- Fachartikel
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- Maren Oldörp
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- 01.08.2011
Stich- und Schnittverletzungen im Klinikalltag
Fast jeder, der in der Medizin tätig ist, hat den Wunsch anderen Menschen zu helfen. Dabei sind die Helfer in Weiß auch Gefahren für die eigene Gesundheit ausgesetzt. Stich- und Schnittverletzungen gehören dazu. Sie passieren täglich tausendfach und jedes Mal stellt sich die Frage: Was für eine Krankheit kann ich mir damit einfangen? Und was muss ich tun, wenn es passiert?
Verletzungen im medizinischen Bereich sind keine Seltenheit. Die ständige Gefahr im OP (Skalpelle, Nadeln) betrifft alle chirurgischen Fächer. Weiterhin kommen viele andere Gegenstände in Frage, an denen man sich verletzen kann: Kanülen, Braunülen, Lanzetten, usw. Außerdem ist der Laborbereich ein Risikogebiet. Nicht nur die Stich- und Schnittverletzungen sind eine Gefahr, sondern auch die Kontamination von Schleimhäuten mit Risikomaterial - der Spritzer ins Auge beispielsweise. Viren gehören zu den gefährlicheren Erregern, die übertragen werden können. Dazu gehören die Hepatitis B, C und D-Viren, HIV und CMV.
Hepatitis-B-Virus
Die Hepatitis B hat sich inzwischen in Deutschland zur wichtigsten Berufserkrankung im Gesundheitswesen entwickelt. 90% der Erkrankungen heilen aus, ca 5-10% werden aber chronisch. Ein Teil der Patienten entwickelt im Laufe der Jahre ein hepatozelluläres Karzinom. In Deutschland gibt es jährlich etwa 20.000 bis 50.000 Neuinfektionen. Etwa 7% der Bevölkerung hat irgendwann einmal im Leben eine HBV-Infektion durchgemacht (anti-HBc positiv), jedoch ist die Infektion nicht bei allen chronisch geworden. Die Seroprävalenz für die chronische Hepatitis B-Infektion (chronische HbsAg-Träger) in der Bevölkerung beträgt etwa 0,5%, bei ungeimpften medizinischem Personal ist sie höher. Schätzungsweise 500.000 Virusträger (300.000- 650.000 nach RKI-Angaben) leben in Deutschland - eine ganze Menge also. Die perkutane Übertragungsrate bei Verletzungen beträgt zwischen 10 und 30%. Die Hepatitis B ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Es gibt eine Impfung gegen diese Erkrankung. Sie wird für alle im Gesundheitswesen tätigen Personen empfohlen! (In der Regel werden die Kosten vom Arbeitgeber übernommen).
Hepatitis-C-Virus
Die Hepatitis C ist zwar nicht so häufig wie die Hepatitis B, dafür entwickelt sich aber in 60 bis 80% eine chronische Hepatitis. Auch hier droht das hepatozelluläre Karzinom. Ein erhöhtes Risiko sich mit Hepatitis C zu infizieren scheinen einigen Untersuchungen zufolge die Thoraxchirurgen, Gynäkologen und Urologen zu haben. Die Seroprävalenz von Anti-HCV in der Bevölkerung beträgt nach einer Untersuchung von 1998 ungefähr 0,4 % (RKI, Bundes-Gesundheitssurvey 1998). In Deutschland erkranken pro Jahr schätzungsweise 5.500 Personen neu an einer Hepatitis C. Es gibt etwa 275.000 Virusträger. Die perkutane Übertragungsrate für die Krankheit, gegen die es noch keine Impfung gibt, liegt bei circa 2 bis 3%.
Hepatitis-D-Virus
Das Hepatitis-D-Virus benötigt das Hepatitis-B-Virus um sich zu vermehren. Wer sich also gegen Hepatitis B durch eine Impfung geschützt hat, hat gleichzeitig indirekt einen Schutz gegen Hepatitis D erworben.
