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  • 03.04.2014

Teil 8: Die Schattenseite des vegetarischen Glücks

Katharina ist Vegetarierin – aus Überzeugung, schließlich leben Vegetarier viel gesünder. Warum das nicht immer stimmt, muss sie eines Tages am eigenen Leib erfahren.

 

Foto: ccvision

 

Katharina ist einfach phantastisch. Sie ist eine vegetarische Koch-Künstlerin. Wann immer wir in der kleinen Küche ihrer Mediziner-WG sitzen und unsere Gespräche mal wieder kein Ende finden, zaubert sie die herrlichsten Gerichte aus den Dingen, die der Kühlschrank so hergibt. Unvergessen sind ihr Konfit aus süßem Senf und roten Zwiebeln, dazu ein selbst gebackener Brotkranz gefüllt mit frischem Basilikum und getrockneten Tomaten oder ihre legendären Vegi-Bagels, belegt mit gebratenen Selleriescheiben, frischer Mango und Salat. Kein Wunder, dass die Abende dann noch länger werden.

Katharina war fast Zeit ihres Lebens Vegetarierin, sie bevorzugte meist sogar die vegane Ernährung unter völligem Verzicht auf tierische Nahrungsmittel und ihr Schatz an köstlichen Rezepten ist schier unendlich. Dies alles änderte sich vor einigen Wochen.

Ihre Krankengeschichte begann eines Morgens im Stadtpark. Normalerweise joggt sie vor dem Frühstück 45 Minuten. An diesem Tag schaffte sie nicht einmal die Hälfte. Sie musste sich auf einer Parkbank ausruhen und als sie ihre Blicke schweifen ließ, bemerkte sie, dass die Welt um sie herum in ein gelbes Licht getaucht zu sein schien. Sie maß dem keine große Bedeutung bei. Schließlich war es Semesterende mit dem üblichen Klausurenmarathon und der war mal wieder so richtig anstrengend. In den nächsten Wochen kamen neue Symptome hinzu. Sie bemerkte ein seltsames Kribbeln in den Beinen und ihre Füße schmerzten immer wieder und waren oft kalt. Auf das Joggen verzichtete sie irgendwann ganz. „Man muss es mit dem Sport ja auch nicht übertreiben und ein wenig Müßiggang kann nicht schaden“ dachte sie und verbrachte ihre Zeit vor dem Fernseher und immer häufiger auch im Bett. An dem Tag, als sie merkte, dass sie auf der Flurtreppe – die sie für gewöhnlich flink hinauf sputete – plötzlich gangunsicher, ja nahezu ataktisch war, wie sie es von Patienten mit Kleinhirninfarkten kannte, vereinbarte sie einen Termin bei ihrem Hausarzt. Dann ging alles ganz schnell.

Sie wurde mit Verdacht auf Multiple Sklerose zu einem Neurologen überwiesen. Bereits die Anamnese und die körperliche Untersuchung ergaben einen umfangreichen Befund: Parästhesien in den Beinen, Farbsehstörungen, Kältemissempfindungen und Schmerzen der unteren Extremitäten, spinale Ataxie und depressive Verstimmung. Hinzu kamen abgeschwächte Reflexe im Sinne einer Polyneuropathie und eine Störung der Tiefensensibilität. Es folgten eine Liquorpunktion und eine Blutuntersuchung. Dass der Neurologe eine MS bereits beim Erstgespräch als eher unwahrscheinlich erachtete, hielt sie für eine feige Beschwichtigungstaktik des jungen Mediziners. Katharina hatte sich seither nämlich intensiv mit dem Krankheitsbild auseinandergesetzt und war auf das Schlimmste vorbereitet.

Der Neurologe behielt Recht. Die Blutuntersuchung ergab eine hyperchrome megalozytäre Anämie und die für die MS typischen oligoklonalen Banden waren in Katharinas Liquor nicht auszumachen. Die Diagnose lag auf der Hand: funikuläre Myelose. Dabei handelt es sich um eine Demyelinisierung der Hinter- und Seitenstränge des Rückenmarks. Der Nervus opticus kann ebenso befallen sein wie das Marklager des Gehirns, wo spongiöse Veränderungen kennzeichnend sind. Die Urasche der Erkrankung ist ein chronischer Vitamin B12-Mangel. Katharinas Serumspiegel lag bei 11 pg/ml. Normalwerte bewegen sich zwischen 150 – 1000 pg/ml. Der Befund war die zwingende Folge ihrer streng vegetarischen Ernährung für mehr als 20 Jahre.

Katharina hatte Glück. Der Markscheidenzerfall hatte noch nicht zu einer irreversiblen Axonschädigung geführt. Damit waren sämtlich Symptome innerhalb kurzer Zeit so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Sie erhielt eine intramuskuläre Vitamin B12-Injektion und stellte auf Anraten des Neurologen ihre Ernährung um. Ihre Vorliebe für vegane und vegetarische Kost behielt sie bei, doch einmal pro Woche erweitert sie nun ihren Speiseplan um ein Fleischgericht.

Neulich waren zwei Kommilitoninnen, Katharina und ich joggen. Auf der Treppe ihres Hausflures stürmte sie voraus und rief uns von oben entgegen: „Heute gibt es hausgemachte Pizza mit Parmaschinken, frischem Rucola und süßen Honigtomaten von meinem neuen Pizzastein“. Es wurde mal wieder ein langer Abend mit unserer fröhlichen Katharina.

 

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