Zurück zu Indien
  • Bericht
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  • Sarah Gruninger
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  • 19.03.2019

Krankenpflegepraktikum in Indien

Wenn die Menschen im Krankenhaus barfuß herumlaufen und mit einem Wattepad gleich drei Patienten desinfiziert werden, dann hat entweder der Hygienebeauftragte drei Augen zugedrückt oder man befindet sich in in einem Krankenhaus in Orissa, im Osten von Indien. Genau dort habe ich im Sommer 2017 mein Krankenpflegepraktikum gemacht.

Vorbereitungen 

Nach einem Jahr Medizinstudium in Marburg und zwei Pflegepraktika in Deutschland begann ich zu überlegen, wo ich meinen letzten Monat des obligatorischen Krankenpflegepraktikums absolvieren könnte. Da ich auch nach dem Abitur schon mit Via e.V. unterwegs war, schaute ich mich auf deren Internetseite um und wurde direkt fündig: Ein Krankenhaus mit Schwerpunkt Augenheilkunde in Indien schien mir genau richtig, da ich mich für dieses Gebiet schon immer interessierte. 

Was gab es zu organisieren? Ein Flug musste gebucht, das Visum beantragt, mehrere Impfungen durchgeführt und eine Bewerbung an das Krankenhaus geschrieben werden. Während das meiste bis zu drei Monate im Voraus erledigt war, blieb der Visumsantrag ein Problem. Da ich nach dem Praktikum noch reisen wollte, reichte ein eVisa für 30 Tage nicht aus. Man darf es nur zwei Monate vor Abflug beantragen, also fuhr ich genau dann nach Frankfurt. Mein Visum hatte ich dann einen Tag vor Abflug - ein Vorgeschmack auf die indische Bürokratie.

Anreise

Voller Vorfreude, aber auch mit ein bisschen Kribbeln im Bauch stieg ich im August 2017 endlich in den Flieger und nach acht Flugstunden in Kalkutta wieder aus. Zwar schlug mir schon beim Heraustreten aus dem Flughafen eine trockene Hitze entgegen, aber was mir an Indien sofort gefiel war, dass alles so bunt war: die Häuser, die Autos, die Kleidung der Menschen, die Stände, selbst das Essen. Auch erstaunliche und ungewohnte Gegebenheiten fielen mir sofort auf: Überall auf den Straßen lag Müll, die Leute schauten mich verwundert an und die stark befahrenden Straßen wurden sekündlich von tausenden Menschen gekreuzt.

Die Zugfahrt von Kalkutta zu dem Ort, wo das Krankenhaus war, dauerte vier Stunden und war dunkel und unheimlich. Zum Glück wartete schon am Flughafen jemand vom Krankenhaus auf mich. Gegen elf Uhr abends erreichten wir dann ein kleineres Örtchen in der Nähe von Rashgovindpur, fuhren 30 Minuten im Jeep über holprige Sandstraßen und Felder bis zum Mahatma Gandhi Eye Hospital - meinem Zuhause für den nächsten Monat.

Unterkunft und Umgebung

Mein Zimmer - oder besser mein Apartment - war echt groß. Ich hatte sogar eine europäische Toilette. Nur  kein Toilettenpapier - gut, dass ich ausgerüstet war. Außerdem war ich nicht allein: Die Tiere, mit denen ich jeden Tag duschte, konnte ich zwar nicht identifizieren, aber die Eidechse in meinem Esszimmer, taufte ich Johnny. Zum Ashram (so heißt die Wohngemeinschaft des Geländes) gehörten neben dem Krankenhausgebäude noch eine Schule und Wohnhäuser der Schüler, Lehrer und Schwestern.
In Deutschland hätte es mich wahrscheinlich gestört, wenn ich nur einmal pro Tag Internet gehabt hätte, mit einem Eimer kaltem Wasser hätte duschen müssen, ich bei Stromausfall ohne Ventilatoren eingegangen wäre vor Hitze oder mir auf dem Flur eine Riesen-Kakerlake begegnet wäre. 

Aber irgendwie störte mich das in Indien nicht. Tatsächlich war ein Monat so weit ab von der Zivilisation und bei strahlend blauem Himmel auch entspannend. Um das Gelände herum erstreckten sich in der einen Richtung lange Wege mit riesigen Bäumen und Palmen, in der anderen Richtung Reisfelder, so weit man schauen konnte. Hin und wieder lief man durch kleine Siedlungen. Dort wurde ich natürlich angestarrt, aber ich bin schnell ein Meister im Freundlich-Zurückstarren geworden. Was mich nämlich neben meiner hellen Haut für immer anders aussehen lassen hat, war meine Größe. Und dabei rage ich mit 1,72 cm in Deutschland nicht wirklich aus der Menge heraus.