HIV - Human Immunodeficiency Virus
Das HI-Virus ist mit Sicherheit das Virus, das am meisten Schrecken verbreitet. Die Gesamtzahl der neu entdeckten Infektionen (ist nicht gleich frische Infektionen) pro Jahr in Deutschland liegt bei etwa 2.000. Aufgeteilt nach den verschiedenen Risikogruppen ergibt sich folgendes Bild: Homo- und Bisexuelle ca 1.000 Neuinfektionen/Jahr, Drogenabhängige (i.v.-Drogenkonsum) ca 200 Neuinfektionen/Jahr, Heterosexuelle 300 - 400 neu Infizierte im Jahr. Hinzu kommen noch die Migranten aus Hochprävalenzregionen (Schwarzafrika, Karibik, Südostasien, ca. 400 Neuinfektionen pro Jahr).
Die Gesamtzahl der HIV-Infizierten und an AIDS Erkrankten ist in der letzten Zeit in Deutschland angestiegen. Das wird zum einen auf die verbesserten Therapiemöglichkeiten zurückgeführt. Neue Therapien verzögern das Auftreten von AIDS und verlängern dadurch die Überlebenszeit der Patienten. Zum anderen hat sich die Zahl der Neuinfizierten hat auf einem Level eingepegelt bzw. scheint in den letzten Monaten wieder einen leichten Aufwärtstrend zu haben. Die Ursache liegt hier in einem gestiegenen Risikoverhalten in der Bevölkerung (ungeschützter Verkehr, mangelndes Wissen).
Wie läuft eine Infektion ab? Das Virus ist durch Schleimhautläsionen oder Verletzungen der Haut in den Körper eingedrungen. Zum Andocken an den CD4-Zellrezeptor benötigt es etwa 2 Stunden. Diese Zahl ist wichtig - in dieser Zeit sollte eine medikamentöse Postexpositionsprophylaxe/Postexpositionsbehandlung begonnen werden (siehe unten). Die Phagocytose in aufnahmebereite Zellen dauert 20 Minuten. Die sich anschließende reverse Transkription nimmt 6 Stunden in Anspruch. Anschließend folgt die Integration ins Wirtsgenom - 3-6 Stunden sind dafür nötig. Nach 12 Stunden folgt dann die Aktivierung des Virus. Bei für das Virus günstiger Lage können diese Prozesse also an einem Tag abgeschlossen sein. Um den gesamten Körper mit Viren zu überschwemmen reichen 2 bis 3 Wochen aus. Etwa ab dem 11. Tag kann die Virus-PCR positiv sein. CAVE! Eine negative PCR schließt das Vorhandensein von Viren nicht aus! Nach ungefähr 5 Wochen können Antikörper gegen das HIV-Virus nachgewiesen werden.
Infektionsfähige Viren sind in den verschiedenen Körperflüssigkeiten in unterschiedlicher Konzentration enthalten. Frisches Blut enthält viele infektionsfähige Viren. Bei steigender Temperatur nimmt die Infektiösität ab. Bei abnehmender Temperatur bleibt sie aber erhalten! Bei Raumtemperatur beträgt die Plasmahalbwertszeit ungefähr 12 bis 24 Stunden. Getrocknetes Blut soll nach 30 Minuten nicht mehr infektionsfähig sein. Inaktivieren lässt sich das HI-Virus durch Desinfektion mit 70%-igem Ethanol über 1 Minute oder 35%-igem Isopropylalkohol über 2 bis 10 Minuten.
Eintrittspforten können ebenso Schleimhäute (Mund- und Augenschleimhaut eingeschlossen) wie auch verletzte oder ekzematöse Haut sein. Intakte Haut ist für das Virus undurchdringbar. Verletzungen wie Stich- und Schnittverletzungen mit einem direkten Kontakt zur Blutbahn sind ebenfalls eine Eintrittsmöglichkeit.
Das Übertragungsrisiko und die infektiöse Dosis sind von verschiedenen Faktoren abhängig:
- Art der Verletzung, Eintrittspforte
- Dauer der Exposition mit virustragendem Material
- Art des virustragenden Materials
- Anzahl der übertragenen Viruspartikel
- Virulenz des Erregers und Resistenzen durch eventuelle vorhergehende antiretrovirale Therapie des Indexpatienten
- Viruslast des Indexpatienten (Viruslast = Anzahl der Viruskopien pro ml)
- Funktionsfähigkeit des Immunsystems des Verletzten, unspezifische Immunität an verletzter Stelle
Ein einzelnes Viruspartikel hat keine Chance eine Infektion zu verursachen. Die infektiöse Dosis wird auf 100 bis 500 Viruspartikel geschätzt. Je mehr empfängliche Zellen in der Nähe der Eintrittspforte liegen, desto leichteres Spiel hat das Virus. Empfängliche Zellen sind Zellen mit einem erhöhten Umsatz (aktivierte Zellen). Das HI-Virus befällt Lymphozyten, Makrophagen, Zellen des Magen-Darm-Traktes, Gliazellen des ZNS und Langerhanszellen der Haut.
