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  • 18.03.2020

COVID-19: Mediziner an die Front

Die Corona-Welle hat Deutschland längst erreicht, die Fallzahlen steigen täglich. Auch Medizinstudierende erleben die Dynamik hautnah mit. Prüfungen und Semesterstart sind abgesagt, stattdessen fordern Unis zur Mithilfe auf: Kliniken brauchen unser Engagement.

 

Ich fühle mich wie im schlechten Film, genauer gesagt wie in „Plague Inc“, der App, in der Spieler durch Seuchen virtuell die Menschheit auslöschen. Früher habe ich Mitschülern dabei zugesehen, wie sie heimlich im öden Geschichtsunterricht mit nicht ganz so öden Viren die Handy-Bevölkerung infiziert haben – genau daran muss ich aktuell denken, wenn ich die Nachrichten sehe, oder von Fallzahlen und Verboten lese. Der Geschichtsunterricht ist Jahre her, heute schreiben wir den 17. März 2020. Die Dynamik, mit der das Virus SARS-CoV-2 innerhalb einer Woche meinen Alltag umgekrempelt hat, ist fast zu krass, um wahr zu sein.
 
Ich gebe zu, anfangs habe ich das Virus noch nicht ernst genommen, der Fraktion „Schulterzucken, wird-schon-werden“ angehört. Im Januar habe ich allenfalls vereinzelt Meldungen aus China gelesen, mittlerweile besteht mein Newsfeed fast ausschließlich aus Beiträgen zu COVID-19. Muss man erst selbst betroffen sein, damit Probleme auf dem eigenen Radar auftauchen? Als ich im Februar eine Fernreise antrete, begegnen mir am Flughafen die ersten Menschen mit Atemschutz. Ein Familienvater teilt vor dem Boarding Masken an seine Kinder aus und ich schmunzle darüber, trotzdem (oder gerade deswegen?) werde ich fast paranoid, als die Dame im Sitz hinter mir während acht Stunden Flug ständig hustet und die Nase hochzieht. Auch zurück in Deutschland wechsle ich im Fernzug das Abteil, weil mein Gegenüber offensichtlich mit einem Infekt zu kämpfen hat.

Mein ganz normale Alltag aber war durch Corona noch nicht eingeschränkt, auch nicht, als die ersten Meldungen aus Deutschland kommen. Mittlerweile habe ich eine zweiwöchige Famulatur an der Uniklinik begonnen. Im Pausenraum scherzen die Ärzte, sie könnten neuerdings nur noch Bio-Milch in ihren Kaffee kippen – die gewohnte Billigmilch sei ausverkauft, weil erste Menschen Hamsterkäufe machen.  

Doch nicht nur Supermarktkunden haben den Verstand verloren. Unbekannte sind am Wochenende in das Zentrallager der Uniklinik eingebrochen und haben kistenweise Desinfektionsmittel gestohlen, auf den öffentlich zugänglichen Toiletten wird Sterilium nun nicht mehr nachgefüllt – Besucher montieren sonst die Flaschen ab und nehmen sie nach Hause mit. Auch das Personal ist zur Ressourcenschonung angehalten. Masken und Schutzanzüge werden kostbar, genauso Blut: Corona hat die Spenderzahlen dezimiert, hinzukommt das Grippe- und Erkältungstief. Auf dem Weg zur Arbeit gehe ich täglich an der Blutspende vorbei, vor deren Eingang nun rote Schilder mit Ausschlusskriterien und Desinfektionshinweisen prangern. Vierzehn Tage muss ich noch ausharren, bis ich wieder spenden darf.

In der zweiten Famulaturwoche stehe ich morgens in der Küche, in der einen Hand der Kaffee, der mich wach machen soll, in der anderen das Handy. Der Blick ins Mailpostfach wird zu dem Moment, in dem mir die Tragweite der Corona-Pandemie zum ersten Mal bewusst wird: Mail vom Studiendekan, der Semesterbeginn müsse aufgeschoben werden, Klausurtermine können nicht eingehalten werden, Kontakt zu Patienten sowie Kurse in Groß- und Kleingruppen dürfe es bis auf Weiteres nicht geben, man sei bemüht, einen Teil des Unterrichts durch Streaming und Videokonferenzen zu ersetzen. Meine erste Reaktion darauf ist egoistisch und nicht ganz uneigennützig: Ich hatte in der Zwischenzeit meine Blockpraktika für die kommenden Ferien gewählt und meinen Wunschtermin erhalten, doch plötzlich sah ich meinen Sommerurlaub in Gefahr. Auch stehen im nächsten Semester Sono- und Nähkurse auf dem Plan, die unmöglich durch ein Online-Angebot zu ersetzen sind. Auch, als ein paar Tage später erste öffentliche Veranstaltungen abgesagt werden, gilt meine Sorge zunächst dem geplanten Wochenendtrip und dem Fitnessstudio: Was, wenn die Reise ins Wasser fällt und man mir meinen Sport als Ausgleich nimmt?