Essen und Menschen

Nicht nur das Apartment, sondern auch das Essen war in dem Preis von Via e.V. enthalten. Gegessen wurde mit den Ärzten und Angestellten in der Kantine. Morgens, mittags und abends gab es warmes Brot mit undefinierbaren Saucen, frittiertem Gemüse, Kartoffeln, frischen Gurken und Ei. Ich war begeistert, aber mein Bauch sah das leider anders. Ohne Probleme scharfes, ungewohntes Essen verspeisen können wahrscheinlich auch nur die wenigsten. Die Einnahme von „Tannacomp“ hat mir sehr geholfen. Und wo ich schon einmal bei den Medikamenten bin, kann ich dir auch empfehlen, eine kleine Reiseapotheke mitzubringen. Elektrolyte dürfen zum Beispiel keinesfalls fehlen.

Im Übrigen essen die Inder alles mit der Hand. Alles! Ich dachte, es sei schwer, Reis mit Stäbchen zu essen, aber wie isst man das ordentlich und dann ja nur mit der rechten Hand? Probier das mal aus! Auch Brot abbrechen mit einer Hand ist eine Herausforderung. Ab und zu half ich in der Küche beim Brot backen oder schaute beim Kochen über dem Feuer zu. Folgendes Gespräch habe ich dabei geführt:

Köchin: "Kocht ihr auch mit Feuer oder Gasherd?"
Ich: "Nein, wir benutzen Strom zum Kochen."
Köchin: "Aber was, wenn der Strom ausfällt?"
Ich: "Unser Strom fällt nie aus."
Köchin: "Aber was, wenn es stark stürmt oder heftig regnet?"

Manchmal vergaß ich, wie anders das Leben in Indien doch war. Ich musste zum Beispiel auch erklären, was Lasagne ist. Und jetzt stell dir mal ein Leben ohne Lasagne vor! Aber dann wiederum, stell dir vor, Lasagne nur mit der rechten Hand zu essen. Schwierig!
Ich war auch öfter auf dem Markt. Dort breiteten die ansässigen Bauern auf dem Boden viele bunte Gemüse- und Obstsorten aus, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Supermärkte suchte ich vergeblich. Ich habe zum Glück auch viel von der indischen Kultur mitbekommen. In dem einen Monat hatte ich das Gefühl, es gab das unausgesprochene Motto "keine Woche ohne eine Feier". Ich feierte zum Beispiel mit dem ganzen Ashram den Geburtstag des Gottes für Erziehung (Die Hindus haben viele Götter - für jeden Bereich einen). Alles wurde geschmückt, Hände wurden bemalt und Zeremonien abgehalten.

Das Krankenhaus

Das Mahatma Gandhi Eye Hospital wurde 2000 gegründet und operiert vor allem die ärmere Bevölkerung am Auge. Dabei wurden nicht nur die besser Verdienenden abgedeckt, sondern auch die Bevölkerung auf dem entfernteren Land. Einmal pro Woche fährt eine Gruppe vom Krankenhaus raus und untersucht die Menschen. Patienten mit grauem Star werden sofort eingepackt, zum Krankenhaus gefahren, operiert und am nächsten Tag zurückgefahren. Für umsonst. Das bedeutete für die Bevölkerung auf dem Land, dass sie wieder sehen und arbeiten können.

Morgens kamen dann aber auch andere Patienten zur Erstuntersuchung oder zur Untersuchung vor der OP, die am Nachmittag stattfinden sollte. Die Aufgaben als Pflegepraktikantin sind sehr unterschiedlich. Du solltest viel Eigeninitiative zeigen, um in möglichst viele Bereiche reinschauen zu dürfen. Ich habe mit dem Projektleiter anfangs einen Plan ausgearbeitet, nach dem ich dann alle 3-4 Tage rotiert bin. So habe ich viel Blutdruck in der Eingangsuntersuchung gemessen, den Schwestern bei ihrer Pflegearbeit geholfen, Augenverbände angelegt, Augeninnendruck und Sehschärfe bestimmt. Neben der Arbeit in der Pflege durfte ich aber auch im OP zuschauen, meine eigenen Brillen herstellen und in der Apotheke helfen. Dadurch habe ich die Abläufe im Krankenhaus sehr gut mitbekommen und konnte in jedem Bereich viel lernen.

Natürlich kann man sich die hygienischen Verhältnisse nicht wie in Deutschland vorstellen. Die Krankenschwestern tragen zwar alle Arbeitskleidung und die Ärzte Kittel, aber wie in einem normalen indischen Haus auch laufen alle barfuß herum. Im OP war ich dann tatsächlich hin und wieder geschockt. Operiert wurden vor allem Patienten mit grauem Star. Zu Beginn des OP-Tages war der Wartesaal brechend voll. Die Leute wurden lokal am Auge betäubt (leider immer mit der gleichen Spritze) und bekamen ein OP-Hemd über die normale Kleidung gezogen. Insgesamt waren immer vier Patienten im OP-Saal, deshalb gab es vier OP-Hemden. Nach jedem Patienten wurde es einmal gewendet. 