Bei Transfusion von Vollblut oder Plasma an einen Empfänger ist das Übertragungsrisiko nahezu 100%. Von der Mutter auf ein Neugeborenes ohne Prophylaxe sind Übertragungsraten von 10 bis 30% beschrieben worden. Bei perkutanen Verletzungen mit spitzen oder scharfen Gegenständen im medizinischen Bereich besteht ein Risiko von 1:300. Das Risiko ist bei tiefen Wunden 16x höher. Bei sichtbaren frischen Blutspuren oder einer Kanüle, die in einer Vene / Arterie platziert war, ist das Risiko 5fach erhöht. Bei einer hohen Viruslast des Indexpatienten ist das Risiko 6x höher.
Ein erniedrigtes Risiko besteht bei Kontakten von HIV-kontaminiertem Material mit Schleimhaut oder entzündlich veränderter Haut. Es gibt deutschlandweit ungefähr 600 bis 1.500 berufliche Expositionen mit HIV pro Jahr. Daraus entwickeln sich 2 - 5 beruflich erworbene HIV-Infektionen pro Jahr in der Bundesrepublik. Auf einen Großraum wie Hamburg bezogen, würde das bedeuten, dass etwa jeden 2. bis 6. Tag ein im Gesundheitswesen tätiger Mensch HIV-exponiert ist. (A. Plettenberg et al, Workshop HIV-Postexpositionsprophylaxe, Bundesgesundheitsblatt 2000, Suppl.1)
Bakterien, Pilze, Parasiten
Stich- und Schnittwunden können sich infizieren. Hier stehen vor allem Staphylokokken und andere Bakterien an erster Stelle. Pilze und Parasiten werden seltener übertragen. Bei einer bakteriellen Infektion ist eine chirurgische Therapie und eine Antibiose angezeigt.
Maßnahmen im Verletzungsfall
Was tun, wenn es passiert ist und die Kanüle in den eigenen Finger ging oder das Skalpell den Assistenten trifft? Hier ist eine Zusammenstellung einiger wichtiger Verhaltensregeln für den Ernstfall.
1. Lokale Maßnahmen: Bluten lassen (ausdrücken, aber nicht die Wunde quetschen), 5-10 Minuten Desinfektion - Es wird angenommen, dass diese Maßnahmen teilweise effektiver als eine medikamentöse Postexpositionsprophylaxe (PEP) sind.
2. Vorgesetzte informieren und den Kontakt zu fachkundigen Personen aufnehmen (Infektiologische oder Mikrobiologische Abteilung) für die Indikationsstellung für eine PEP, Beratung und Betreuung
3. bei ausreichendem Verdacht auf eine HIV-Infektion des Indexpatienten (fraglich oder gesichert) sofortiger Beginn einer medikamentösen Postexpositionsprophylaxe innerhalb von 2 Stunden. Die PEP kann immer noch abgebrochen werden, wenn sich der Verdacht nicht bestätigt. Ein verspäteter Beginn kann allerdings fatale Folgen haben. Wenn notwendig sollte gleichzeitig ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden, um eventuell die Medikamente anzupassen zu können.
4. Aufsuchen eines D-Arztes um eine Meldung an den zuständigen Kostenträger (Unfallversicherung) durchzuführen. Genaue Dokumentation!
Weiterhin sollten folgende Maßnahmen durchgeführt werden:
- Patientenstatus (HBV, HCV, HIV) sichern. Das Einverständnis des Patienten insbesondere bezüglich eines HIV-Tests sollte sorgfältig dokumentiert werden.
