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  • Patricia Huber
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  • 12.12.2014

Krebsdiagnosen menschlich vermitteln

„Das Leben eines Kranken kann nicht nur durch die Handlungen eines Arztes, sondern auch durch seine Worte verkürzt werden.“ So hieß es schon 1847 in der Gründungsschrift der American Medical Association. Die richtigen Worte zu finden, erfordert Übung – vor allem, wenn es darum geht, einem Patienten mitzuteilen, dass er Krebs hat. Je früher man damit anfängt, desto besser.

 

 

Herr Schulze, die gestrige Biopsie hat unseren Verdacht auf ein Adenokarzinom im Bereich des Colon descendens leider bestätigt.“ Im Arztzimmer könnte man jetzt eine Steck­nadel fallen hören. Das Gesicht des Patienten ist ein einziges Fragezeichen. Dann sprudelt es aus ihm heraus: „Ein was soll ich haben? Und wo soll das sitzen?“ Doch in diesem Moment schrillt der Pieper des Arztes. Der Chirurg linst auf die Anzeige und schüttelt ungehalten den Kopf, springt dann aber doch sofort auf. Beim Vorbeigehen klopft er seinem Patienten mitfühlend auf die Schulter. „Wir reden später weiter“, murmelt er ihm noch zu. Dann ist er schon zur Tür raus. Herr Schulze bleibt allein zurück – und starrt noch minutenlang stumm auf die gegenüberliegende Wand.
Nach wie vor wird Krebs von den meisten Betroffenen spontan mit Unheilbarkeit, Qual und frühem Tod assoziiert.

Der Arzt stößt seinen Patienten mit der Mitteilung dieser Diagnose unfreiwillig aus der normalen gesellschaftlichen Wirklichkeit und zieht ihm sprichwörtlich „den Boden unter den Füßen weg“. Dem Betroffenen wird abrupt die eigene Endlichkeit bewusst. Er hat das Gefühl, nicht mehr selber über seine Zukunft entscheiden zu können, fühlt sich hilflos und seinem Schicksal ausgeliefert. „Warum gerade ich?“ Viele Patienten suchen nach einer Tumoraufklärung verzweifelt nach einer Antwort auf diese Frage – und quälen sich damit vergeblich. Denn Krebs folgt keinen Regeln. Jeder dritte Europäer ist im Laufe seines Lebens davon betroffen. Allein in Deutschland entspricht das etwa 400.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Krebs ist nach Herz-Kreislauf-Problemen die zweithäufigste Todesursache. Entsprechend häufig gerät man als Mediziner in die Situation, eine Krebsdiagnose überbringen zu müssen.

Dabei sind es zwei Gesprächsteile einer Tumoraufklärung, die Ärzten – auch nach jahrelanger Erfahrung – besonders schwerfallen: erstens der angemessene Umgang mit den Emotionen des Patienten. Und zweitens das Ziel, zwar vollkommen ehrlich zu sein, gleichzeitig dem Patienten aber nicht die Hoffnung zu nehmen. Eine Richtlinie für die Vermittlung einer Krebsdiagnose bietet das sogenannte „SPIKES-Modell“. Dieses von dem Briten Dr. Robert A. Buckman und dem US-Amerikaner Dr. Walter F. Baile ent­wickelte Konzept empfiehlt, bei der Gesprächsführung in sechs Stufen vorzugehen:

 

„S“ für Situation

Damit der Arzt die Diagnose erfolgreich vermitteln kann, sollte er eine angemessene Gesprächsatmosphäre schaffen. Am besten eignet sich ein ruhiges Zimmer, das Arzt und Patient vor Störungen von außen behütet. Im Vorfeld sollte man dem Betroffenen das Gespräch mehrmals ankündigen, damit er sich darauf einstellen kann. Zudem sollte der Pa­tient gefragt werden, ob er das Beisein eines Angehörigen wünscht.

