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  • Carina Wels
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  • 04.12.2015

Kopflos – Exkurs in Exekution und Empathie

Die Dekapitation (das Enthaupten) zum Zwecke von Hinrichtungen hat eine umfangreiche Vergangenheit in den Epochen der Menschheit. Mythische Berichte über kopflos wandernde Körper oder abgeschlagene Häupter, die Minuten nach der Exekution noch bei klarem Verstand gewesen seien, rumoren seit Jahrhunderten in den Vorstellungen vieler Menschen. Doch was passiert wirklich mit dem wortwörtlichen Corpus Delicti?

 

Wir schreiben das Jahr 1400, ein Mann namens Klaus Störtebeker macht als Piratenführer der sogenannten Vitalienbrüder das norddeutsche Küstengebiet unsicher und überfällt Hamburger und englische Schiffe. Auf Beschwerden des englischen Königs Heinrich dem V. hin, wird verstärkt Jagd auf den sagenumwobenen Freibeuter gemacht.

Der Legende nach sei seine erfolgreiche Festnahme einem abtrünnigen Seeräuber zu verdanken, der das Schiff der Piraten manövrierunfähig machte, indem er Blei in die Steuerung goss. So sollen rund 70 Seeräuber im April 1401 bei Helgoland gefangen genommen worden sein.

Auf seine Exekution wartend, traf Störtebeker der Sage zufolge eine sonderbare Vereinbarung mit dem Henker: Sobald sein Kopf abgeschlagen sei, würde er sich erheben und entlang seiner verurteilten Crew gehen. Jene seiner Kameraden an denen sein kopfloser Körper vorbeischreiten könne, sollten verschont werden.

Angeblich soll der Leib des Enthaupteten noch an elf Seeräubern vorbei gelaufen sein, bevor ihm jemand ein Holzscheit zwischen die Beine warf. Trotzdem sollen seine Kameraden hingerichtet worden sein.

Nun fragen wir Mediziner uns vielleicht, ob es wirklich möglich ist, sich wie der beschriebene Delinquent kopflos zu behaupten. Und wenn ja, in welchem Umfang?

 

Galvanische Experimente

Zuerst werfen wir einen Blick auf die Geschichte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entdeckte der italienische Arzt und Anatom Luigi Galvani durch Zufall bei Experimenten die Kontraktion präparierter Froschschenkel unter dem Einfluss von statischer Elektrizität. Dieses Phänomen ist unter der historischen Bezeichnung ,,Galvanismus’’ bekannt und bezeichnet die Erforschung von Muskelkontraktion durch elektrischen Strom. Dies führte zur Herausbildung der modernen Elektrophysiologie. Seinerzeit galt der Galvanismus als biologische Grundlagendisziplin. Dieser Forschungszweig ging davon aus, dass vorhandenes Metall in Geweben eine spezifische Energie, genauer eine distinkte Form der Elektrizität, freisetze. Zu Anfang konzentrierte man sich auf Experimente am Tierkadaver, insbesondere an abgetrennten Köpfen, wodurch der Begriff ,,Tierenergie’’ Gestalt annahm.

Der Neffe von Luigi Galvani führte jedoch wenig später auch öffentlich galvanische Experimente an Enthaupteten durch.

So heißt es in einem Bericht zur Untersuchung von durch die Guillitone Hingerichteten aus Mainz im Jahre 1803: Die „Hirnhälften [wurden] bis zum größten Umkreise des Marks weggenommen. Die negative Kette wurde auf die eine, die positive auf die andere Hirnhälfte angebracht, und die große Flasche entladen. Auf die ersten Schläge entstanden starke Bewegungen in den Muskeln der Nase, des Mundes und der Backen. Auf die folgenden Schläge sah man mehrmals Bewegungen in den Muskeln des ganzen Gesichts.“ (1)

Jene galvanischen Experimente lieferten schließlich die Vorlage für Mary Shelly’s Roman ,,Frankenstein’’. (2)

Nach und nach wurden zunehmend moralische Bedenken gegen die galvanische Forschung laut. So erklärte der deutsche Arzt, Sozialhygieniker und Volkserzieher Christoph Wilhelm Hufeland, dass die Reizung eines enthaupteten Kopfs vermutlich zu Empfindungen, Bewusstsein und Schmerzen führe. Es sei unmoralisch und ungesetzlich, einen Menschen nach seinem Tode auf eine solche Weise zu martern. (3) Derartige Ansichten führten zu einer zunehmenden Kritik der Praxis des Guillotinierens, für eine „humane Hinrichtung“ sei eine schnelle Zerstörung des Gehirns notwendig, da nur so lang anhaltende Schmerzen vermieden werden könnten. (4) (5)

Die galvanische Theorie wurde schließlich nach 1800 durch weitere Forschung von dem italienischen Physiker Alessandro Giuseppe Antonio Anastasio Graf von Volta, zu dessen Ehren die Maßeinheit für die elektrische Spannung international mit der Bezeichnung Volt betitelt wurde, widerlegt. Volta gilt als Erfinder der Batterie und als einer der Begründer der Elektrizitätslehre.