- Feststellung des HBV, HCV, HIV- Status des Verletzten
Bei HCV-Kontakt wird empfohlen alle 2 Wochen bis zum Monat 3 die Transaminasen zu kontrollieren. Bei einem Anstieg sollte zusätzlich die HCV-RNA untersucht werden. Nach 6 Wochen, 3 Monaten und 6 Monaten werden HIV-Antikörper und HCV-Antikörper bestimmt (HCV-Antikörper nochmals nach 12 Monaten). Ein akutes fiebriges Krankheitsbild in den ersten drei Monaten nach Exposition sollte Anlass für eine HIV-PCR geben. Bei einem positiven Befund wird eine Schwerpunkteinrichtung die weitere Betreuung übernehmen. Bis 12 Monate nach Exposition muss von Blutspenden Abstand genommen werden. Bis zum Vorliegen eines aussagefähigen HIV-Tests nach 3 Monaten sollte Safer Sex praktiziert werden, um den Partner nicht zu gefährden.
Postexpositionsprophylaxe bei Hepatitis B, Hepatitis C und HIV-Infektionen
Postexpositionsprophylaxe (PEP) bedeutet, dass nach erfolgter Exposition versucht wird, die Infektion zu verhindern. Eine Garantie dafür, dass dies wirklich gelingt, gibt es nicht.
Hepatitis B
hat das höchste Übertragungsrisiko (10-30%). Bei der Postexpositionsprophylaxe der Hepatitis B stehen lokale Maßnahmen (siehe Abschnitt HIV) an erster Stelle. Als HBV-haltig gelten alle Materialien, die HBs-Ag-positiv sind und auch alle Materialien, bei denen eine Kontamination wahrscheinlich, aber eine Testung nicht durchführbar ist (Kanülen oder Nadeln im Abfall). Bei Geimpften sind keine Maßnahmen notwendig, wenn folgende Vorraussetzungen erfüllt sind: der Betroffene hat nach erfolgter Grundimmunisierung ein Anti-HBs > 100 IE/l, die letzte Impfung liegt nicht länger als 5 Jahre zurück ODER innerhalb der letzten 12 Monate wurde ein Anti-HBs-Wert > 100 IE/l festgestellt.
Eine sofortige einmalige Impfung gegen Hepatitis B erfolgt, wenn der Anti-HBs-Titer nach durchgeführter Grundimmunisierung > 100 IE/l betragen hat, die letzte Impfung liegt 5 bis 10 Jahre zurück.
Eine umgehende Testung (innerhalb 48h) des Betroffenen wird gemacht, wenn der Betroffene nicht oder nicht vollständig geimpft ist ODER der Betroffene zu den Low- oder Non-Respondern gehört, (also die Impfung nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat und der Anti-HBs-Titer nach der Grundimmunisierung < 100 IE/l betrug) ODER beim Betroffenen der Impferfolg nie kontrolliert worden ist (also nach der 3. Impfung der Grundimmunisierung keine Bestimmung des Anti-HBs-Titers erfolgte) ODER die letzte Impfung vor mehr als 10 Jahren durchgeführt worden ist. Je nachdem, wie das Testergebnis ausfällt, sollte HB-Impfstoff und / oder HB-Immunglobulin verabreicht werden (> 100 IE/l keine Impfung/ Immunglobulin; zwischen 10 und 100 IE/l nur HB-Impfstoff; weniger als 10 IE/l HB-Impfstoff und HB-Immunglobulin). Sollte das Testergebnis nicht innerhalb von 48 Stunden verfügbar sein, wird HB-Impfstoff und HB-Immunglobulin gegeben.
Hepatitis C
Auch hier stehen lokale Maßnahmen im Vordergrund (siehe Abschnitt HIV). Eine medikamentöse Postexpositionsprophylaxe existiert derzeit noch nicht. Es gibt Ansätze für eine Interferon-Frühtherapie, aber genaue Richtlinien bestehen nicht.
HIV
Lokale Maßnahmen sollen eine besseren Effektivitätsgrad haben als die medikamentöse PEP.
Punkt 1: Blutfluss fördern. Dazu kann eine Kompression einige Zentimeter von der Wunde entfernt erfolgen. Nie direkt die Schnittstelle komprimieren! Sollte die Wunde nicht bluten, kann eine Inzision erwogen werden - allerdings nur, wenn chirurgisch geschultes Personal sofort verfügbar ist. Am besten geschieht die Inzision mit Hochfrequenz- oder Laserchirurgie. Gefäßverengende Anästhetika sind zu vermeiden. Statt dessen kann Chloräthyl-Spray verwendet werden. Insgesamt sollte die Wunde etwa eine Minute bluten.