Dr. Elfriede Greimel, Expertin für onkologische Psychologie, sieht einige Vorteile darin, wenn ein Krebs­patient nicht alleine in ein Aufklärungsgespräch kommt: „Ist ein Angehöriger von Anfang an dabei, muss der Patient die schlechte Nachricht nicht alleine nach Hause tragen. Zudem hören vier Ohren einfach mehr als zwei, ganz besonders, wenn ein Gespräch emotional so überladen ist. Ein weiterer Vorteil, wenn Patient und Angehöriger denselben Informationsstand haben, ist, dass die beiden besser über die Krankheit kommunizieren können.“
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, wie viel Zeit man sich für das Gespräch nimmt. Je länger Sie mit dem Patienten sprechen, umso zufriedener und sicherer fühlt er sich danach. Fünfzehn Minuten sollten deshalb die absolute Untergrenze sein.

Leider kollidiert dieses Ziel oft mit den Zwängen des Klinikalltags: Vor allem im operativen Bereich stehen viele Ärzte unter enormem Zeitdruck. Auch den Grazer Gynäkologen Dr. Willibald Zeck quält dieses Problem: „Für ein gutes Ver­arbeitungs­­gespräch fehlt mir ­leider meist die Zeit.“ Um die Patienten mit ihren Sorgen dennoch nicht alleine zu lassen, holt er häufig einen Psychologen mit ins Boot. Anders läuft es auf den meisten Onkologie-Stationen: „Für das Gesamtpaket der Übermittlung einer Krebsdiagnose veranschlage ich in der Regel eine Stunde“, erzählt Prof. Günther Gastl, Leiter der onkologischen Station in Innsbruck. „Der Patient spürt, dass ich mir Zeit für ihn nehme, und die Stimmung ist so von Anfang an eine Spur erträglicher.“

Zur Gesprächsplanung gehört außerdem, sich schon im Vorfeld zu überlegen, welche Informationen man vermitteln will. Dabei ist vor allem die soziale und emotionale Situation des Patienten zu berücksichtigen. Zudem sollte man an den kulturellen und religiösen Hintergrund denken. „Auch nach 30 Jahren auf der Onkologie setze ich mich vor jedem Gespräch nochmal hin und strukturiere es für mich durch“, verrät Professor Gastl. „Ich frage mich, wie viel ich diesem Patienten zumuten kann und mit welchen Reaktionen ich rechnen muss.“ Für die Vorbereitung kann man Anamnese-Frage­bögen nutzen oder mit der zuständigen Pflegekraft sprechen. Die Erfahrung zeigt, dass ein eher ängstlicher, depressiver Typ auch unter einer Krebsdiagnose mehr leidet als jemand, der von Natur aus optimistisch gestimmt ist.

Der letzte entscheidende Punkt im Rahmen der Vorbereitung ist die richtige Anordnung der Sitzgelegenheiten: Die Stühle sollten weder zu weit voneinander entfernt noch zu nahe beieinander stehen. Am besten ist es, wenn die Gesprächspartner an einem Tisch über Eck sitzen.

 

„P“ für Patientenvorwissen, „I“ für Informationsbedarf

Gleich zu Beginn des Gesprächs sollten Sie Befürchtungen des Patienten ansprechen und hinterfragen. In der Allgemein­bevölkerung gilt Krebs immer noch als eine Art Todesurteil. Dank moderner Therapien überlebt heute aber mehr als die Hälfte der Tumorkranken. Allein mit diesem Fakt kann man die Diagnose relativieren und dem Patienten schon von ­Anfang an etwas Mut machen. Versuchen Sie sich ein Bild der Wissens­lücken des Patienten zu machen. Gute Einstiegsfragen können sein: „Welche Untersuchungen wurden bereits gemacht? Was wurde Ihnen dort gesagt? Was spüren Sie momentan von Ihrer Krankheit? Was wissen Sie bereits?“

Im nächsten Schritt sollten Sie versuchen, herauszu­finden, wie viel der Patient überhaupt erfahren möchte. Studien zeigen, dass im Schnitt 70 bis 90 Prozent der Patien­ten eine vollständige Aufklärung wünschen. Für die meisten sind Gefühle von Unsicherheit und Ungewissheit auf Dauer schwerer zu ertragen als eine bekannte schlechte Prognose. Zudem kann nur ein Patient, der Bescheid weiß, sich einer Situation voll stellen und seine Kräfte und Bewältigungsstrategien zielgerichtet mobilisieren. Wissen reduziert Ängste und steigert das Vertrauen in den Arzt. Ausschlag­gebend ist aber natürlich immer, wie viel Informationen der Patient wünscht und wie viel er verkraften kann. Versuchen Sie, das bei Ihrem Gesprächspartner zu erfühlen.