 

La décapitacion

Ebenfalls bestehen Überlieferungen aus der Zeit der Französischen Revolution z. B. über vermeintliche Sprechversuche abgetrennter Köpfe. Der deutsche Arzt Johannes Wendt und der Franzose Séguret stellten Versuche an, um die Reaktionen der Köpfe zu erforschen. Danach sollten sie beispielsweise noch reflexartig die Augen schließen, wenn eine Hand schnell auf das Gesicht zubewegt oder der Kopf hellem Licht ausgesetzt wurde. Nach einem Bericht des französischen Arztes Gabriel Beaurieux von 1905 habe der Kopf eines guillotinierten Verbrechers sogar noch etwa 30 Sekunden auf Zurufe reagiert. (6)
Ähnliche Beobachtungen über Hamida Djandoubi, die letzte in Frankreich enthauptete Person (1977), sind überliefert. (7)

 

Das Nachleben

Ron Wright, seines Zeichens ein forensischer Pathologe, ging davon aus, dass nach der Abtrennung des Kopfes das Gehirn für etwa 13 Sekunden weiterleben könne. Zumindest habe er Augenbewegungen innerhalb dieses Zeitraums festgestellt. Jedoch sei die genaue Spanne, die das unversorgte Gehirn überlebe, von chemischen Faktoren abhängig wie z. B. der verfügbaren Sauerstoffmenge zum Zeitpunkt der Enthauptung.

Damit endete jedoch die Ära der gesetzlich angeordneten Enthauptungen und der entsprechenden Forschung in Europa.

 

Anatomie und Neurophysiologie

Genug zur Historie, nach heutigem Wissenstand und physiologischen Gesetzen treten unmittelbar nach der Enthauptung eine Kette von Ereignissen ein. Die spinalen Nervenfasern bestehen aus Axonen, das Durchtrennen dieser bewirkt eine im physiologischen Höchstmaß ansteigende Frequenz von Aktionspotenzialen. Dies ist gleichzeitig mit dem sofortigen Ausfall der lateralen Hemmung verbunden.
So setzt sich innerhalb von 300 Millisekunden eine massive und unkontrollierte Ausbreitung der Erregungsmuster ins Gehirn fort, wobei sich sämtliche Formationen beteiligen. Das führt wiederum zu einer sofortigen Bewusstlosigkeit und einer tiefgreifenden, irreversiblen Störung sämtlicher zerebraler Funktionen. Eine ähnliche, jedoch um viele Potenzen schwächere unkontrollierte Erregungsausbreitung kennen wir von epileptischen Anfällen, hier beteiligen sich allerdings nur wenige Areale.

Die Bewusstlosigkeit eines abgetrennten Kopfes hingegen ist bereits durch den Ausfall der lateralen Hemmung massiv und irreversibel. Bewusste oder höher verarbeitete Reaktionen eines abgetrennten Kopfes auf Zurufe sind nach Ablauf der 300 Millisekunden also zuverlässig auszuschließen. Man spricht hier auch von einem zerebralen Schock, der unter jeden Umständen in dieser Situation eintritt. Die Abläufe innerhalb der ersten Sekunden nach der Abtrennung sind heute ebenfalls sicher bekannt. Da die enorme unkontrollierte Erregung in den durchtrennten und letal geschädigten Axonen aus zellphysiologischen und energetischen Gründen nur über wenige Sekunden aufrecht erhalten werden kann, setzt deren biologischer Tod bereits innerhalb weniger Sekunden nach ihrer Durchtrennung ein. Dies ist eine Kausalität, die eintritt, da die Fähigkeit, Aktionspotenziale zu transportieren, ein essentieller und lebensnotwendiger Stoffwechselbestandteil aller Neurone ist. Werden die intrazellulären Reserven an ATP erschöpft, kommt die Tätigkeit der Ionenpumpen (aktive membrandurchspannende Proteine) zum Erliegen, was zum sofortigen biologischen Tod der durchtrennten spinalen Axone führt. Das Absterben setzt sich rapide von der Stelle der Durchtrennung bis ins Gehirn fort, wo es nach ca. 5 Sekunden die zugehörigen Soma, von denen sie stammen, erreicht. In diesem Moment sterben diese Soma unabhängig vom verfügbaren Sauerstoff ab. Dieses Geschehnis stellt den funktionellen Tod dar, da die Erregungsmuster ein wichtiger Faktor im Zellstoffwechsel sind. Die ehemalige Auffassung, die Zellsoma könnten noch bis zur Erschöpfung der Sauerstoffversorgung weiter leben und funktionieren, ist schlichtweg falsch.