Punkt 2: Antiseptische Behandlung. Ein getränkter Tupfer soll auf die Wunde getan werden. Bei HIV-Exposition werden jodophorhaltige Präparate empfohlen, da dies auch intrazellulär wirkt. Bei HCV / HBV-Exposition ist 80%er Ethanol das Mittel der Wahl. Die antiseptische Behandlung ist über mindestens 10 Minuten durchzuführen.
Bei geschädigter Haut muss die Wunde und die Umgebung gereinigt werden. Bei Kontamination der Augenschleimhaut wird 5%ige wässrige PVP-Lösung zum Spülen empfohlen. Im Falle einer Kontamination der Mundschleimhaut soll das Material ausgespuckt und 5 mal 15 Sekunden mit 80%igem Ethanol gespült werden (im Notfall geht auch Leitungswasser).
Die Postexpositionsprophylaxe ist "definiert als die Behandlung einer Person, die mit einer anderen, tatsächlich (oder möglicherweise) mit HIV infizierten Person / Sache derart in Kontakt getreten ist, dass eine Infektion mit HIV zumindest potentiell möglich ist." (T. Volmer, Workshop HIV-Postexpositionsprophylaxe, Bundesgesundheitsblatt 2000, Suppl.1: S37-S44). Sie bietet keine Gewähr für einen Schutz vor der Übertragung. Es ist ein Ansatz und Versuch, die Übertragung zu verhindern. Die Wirksamkeit einer PEP ist bisher noch nicht durch Studien belegt sondern eine rein pathophysiologisch-pharmakokinetisch theoretische Annahme.
Bei der Indikationsstellung sind unter anderem folgende Fragen wichtig:
- Ist die Indexperson fraglich oder sicher HIV-Infiziert?
- Waren Blutspuren am Material?
- In welchem Stadium der Infektion befindet sich die Indexperson?, Viruslast der Indexperson
- Hat die Indexperson bereits eine antiretrovirale Therapie erhalten?
Eine PEP wird empfohlen, wenn das Risiko größer als 1:300 ist (z.B. wenn die Kanüle vorher in einer Vene oder Arterie platziert war). In anderen Fällen kann sie angeboten werden. Auf jeden Fall sollte ein Facharzt mit Kenntnissen auf diesem Gebiet hinzugezogen werden!
Die Postexpositionsprophylaxe/- behandlung nach den Deutsch-Österreichischen Empfehlungen von 2002, sieht folgendes Schema vor: 2 Reverse-Transkriptase-Inhibitoren und ein Protease-Inhibitor (nicht für Schwangere). Die Prophylaxe muss über 4 Wochen eingenommen werden. Schwangere dürfen keine Protease-Inhibitoren erhalten.
Reverse-Transkriptase-Inhibitor | Protease-Inhibitor |
Combivir (Lamivudin + Zidovudin) 2 x 450 mg | Kaletra (Lopinavir/Ritonavir, 2 x 400/100mg) oder Viracept (Nelfinavir, 2 x 1250 mg) oder Sustiva (Efavirenz 1 x 600mg) |
Über Alternativen zu den angegebenen Medikamenten informieren die Deutsch-Österreichischen Empfehlungen, nachzulesen auf der Homepage des RKI. Die PEP muss möglichst schnell beginnen: innerhalb der ersten 2 Stunden nach der Exposition. Wenn sie innerhalb von 24 Stunden begonnen wird, hat sie nur noch eine eingeschränkte Wirkung. Eine Modifikation des Schemas kann abhängig von der antiretroviralen Therapie des Indexpatienten erfolgen.
Folgendes gilt: Auf Nummer sicher gehen und die PEP möglichst frühzeitig beginnen. Aufhören kann man immer noch, wenn der Kontakt zu Spezialisten hergestellt ist und weitere Recherchen stattgefunden haben. Bei nicht sicherem Ausschluss einer Schwangerschaft muss sofort ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden. Stillende Mütter sollten eine Stillpause einlegen oder abstillen.