 

„K“ für Kenntnisse vermitteln

Nun kommt das Gespräch zum zentralen Punkt. Dem Pa­tien­ten muss die Botschaft vermittelt werden, dass er Krebs hat. Dr. Zeck empfiehlt, die Diagnose nicht schönzureden, aber dennoch vorsichtig zu sein: „Für die Patienten ist es wichtig, dass man ehrlich ist. Trotzdem vermeide ich Ausdrücke, die mit dem baldigen Tod assoziiert werden könnten. Im Grunde kommt es ja nur darauf an, dass der Gesprächspartner versteht, dass etwas Bösartiges in ihm wächst und er den Ernst der Lage erkennt.“ Andererseits müssen aber auch nicht alle Details verraten werden. Ganz nach dem Motto: „Alles, was gesagt wird, muss wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, muss gesagt werden.“ Statt von ,Tumor‘ oder ,Karzinom‘ sprechen viele geübte Ärzte von ‚Geschwulst‘ oder ‚Gewächs‘ – damit kann der Patient meist leichter umgehen und er ist nicht unnötig schockiert.

Am besten, man startet mit einer Vorwarnung, wie zum Beispiel: „Ich muss Ihnen jetzt eine Mitteilung machen, die für Sie sehr unangenehm sein wird.“ Dann gibt man die In­formationen scheibchenweise weiter, wobei hier auf eine klare und verständliche Ausdrucksweise zu achten ist. ­Zwischendurch sind Pausen wichtig, damit sich der Krebskranke mit dem Gesagten auseinandersetzen und nach­fragen kann. Mögliche Reaktionen sind abzuwarten und zu respektieren. Prof. Gastl gibt folgenden Rat: „Sobald Sie den Patienten eingeweiht haben, sollten Sie fragen, was angekommen ist, und die Behandelbarkeit seiner Erkrankung in den Vordergrund stellen. Gemeinsam mit der Diagnose sollte stets Hoffnung vermittelt werden. Egal, wie trist die Situation sein mag, es gibt immer Informationen, mit denen Sie einem Patienten Mut machen können.“

„E“ für Exploration der emotionalen Reaktion

Im nächsten Schritt sollten Sie versuchen, den Gefühlen Ihres Gegenübers Raum zu geben. Typischerweise durchlebt ein Tumorpatient fünf unterschiedliche Phasen: Verleugnung, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Die einzelnen Gefühle können dabei gleichzeitig vorkommen, verschieden lang andauern oder auch ganz ausbleiben. Fragen Sie den Patienten, wie es ihm geht, und achten Sie auch auf nonverbale Signale. „Es ist immer besser, wahrgenommene Emotionen sofort anzusprechen“, rät Dr. Greimel. „Manche Patienten sind so in ihren Gefühlen gefangen, dass sie den Rest der Erklärungen gar nicht mehr mitbekommen. Nur wenn man offen danach fragt, kommt man wieder auf die Ebene der Informationsvermittlung zurück.“ Dabei ist wichtig, dass Sie dem Betroffenen Zeit geben, seine Gefühle zu formu­lieren. Pausen und Schweigen sind wichtig. So kann der Patient die zu bewältigende Realität „portionieren“ und es vermeiden, von seinen Gefühlen überschwemmt zu werden.­

 