Zwei Patienten lagen jeweils auf zwei OP-Tischen nebeneinander, zwei weitere warteten auf Stühlen davor und schauten der OP vor ihnen zu. Der operierende Arzt saß am Kopfende. Sein Licht und Mikroskop konnte er wenden, sodass er ohne Pause zum Patienten daneben wechseln konnte. Fertig operierte Patienten wurde ohne Umschweife "hochgerissen", rausgeschoben, das OP-Hemd abgestreift und direkt dem nächsten übergeworfen. Der Doktor wechselte nur nach jedem zweiten Patient die Handschuhe. Das Laken, was für den einen Patient als Abdeckung ums Auge herum benutzt wurde, wurde für den anderen als Kopfunterlage wiederverwendet.

Vieles könnte verbessert werden und ich bin mir sicher, das würde es auch, wenn die Ressourcen zur Verfügung ständen. Bewundernswert war trotz alledem aber die schnelle Präzision, die die Doktoren an den Tag legten. 22 Patienten in 100 Minuten wurden ohne Pause operiert. Als die aufgesammelten Patienten aus den entfernteren Dörfern das Krankenhaus erreichten und auf die kostenlose OP am folgenden Tag vorbereitet wurden, wurde mir jedes Mal klar, was für ein großes Werk dieses Krankenhaus doch vollbringt.

Nicht nur die Hygiene unterschied sich von deutschen Krankenhäusern. Mir fiel sehr stark auf, wie wenig mit den Patienten kommuniziert wurde und vor allem auch in welchem Ton. Sollten Patienten aufstehen, wurden sie angeschrien mit „Steh auf!“ und oft hatte ich nicht das Gefühl, dass sie nach dem Aufklärungsgespräch wirklich wussten, was in der OP auf sie zukommen würde. So gerne hätte ich die OP nochmals erklärt oder überhaupt, was grauer Star ist, aber das war aufgrund der Sprachbarriere nicht möglich. Viele der Patienten sprachen und verstanden kein Wort Englisch. Da sich die Kommunikation dann auf Körpersprache beschränkte, war sie somit auch von meiner Seite eher gering. Die Krankenschwestern und Ärzte konnten aber alle gut Englisch sprechen, so dass ich meine offenen Fragen immer klären und mich unterhalten konnte. Mit den Schwestern habe ich dann meist auch die Abende verbracht.

Sicherheit

Oft wurde ich gefragt, ob es nicht zu gefährlich sei, allein als Frau nach Indien zu reisen. Zuallererst sei klar gestellt: Indien ist nicht immer Indien. Das Land ist riesig und in vielen Teilen so unterschiedlich, dass keine allgemein gültigen Aussagen gemacht werden können. Zum Osten Indiens, wo das Krankenhaus liegt, sei folgendes gesagt: In dem kleinen Örtchen Rashgovindpur haben die Leute wahrscheinlich Besseres zu tun, als zwei Deutsche zu überfallen, die dort für einen Monat wohnen. Ich war auch viel außerhalb des abgesicherten Bereiches unterwegs und wurde zwar angeschaut, aber habe nie Handgreiflichkeiten erlebt oder mich gefährdet gefühlt. 

Gefährlich können natürlich nicht nur Menschen sein, sondern auch Tiere und Krankheiten. Das Krankenhaus liegt im Malaria-Gebiet und so besaß ich Notfallmedikamente, die bei Infektion einzunehmen waren. Als Denguefieber Prophylaxe, auch von Mücken übertragen, helfen nur Tonnen an Mückenspray und Moskitonetze. Gegen Krankheiten, die die Patienten übertragen könnten, habe ich immer aufgepasst, sicher zu handeln und auch offen gesagt, wenn ich eine Arbeit aus diesen Gründen nicht ohne Handschuhe durchführen wollte.

Fazit

Der Monat ging viel zu schnell vorbei und ich war froh, dass ich einen weiteren Monat in dem Land reisend unterwegs war. Von Indien habe ich sicherlich noch nicht genug.Was dich bestimmt interessiert ist, ob du dir das Praktikum ohne Probleme anrechnen lassen kannst: Ich bin direkt nach meiner Rückkehr zum LPA in Marburg gegangen und habe mir die Anrechnung bestätigen lassen. Kein Problem.

Alles in allem habe ich in dem Monat viele neue Erfahrungen gesammelt, die mir mein ganzes Leben in Erinnerung bleiben werden. Auch, wenn ich von den Umständen herausgefordert wurde, oder gerade deshalb, habe ich mich in dem Monat nicht nur in medizinischer Hinsicht weiterbilden können, sondern habe mit Sicherheit auch fürs Leben gelernt.

 

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