Die akuten Nebenwirkungen einer PEP veranlassen immerhin etwa 30% der Betroffenen die Einnahme vorzeitig abzubrechen. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrationsstörungen, Übelkeit und Diarrhoe. Hinzu kommt immer die psychische Situation, die zusätzlich belastet. Über potentielle Spätfolgen einer PEP ist wenig bekannt. Störungen Fertilität, des Fettstoffwechsels und der Glucosetoleranz werden in Betracht gezogen.
Außerdem sind zahlreiche Medikamenteninteraktionen möglich, da verschiedene Enzymsysteme der Leber inhibiert oder induziert werden. Folgende Medikamente können Interaktionen machen (Liste nicht vollständig): bestimmte Sedativa(Midazolam, Triazolam), Antihistaminika (Terfenadin), Kalziumantagonisten, Beta-Blocker, Antikonvulsiva (Carbamazepin, Phenobarbital, Phenytoin), Johanniskraut, Antiarrhytmika (Amiodaron, Flecainid, Propafenon, Chinidin), Neuroleptika, einige Analgetika, Tuberkulostatika, Lipidsenker, orale Kontrazeptiva, Gerinnungshemmer (Cumarine). Als Alternativen kommen beispielsweise folgende Präparate in Frage (nur in genauer Rücksprache mit dem behandelnden Arzt): Sedativa (Temazepan, Lorazepam), Antidepressiva (z.B. Fluoxetin, Paroxetin, Desipramin, Sertralin), Analgetika (Paracetamol, ASS, Codein, Tramadol), Antihistaminika (Cetirizin, Loratadin), Prokinetika (Domperidon, Metoclopramid).
Primärprophylaxe - der bessere Weg
Die wichtigste Maßnahme ist die Primärprophylaxe. Dazu gehören die Expositionsprophylaxe, also das Meiden jeglicher Risiken und die Einhaltung der Hygiene- und Unfallverhütungsvorschriften. Schwangere Mitarbeiterinnen dürfen nicht auf Infektions- oder Intensivstationen tätig sein. Zu den allgemeinen Schutzmaßnahmen vor Virusinfektionen gehört das sofortige Desinfizieren kontaminierter Flächen. Ebenso ist das Tragen von Handschuhen oder Schutzbrillen bei bestimmten Tätigkeiten eine Schutzmaßnahme. Ein Handschuh ist bei einer Stichverletzung eine weitere Schutzhülle, die zur Reduktion des übertragbaren Materials betragen kann. Die weit verbreitete Sitte, die Handschuhe irgendwann einfach wegzulassen beim Blutabnehmen, weil ja nie was passiert ist und es ohne angeblich besser geht, stellt ein vermeidbares Risiko dar! Hautläsionen und Abschürfungen sollten abgedeckt sein.
Spitze Gegenstände sind schnellstmöglich und sorgfältig zu entsorgen. Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass ausreichend Handschuhe und Abwurfbehälter sowie anderes benötigtes Material zur Verfügung stehen. Auch ist er dafür zuständig, dass Informationen zum Vorgehen bei Verletzungen für alle Mitarbeiter gut zugänglich sind. Vorgesetzte haben eine besondere Kontroll- und Aufsichtspflicht. Wenn Euch der Stationsarzt beispielsweise ermahnt, bei Blutentnahmen Handschuhe zu tragen, dann ist das nicht, um Euch zu ärgern, sondern er kommt damit seiner Aufsichtspflicht nach.
Zu den Verhaltensregeln, die besonders für Studenten wichtig sind, gehört auch, dass bei Blutentnahmen ein ruhiges Arbeitsklima herrscht. Am besten: hinsetzen. Das nimmt schon etwas Stress weg. Der Abwurfbehälter sollte in erreichbarer Nähe stehen und Handschuhe benutzt werden. Kanülen bitte NIE, wirklich NIEMALS in die Hülle zurückstecken!
