private Labor machte nicht nur einen "dicken Tropfen", sondern auch einen ELISA-Test. Am nächsten Morgen erhielt ich die Ergebnisse: negativ!
Die Region um Delhi ist, wie allen tropische Länder, besonders zur Monsunzeit "Kampfgebiet" der Anophelesmücke. Zum Glück gibt es hier aber hauptsächlich P.ovale. Südlich von Mumbai jedoch ist Indien Hochrisikogebiet, und viele Traveller kamen in den letzten Monaten mit Malaria tropica aus Goa zurück. Ich hatte als stand-by für Delhi "Malarone" gekauft, und war nun froh, diese nicht schlucken zu müssen. Ich stopfte ein paar Ibuprofen in mich hinein, und in den nächsten Tagen ging es etwas besser.
Das Fieber verschwand, aber stattdessen kam ein Durchfall vom Feinsten. Ich begann, eifrig Kohletabletten zu mr zu nehmen, die ja unter anderem die Toxine absorbieren sollen. Gleichzeitig besserte sich auch meine Stuhlfrequenz, sodass ich nicht besonders eingeschränkt war. Dennoch schwächte mich dieser Durchfall, sodass ich keine großen Reisen in den letzten Tagen unternehmen konnte. Bis zu meinem Abflug blieb die Toilette mein bester Freund.
Infos zur Klinik, zum Land, zur Anreise & Co.
Sonnenuntergang über Sewa Ashram
Die Klinik liegt im Norden des Bundesstaates Delhi an der Grenze zu Haryana. Die nächste Provinzstadt Narela liegt wenige Kilometer entfernt. Delhi ist etwa 30km oder je nach Tageszeit 1-2 Autostunden entfernt.
Die Klinik ist das Herz des Camps. Zu Spitzenzeiten stehen den wenigen Mitarbeitern bis über 200 Patienten gegenüber.
Schwerpunkt sind zwar HIV und TB, aber schwerkranke arme Menschen werden nicht abgewiesen. Dazu zählen auch schwangere schutzlose Frauen, elternlose Kinder, die von der Straße eingesammelt werden und demente alte Menschen. Allen gemeinsam ist jedoch die existenzielle fundamentale lebensbedrohende Not.
Momentan hat die Klinik 3 Krankenschwestern, eine davon eine jahrelang erfahrende Expertin in Sachen Krankenhausmanagement und Ausbildung von Krankenschwestern. Mit ihr und den Langzeit-Volontären und -Mitarbeitern wird versucht, die Klinik zu einer professionellen Institution umzugestalten. Phasenweise wird die Klinik von Schwerstkranken und Sterbenden regelrecht überschwemmt, sodass ein Arbeiten wie in Europa kaum möglich ist.
Regelmäßig fahren die Mitarbeiter mit den beiden Krankenwagen nach Delhi, um Menschen von der Straße aufzusammeln.
Neben dem ausgebildeten Personal gibt es vor allem angelernte ehemalige Patienten, die ihre Arbeit oft ausgezeichnet verrichten.
Da die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten sehr begrenzt sind, werden die Patienten für Laboruntersuchungen nach Narela oder in die Krankenhäuser nach Delhi gefahren. Dort brauchen sie immer einen "Attendant", da die Pflege in Indien anscheinend nicht in den Aufgabenbereich der Krankenschwestern fällt.
Nach dem Krankenhausaufenthalt - die Organisation zahlt dafür - kommen die Patienten wieder zurück - oder werden direkt ins Krematorium weitergefahren.
Neben dem eigentlichen Camp gibt es direkt anschliessend ein paar Gebäude: Das sogenannte "Old Men's House" für überwiegend alte Menschen, und das "Kid's House".
Mögliche Aufgaben und Ansprüche für und an Medizinstudenten
Freiwillige jeder Art, egal ob studiert oder ungelernt, sind willkommen. Medizinstudenten treffen auf besonders großes Entgegenkommen. Die Tätigkeiten sind natürlich völlig anders als bei uns. Es kann sein, dass man verantwortungsvolle Entscheidungen alleine treffen muss, oder auch nur Kleinigkeiten macht. Man sollte jedoch nicht erwarten, dass man einen Sonderstatus hat und alle Mitarbeiter nach Anweisungen lechzen. Insgesamt ist man nur ein Teil eines großen Ganzen, aber wenn man sich persönlich einbringt, kann man sehr viel machen. Das betrifft medizinische Dinge wie auch nicht-medizinische Angelegenheiten.
Besonders im medizinischen Bereich muss man äußerst sensibel sein. Man muß die europäischen Standards bezüglich der Hygiene und der diagnostisch-therapeutischen Möglichkeiten zum großen Teil drastisch nach unten schrauben. Viele Dinge sind in einem Entwicklungsland wie Indien nicht möglich, und so sollte man lieber schauen, wie die erfahrene Krankenschwester eine Wunde "vollkommen eigenartig" versorgt, anstatt auf Lehrbuchwissen zu beharren.
Nicht entmutigen lassen sollte man sich, wenn ein Ex-Patient i.v.-Zugänge wie im Schlaf perfekt legen kann, während man das ja auch nicht zum ersten Mal macht, aber trotzdem nur grosse Hämatome produziert. Man sollte sich auch immer vor Augen halten, dass man nichts verändern kann in seiner kurzen Aufenthaltsdauer. Man wird auch keine spektakulälren Operationen unternehmen können oder heldenhaft Menschen retten.
Vergessen sollte man auch die deutsche Hierarchie zwischen Krankenschwesten, Ärzten, Ungelernten. Wer am längsten da ist und die meiste Erfahrung hat, dessen Wort hat am meisten Gewicht. Ich wurde aber immer wieder nach meiner eigenen Meinung gefragt, ob ich es anders machen würde - "Mal sehen, was der Student vielleicht weiß."
Allzuleicht kam ich immer wieder in die Denkweise, was man in Deutschland alles machen könnte und würde. Es ist eine wahre Herausforderung herauszufinden, was man mit den in Indien vorhandenen Möglichkeiten machen kann. Das ist auch irgendwie eine der schwierigsten und spannendsten Fragen in Indien!
Wenn man sich also einfügt und bestimmte Sachen einfach als gegeben hinnimmt, kann man unheimlich viel lernen.
Natürlich sollte man sein Wissen auch einbringen, und Ideen entwickeln. So kann man ein fester Bestandteil der Crew werden, und der Aufenthalt wird zu einem wunderbaren Erlebnis!
Ich kann jedem nur ein Erlebnis in so einer Einrichtung empfehlen! Mit etwas Abenteurer-Geist, Neugierde auf Neues und mit dem Herzen am richtigen Fleck ist man genau richtig bei Sewa Ashram!
Anmerkung des Autors
Der hier widergegebene Bericht spiegelt meine eigenen Erlebnisse und Meinung wider. Natürlich wäre es vermessen zu behaupten, ein Slum stehe repräsentativ für ganz Indien. Jedoch werden demjenigen, der mit offenen Augen reist, die extremen Gegensätze in der indischen Gesellschaft auffallen.
Trotzdem sei jeder dazu eingeladen dieses Land unvoreingenommen zu entdecken!