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  • Bericht
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  • Anke Hildebrandt
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  • 31.03.2005

Der Weg aus der Sucht - Pflegepraktikum in der Psychiatrie

Alle Medizinstudenten kennen es, das Pflegepraktikum. Verbunden mit ungewohnt frühem Aufstehen und verlorener Zeit in den Semesterferien weckt es zumeist missmutige Erinnerungen oder Vorahnungen. Mit der richtigen Einstellungen und einem glücklichen Händchen für die richtige Station kann man mitunter viel aus den 90 Pflichttagen mitnehmen. Nachdem ich jeweils einen Monat des Praktikums in der Augenklinik und der Frauenklinik verbrachte, sollte das letzte etwas Besonderes werden. Durch den Tipp eines Mitstudenten fiel meine Wahl auf die Psychiatrie.

Psychiatrie - vom Irrenhaus weit entfernt

"Psychiatrie", allein das Wort löst nicht selten Stirnrunzeln aus. "Da laufen doch nur Verrückte rum" tönt es. Kaum jemand weiss, wie vielfältig die Krankheitsbilder in einer psychiatrischen Klinik sind. Die Psyche hat unumstritten großen Einfluss auf das körperliche Wohlbefinden. Ist die Seele krank, reagiert der Körper. Die Psychosomatik geht diesen Zusammenhängen auf den Grund. Zunehmend mehr Menschen leiden an Depressionen oder Lebenskrisen. Psychosen und Schizophrenie sind schwer fassbare Krankheiten, die viel Einfühlungsvermögen erfordern. Zu den Patienten der Gehlsdorfer Klinik gehören auch Suchtkranke. Bulimie und Magersucht zählen genauso dazu wie der Missbrauch von Tabletten, Drogen oder Alkohol. Die vier Wochen des Pflegepraktikums verbrachte ich auf der Suchtstation. Während dieser Zeit konnte ich viele Erfahrungen, vor allem mit alkoholabhängigen Patienten, machen.

 

Gebäude der Station P7 auf dem Klinikgelände in Gehlsdorf - Foto: Anke Hildebrandt

 

Ab wann bin ich Alkoholiker?

Eine häufig gestellte Frage. Niemand gibt gerne zu Alkoholiker zu sein. Sich die Sucht einzugestehen, ist der erste Schritt aus ihr heraus. "Ich trinke nur abends zwei, drei Bierchen. Ich bin nicht süchtig." So einfach ist das leider nicht. Es gibt keine genauen Angaben zu Trinkmengen, die jemanden zum Alkoholiker machen. Grundsätzlich gelten Männer mit einem täglichen Konsum von 30g Alkohol als suchtgefährdet. Das entspricht ungefähr 1,5l Bier oder 4cl Schnaps . Bei Frauen liegt dieser Wert bei 20 g Alkohol oder zwei Gläser Sekt.

Verschiedene Anzeichen legen eine Abhängigkeit nahe.

 

Alpha- oder Delta-Trinker?

Mit wissenschaftlicher Rationalität teilt die Medizin Alkoholkonsumenten anhand ihrer Trinkgewohnheiten in Gruppen ein.

Nummer 1: der Konflikttrinker (oder Alpha-Trinker)

Er trinkt in Stresssituationen und will damit seinen Kummer betäuben. Im medizinischen Sinn ist er kein Alkoholiker.

Nummer 2: der Gelegenheitstrinker (Beta-Trinker)

Er trinkt nur zu bestimmten Anlässen im Übermaß. Süchtig ist er ebenfalls nicht.

Jetzt zu den Trink-Typen, die mit einer Abhängigkeit einhergehen.

Nummer 3: der süchtige Trinker (Gamma-Trinker)

Er hat jede Kontrolle über sein Trinkverhalten verloren. Er fällt regelmäßig in den Vollrausch, ein Trinken in Maßen ist undenkbar.

Nummer 4: der Spiegeltrinker (Delta-Trinker)

Er bemüht sich laufend einen bestimmten Pegel an Blutalkohol zu haben. Er trinkt in Abständen über den Tag verteilt und ist nie nüchtern.

Nummer 5: der Quartalstrinker (Epsilon-Trinker)

Er braucht in unregelmäßigen Abständen Trinkexzesse. Zwischenzeitlich ist er manchmal über Monate abstinent.

Diese Einteilung erscheint sehr abstrakt. Dennoch zeigt sie die verschiedenen Facetten der Alkoholsucht, denen ich begegnet bin. Ob Gamma-, Delta- oder Epsilon-Trinker, ihre Abhängigkeit macht sie krank.

 

Die leise Sucht der Frauen

Wer denkt, dass die Alkoholsucht ein reines Männerproblem ist, der irrt. Während des Praktikums hatte ich auch Patientinnen. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren sind in Deutschland unter den 2,5 Millionen übermäßig Trinkenden 530.000 Frauen. Sie verbergen ihre Sucht meist geschickter nach außen und sind im Umfeld unauffällig. Was ist der Grund für den Griff zur Flasche? Der Statistik nach ist es vor allem die Überforderung im Job und in der Familie. Die Frauen fühlen sich dem Druck der Gesellschaft oft nicht gewachsen. Sie sehen im Trinken eine Möglichkeit abzuschalten, den Stress einfach zu vergessen. Im Gegensatz zu süchtigen Männern suchen Frauen die Schuld vermehrt bei sich selbst.