Ein weiterer Teil der Primärprophylaxe sind die Impfungen. Neben den öffentlich empfohlenen wie Tetanus, Diphtherie, Polio ist die Hepatitis-B-Impfung wichtig. Für Mitarbeiter im Gesundheitswesen übernimmt die Kosten der Arbeitgeber. Impfungen führt der Betriebsarzt durch. Für einen ausreichenden Langzeitschutz (vollständige Grundimmunisierung) sind drei Impfungen nötig (0, 1 Monat, 6 Monate). Nach der zweiten Impfung setzt der Impfschutz ein. Vier Wochen nach der dritten Impfung ist eine Antikörpertiter-Testung empfehlenswert, um den Impferfolg zu überprüfen. Es gibt in der Bevölkerung etwa 1-5% Non-Responder. Das bedeutet, dass diese Personen keinen (Non-Responder) bzw. nur einen reduzierten (Low-Responder) Impfschutz aufbauen. Für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren ist die Impfung derzeit kostenlos (Kostenträger gesetzliche Krankenversicherung). Inzwischen gibt es den Impfstoff auch als Kombination mit einem Hepatitis A- Impfstoff.
Neue Perspektiven?
Das Robert-Koch-Institut hat im Jahr 2001 mit einer Studie zur Postexpositionsprophylaxe bei beruflicher HIV-Infektion begonnen, um Daten zu diesem wichtigen Thema zu gewinnen und Hinweise auf die Wirksamkeit der PEP zu erhalten. In anderen Ländern laufen derzeit ebenfalls Studien dazu.
Für die Mediziner in den Praxen und kleineren Krankenhäusern strebt man Verbesserungen an. In peripheren Krankenhäusern sollen Notfalldepots eingerichtet werden, um so die logistischen Vorraussetzungen für eine schnellstmögliche Versorgung an allen Orten zu schaffen. Vorreiter ist hier das Land Mecklenburg-Vorpommern. Der AIDS-Ausschuss der Ärztekammer hat ein flächendeckendes Netz von Ansprechpartnern im gesamten Bundesland geschaffen und Notfalldepots eingerichtet.
Auch auf dem Gebiet der Medizintechnik gibt es Weiterentwicklungen. Verschiedene Firmen stellen seit einigen Jahren bereits Braunülen her, die einen speziellen Mechanismus haben (z.B. eine Art Dach, das sich über die Kanülenspitze legt). So sollen Stichverletzungen vermieden werden. Die Braunüle, an der sich niemand mehr stechen kann. Die Materialkosten sind etwa 2,5 mal so hoch wie für die normalen Braunülen. Aber was ist das schon im Vergleich zur Gesundheit eines Menschen? In Amerika sind diese Braunülen bereits seit einigen Jahren weit verbreitet, in Deutschland lernt man sie erst kennen.
Und wie stehts mit Impfungen gegen HIV und Hepatitis C? - Zur Zeit sind leider noch keine wirksamen Impfungen in Sicht. Prognosen, wann eine Impfung gegen HIV zu haben sein wird, gibt es genügend. Es bleibt abzuwarten, wann sie tatsächlich auf den Markt kommt.
Links zum Thema
Startseite Robert-Koch-Institut
Robert-Koch-Institut - HIV und AIDS
Grogans Healthcare Supply - Hersteller von Medizintechnik
Wissenschaftliche Beratung:
Dr. med. Matthias Lademann, Abt. f. Tropenmed. und Infektionskrankh., Universität Rostock
Quellen:
Dieser Artikel bezieht sich auf Stich- und Schnittverletzungen im medizinischen Bereich. Trotz größter Bemühungen bei den Recherchen übernehmen wir keine Verantwortung oder Haftung für die hier veröffentlichten medizinischen Informationen. Die gemachten Angaben sind nicht zwingend umfassend und basieren auf dem Stand der Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Sie ersetzen in keinem Fall die Konsultation eines spezialisierten Arztes, der das jeweilige Vorgehen im Einzelfall entscheiden muss! Die Angaben sind teilweise den "Empfehlungen zur Postexpositionellen Prophylaxe der HIV-Infektion" der Deutschen und Österreichischen AIDS-Gesellschaft und Veröffentlichungen des Robert-Koch-Institutes entnommen (Epidem. Bulletin, Workshop HIV-Postexpositionsprophylaxe, Impfempfehlungen der STIKO am RKI). Weitere Quellen: ), Herold "Innere Medizin", Harrisons Innere Medizin, KV-Journal MV 11/2003. Ein Dankeschön gilt Herrn Dr. V.-S. Eckle, Trier, für seine inhaltlichen Hinweise.