Es ist, als hätte in dieser Woche jemand einen Schalter umgelegt. Sprach man früher übers Wetter, war nun „Corona“ allerorts das Thema. Eilmeldungen fluten das Handy fast im Stundentakt, erste Länder schließen ihre Grenzen, der Podcasts eines Virologen stürmt die Charts. Nach Feierabend möchte ich einen normalen Einkauf im Discounter machen und sehe die Ebbe im Nudel-Reis-Regal zum ersten Mal mit eigenen Augen, auch Seife ist längst ausverkauft. Fürchten Menschen im reichen Deutschland allen Ernstes, zu verhungern? Muss der eine seinen Toilettenpapiervorrat fürs nächste Jahr absichern, während der andere die letzte Rolle anbricht und in fünf Supermärkten keinen Nachschub findet?

Währenddessen fürchten Physikumskandidaten, dass die mündlichen Prüfungen aufgeschoben werden, und ERASMUS-Studenten werden ins Heimatland zurückgeschickt. Die Kantine der Uniklinik ist nur noch für Personal zugänglich, der Besuch von Patienten wird reglementiert, erste Gerüchte kursieren, dass Kliniken bald Medizinstudierende zur Freiwilligenarbeit aufrufen.

Ich fiebere dem Ende meiner Famulatur entgegen, obwohl mir die Arbeit Freude macht. Fünfzehn Tage muss ich vollkriegen, sonst wird vom Prüfungsamt nichts angerechnet. Während Blockpraktikanten ihre Arbeit schon abbrechen müssen, schaffe ich es tatsächlich, meine Famulatur auf den Tag genau zu beenden, bevor der Studentenunterricht gänzlich stillliegt. In Deutschland schließen erste Grenzen, Schulen, Kindergärten. Mein Wochenende möchte ich eigentlich in der Heimat verbringen, fürchte aber, nach zwei Wochen Krankenhausalltag unwissentlich meine Familie zu gefährden. Auch meine Mutter kreuzt den Plan vom Wochenende zuhause: Der Ehemann einer Kollegin sei Corona-positiv, ich solle besser in der Unistadt bleiben, eine Quarantäne will ich schließlich nicht riskieren.  

Der Aufruf folgt in E-Mail Nummer sechs: Der Studiendekan bittet im Namen der medizinischen Fakultät um Mithilfe. Wer kann und möchte, soll sich in der Patientenversorgung engagieren. Das gilt für alle denkbaren Bereiche, aber besonders auch für die Versorgung von Patienten mit COVID-19. Auch Intensivstationen werden auf das Engagement von Medizinstudierenden der höheren Semester angewiesen sein, und das betreffe auch die Überwachung der Beatmung.

Ich entschließe mich, zu helfen, fülle den zugehörigen Fragebogen aus, muss angeben, wo ich helfen möchte und wo nicht. Ob ich mir vorstellen kann, in der direkten Krankenversorgung von Corona-Patienten mitzuhelfen? Das Fach Anästhesie steht in meinem Studienverlauf noch aus. Ich frage mich, ob ich mir diese Form der Mithilfe nach einem angebotenen Crashkurs zutraue. Ich frage mich auch, ob es feige wäre, sich nicht für die direkte Versorgung der Virusopfer zu melden, sondern nur für andere Bereiche der Patientenversorgung, in denen Personal ebenfalls knapp wird. Habe ich Angst davor, mich selbst zu infizieren? Oder steckt bloß die Angst vor der Ohnmacht dahinter, weil es mir an Erfahrung im Umgang mit Schwerkranken fehlt? Ich stelle mir einen Sprung ins kalte Wasser vor, weiß, dass die Verantwortung groß ist, aber nicht meine Verantwortung allein.

Den Fragebogen habe ich schließlich ausgefüllt, eine Rückmeldung steht aus. Derweil frage ich mich: Wie sieht die Lage in einer Woche aus, in einem Monat, einem Jahr? Wann und inwieweit kommt Normalität zurück? Und wie kann und werde ich, nicht nur als Normalbürger, sondern als Medizinstudent, meinen Teil zur Überwindung dieser Pandemie beitragen?

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