„S“ für Strategie und Zusammenfassung

In der letzten Gesprächsphase sollten Sie gemeinsam mit dem Patienten die nächsten Schritte festlegen. Diesen Teil könnten Sie zum Beispiel so beginnen: „Starten wir jetzt mit der Behandlung, ist ganz entscheidend, wie Sie darauf ansprechen. Schlägt die Therapie an, haben wir schon viel bessere Karten.“ Damit wecken Sie die Neugier des Patienten und schenken Hoffnung. Für Rückfragen sollten Sie jederzeit zur Verfügung stehen und diese mit Geduld und Feingefühl beantworten. Auf keinen Fall sollten Sie Vermutungen bezüglich der Prognose äußern. Es ist zwar verständlich, dass sich der Erkrankte gerne einen Zeitplan zurechtlegen würde. Aber bei Krebs handelt es sich um ein so komplexes Geschehen und der Verlauf ist derart individuell, dass man trotz Statistiken bis heute nicht einschätzen kann, wie es beim Einzelnen weiter­gehen wird. Damit um den Patienten ein möglichst dichter Auffangschirm entsteht, können Sie Psychologen und Selbst­hilfegruppen empfehlen. Ganz am Ende des Gesprächs ist es wichtig, einen neuen, festen Termin zu vereinbaren, das vermittelt zusätzliche Sicherheit.

 

 

Belastung – auch für den Arzt

Machen Sie nicht den Fehler, angesichts der Last, die Sie durch die Krebsdiagnose dem Patienten aufladen, die eigene Bürde gering zu schätzen. Viele Ärzte fühlen sich während einer Tumoraufklärung hilflos und überfordert. Manche fürchten sich vor möglichen emotionalen Reaktionen des Gegenübers oder haben Angst, nicht auf alle Fragen eine Antwort zu kennen. Vor allem jüngere Ärzte nehmen Probleme häufig noch mit nach Hause. Auch Dr. Zeck gibt zu, dass er nach Dienstschluss nicht immer sofort abschalten kann – trotz jahrelanger Erfahrung. „Ab und zu frage ich mich, ob ich vielleicht was Falsches gesagt habe. Aber das wird mit den Jahren immer weniger“, erklärt der junge Gynäkologe. Das schlimmste Aufklärungsgespräch musste er während seiner Turnusausbildung in Großbritannien durchstehen: Der verantwortliche Oberarzt ließ ihn mit einer Familie alleine, die nicht verstehen wollte, warum ihr kleiner Sohn sterben soll. Schuld an der Misere war vor allem sein Englisch – es war zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht gut genug, um die nötige Sensibilität zu vermitteln. Nach Jahren der Übung läuft es aber auch bei Dr. Zeck anders: „Heute kann ich nach den ersten paar Sequenzen eines Gesprächs einschätzen, wie schockierend die Nachricht für das Gegenüber sein wird, und mich dementsprechend verhalten. Ich versuche mich in meinen Gesprächspartner hineinzuversetzen und zu erspüren, was er wohl fühlen wird, wenn er nachher den Raum verlässt. Oft stelle ich mir auch vor, dass der Patient ein naher Verwandter ist. Dadurch gehe ich automatisch noch gefühlvoller an das Gespräch heran.“

 

Krebs verändert Körper und Geist

Mit dem Aufklärungsgespräch beginnt für die Patienten eine Leidenszeit, die manchmal auch nach erfolgreicher Therapie nicht endet. Etwa 30 Prozent zeigen noch nach Jahren ein „posttraumatisches Stresssyndrom“. Dennoch wirkt sich der dramatische Einschnitt für viele sehr positiv aus: „Ich erlebe oft, wie Patienten durch ihre Krankheit zu neuen Einsichten kommen“, berichtet Dr. Greimel. Viele würden es im Nachhinein sogar bedauern, hätten sie diesen neuen Weg nicht kennengelernt. Durch die schwere Erkrankung und den damit verbundenen Leidens­weg relativiert sich viel. Die Betroffenen lernen, im Hier und Jetzt zu leben, eine Kunst, die vielen anderen bereits abhanden gekommen ist. Dr. Greimels abschließender Tipp: „Überlegen Sie sich mal, was es für Sie persönlich bedeuten würde, an Krebs zu erkranken. Diese Selbstreflexion ist der beste Lehrmeister.“ Zudem ist wichtig, dass man als Arzt Sätze wie „Ich kann nichts mehr für Sie tun“ oder „Es gibt keine Hoffnung“ endgültig aus seinem Repertoire streicht. Man kann immer etwas tun, und es gibt immer Hoffnung! Auch dann, wenn keine Aussicht auf Heilung besteht.

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