 

Egal ob Bier, Sekt, Wein oder Schnaps - alles kann abhängig machen - Foto: Pixabay / geralt

 

Das Trinken bleibt nicht ohne Folgen

Alkohol ist ein Zellgift mit schleichender Wirkung. Den Konsum in Maßen und in größeren Abständen kann der Körper ohne Schäden verarbeiten. Eine Alkoholabhängigkeit führt mit Garantie zu Langzeitschäden. Hier eine Auswahl von möglichen Folgen:

 

Stationäre Entgiftung

Wenn ein Patient in die Klinik zur stationären Entgiftung erscheint, muss das noch lange nicht freiwillig sein. Die wenigsten unterziehen sich dem ärztlich beaufsichtigten Entzug aus freien Stücken. In den meisten Fällen steht der Patient unter dem Druck vom Arbeitgebern oder der Familie, die dessen Sucht nicht mehr dulden wollen.
Aber auch Notfälle gehören zum Stationsalltag. Sinkt der Alkoholspiegel im Blut, entwickeln die Patienten unterschiedlich stark ausgeprägte Entzugserscheinungen (Schwitzen, Händezittern) Im schlimmsten Fall erleidet er einen Krampfanfall oder fällt ins Delir. Das ist ein sehr bedrohlicher Zustand, bei dem es zu sehr hohem Blutdruck, schnellem Puls, Fieber und Halluzinationen kommt.
Um die körperlichen Beschwerden während des Entzugs zu lindern, werden vom Arzt Medikamente verordnet. Weil Alkoholiker im Alltag oft sehr zurückgezogen leben, werden auf der Station auch gesellschaftliche Fähigkeiten geschult. Jeder Patient gehört einer Gruppe an, die dann zu bestimmten Zeiten zu den geplanten Therapien erscheinen müssen. Jede Gruppe hat einen Vorstand, der auf die Anwesenheit aller zu achten hat, wenn es zum Konzentrationstraining, zur Entspannung, zum Gruppengespräch oder zur Ergotherapie geht. Sogar die Visite findet in der Gruppe statt, jeder soll sich zu seinen Problemen offen bekennen.
Nach etwa einer Woche ist der körperliche Entzug beendet, in der Regel bleibt der Patient aber 14 Tage. In der zweiten Woche auf der Station wird der Patient angewiesen über seine Zukunft nachzudenken. Er kann Kontakte zu Entwöhnungskliniken oder Nachsorgeeinrichtungen knüpfen und Gesprächstermine wahrnehmen. Nicht selten brechen die Patienten die Entgiftung jedoch vorzeitig ab.

 

Alkoholiker bleibt man ein Leben lang

Auf den Weg in die Abstinenz ist die psychische Hürde weitaus höher als die körperliche. Nach ihrer ersten Entgiftung bleiben schätzungsweise nur etwa 2% "trocken". Viele Patienten sind regelmäßig zur Entgiftung in der Klinik, das Personal kennt meinen Erfahrungen nach etwa 90% der Aufnahmen von früheren Aufenthalten. Viele werden den Absprung vom Alkohol niemals schaffen. Wer sich nach der Entgiftung in eine Entwöhnungsklinik begibt, wird dort weitere drei Monate auf ein Leben ohne das Trinken vorbereitet. Wer auch das geschafft hat, kann sich trotzdem nicht als geheilt bezeichnen. Ein einziger Schluck Alkohol kann einen Rückfall auslösen. Und die Gefahr lauert überall: Anstoßen zu Silvester, Hustensaft, Parfum, sogar Schnapspralinen können zum Verhängnis werden. Es hilft nur eins, das Umfeld muss Bescheid wissen, Alkohol muss aus dem Leben verbannt werden. Ein Trinken in Maßen ist nicht möglich!

Der Umgang mit Alkoholikern ist nicht einfach. Sie stecken in einer Sucht, die ihr Leben bestimmt. Oft sind sie unehrlich zu sich selbst und zu anderen. Ich finde es sehr wichtig, Erfahrung mit Suchtpatienten zu haben, da man ihnen in allen medizinischen Bereichen begegnen wird. Also habt keine Angst vor der Psychiatrie, ein Pflegepraktikum dort ist sehr lohnenswert.

Quelle: T-Online Medizinforum

Kommentar eines Lesers (Name ist der Redaktion bekannt)

Ich finde diese Seite sehr informativ, aber es fehlen mir die verschiedenen Wege aus der Alkoholsucht.Die schulmedizinische Therapie ist ein Bestandteil, aber eben nur eine von vielen Möglichkeiten, sich aus der Alkoholsucht zu befreien bzw. mit ihr zu leben.

Eine weitere Form der Therapie ist die Selbsthilfe, die den Betroffenen die Möglichkeit gibt, aus den Erfahrungen anderer Alkoholiker zu lernen. Den Betroffenen wird vor Augen geführt, wie man es in der Praxis handhaben kann, ein Leben ohne Alkohol zu führen.Wer sollte es besser wissen, als ein trocken lebender Alkoholiker, der sich mühsam ein Leben ohne Alkohol aufgebaut hat.

Bei der Aufarbeitung seiner Sucht ist die Theorie nur ein kleiner Bestandteil. Theoretisch wissen es viele Menschen, dass ihr Alkoholkonsum nicht normal ist und sie alkoholgefährdet oder schon alkoholsüchtig sind.Ab das Umsezten in die Praxis, das richtige Handeln fällt den meisten Menschen sehr schwer. Selbsthilfegruppen, in denen dem Betroffenen das nüchterne Leben und der Weg dorthin vorgelebt wird, können durch keine schulmedizinische Theorie oder Therapie ersetzt werden. Dies zeigen auch viele Beispiele im Alkoholikerforum.

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