Bis hierher unberücksichtigt ist der enorm ansteigende Energiebedarf der Zellen, der mit der Aktivitätserhöhung einhergeht. Die Reserven sind vermutlich wesentlich schneller verbraucht als beispielsweise bei einer Unterbrechung der Blutzufuhr, wie sie bei anderen Traumata vorkommen kann, bei denen der zerebrale Schock z. B. bei Unfallopfern ausbleibt. In jedem Fall sind bei abgetrenntem Kopf innerhalb von ca. 20 Sekunden, vermutlich aber früher, alle ATP Reserven verbraucht und die Repolarisationsfähigkeit der Zellmembranen endet.

Eine Ausnahme bilden hier nur ganglienzellulär basierte Erregungskreise, die außerhalb des Gehirns lokalisiert sind und überwiegend Reflexe ermöglichen. Da diese Erregungskreise in Bezug auf das Gehirn hauptsächlich afferent verschaltet sind und nur wenig efferenten Input erhalten, können sie noch während der fatalen Vorgänge im Gehirn gezeigt werden. Hierzu zählt beispielweise der Lidschlußreflex, der ähnlich wie spinale Reflexe funktioniert. Parallel dazu kann auch der vom Kopf abgetrennte, der sogennante spinalisierte Körper, noch Reflexe zeigen. Somit erklären sich Beobachtungen, nach denen ein abgetrennter Kopf noch auf eine schnell auf ihn zubewegte Hand reagiert haben soll. Reflexe wie diese sind jedoch kein Zeichen einer zerebralen Präsenz oder gar einer bewussten Reaktion. Beobachtungen wie Kiefer und Zungenbewegungen entstammen efferenten Reaktionen, wie sie auch bei epileptischen Anfällen auftreten. Sie lassen also nicht darauf schließen, dass der abgetrennte Kopf noch versucht etwas zu sagen. Auch hier kann man nur von unwillkürlichen Muskelbewegungen sprechen. Letztendlich kann es sich bei entsprechenden Überlieferungen und Berichten aus der Literatur nur um legendenhafte Ausschmückungen handeln. Die Beobachter der besagten Geschehnisse werden vermutlich, durch die geringe Aufklärung über die ablaufenden physischen Prozesse, von ihrem naiven Erklärungsmodell getäuscht worden sein. Hinzu kommen weitere Faktoren wie groteske Mutmaßungen über das Nachleben der Köpfe oder Körper, die jedoch vornehmlich durch Legenden und makabere Darstellungsweisen in historischen Fama gezeichnet sind. (8), (9), (10), (11)

 


 

Literatur

(1) Anonym „Galvanische und elektrische Versuche an Menschen- und Tierkörpern. Angestellt von der medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz“, Frankfurt am Main, Andreäische Buchhandlung, 1804, S.45f.

(2) Mary Shelley Frankenstein oder Frankenstein oder Der moderne Prometheus, Nachdruck Frankfurt am Main, Insel, 1988

(3) Carl Fridrich Clossius Über die Enthauptung, Tübingen, Heerbrandt, 1797, S.28

(4) Emil Heinrich Du Bois-Reymond Untersuchungen über thierische Elektrizität, Band 1, Berlin, 1848, S.XV

(5) Eduard Hitzig und Gustav Fritsch Über die elektrische Erregbarkeit des Großhirns, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin, 1870, S. 308

(6) Beaurieux (Vorstand des Krankenhauses in Orléans) wohnte der Guillotinierung des Mörders Henri Languille am 25. Juni 1905 um 5.30 Uhr durch den Scharfrichter Anatole Deibler in Orléans bei. Er schreibt in seinem Bericht: „Die Augen und der Mund von Languille bewegten sich noch krampfhaft. Nach sieben Sekunden hörten sie auf. Ich rief ihn mit seinem Namen: ‚Languille!‘ Die Augen öffneten sich wieder, und er schaute mich direkt an. Es waren keine leblosen Augen, sondern Augen, die lebten und genau wussten, was sie taten.“ Vgl. Morain, Alfred, The underworld of Paris – Secrets of the sûreté, E.P. Dutton & Co., Inc., London 1931, S. 300 („Henri Languille, the bandit who has terrorized the Beauce and the Gatinais“), Psychische Studien – Monatliche Zeitschrift, vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens gewidmet, Leipzig 1905, S. 505 f.

(7) Jeremy Mercer When the guillotine fell: the bloody beginning and horrifying end to France’s river of blood, 1791–1977. St. Martin’s Press, New York 2008

(8) Volker Mergenthaler Medusa meets Holofernes. Poetologische, semiologische und intertextuelle Diskursivierung von Enthauptung. Peter Lang, Bern

(9) Hermann Fischer St. Johannes Enthauptung. Johannesberg mit seinen Filialkirchen. Kunst-SCHÄTZE-Verlag

(10) Vladimir Nabokov Einladung zur Enthauptung. Roman. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek

(11) José Lezama Lima Spiel der Enthauptungen. Erzählungen. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main

 

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