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  • Veronika Holter
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  • 06.07.2021

Sozialphobie - Ein Leben in Stille

Die soziale Phobie ist eine häufig auftretende psychische Störung, und doch beibt sie oft unerkannt. Denn: Betroffene ziehen sich zurück und leiden leise. Hier erfährst du, wie du auf eine Sozialphobie aufmerksam wirst und was du dagegen unternehmen kannst.

 

 

"Ach, du bist eben ein bisschen schüchtern, das wird schon." Ein ermutigendes Schulterklopfen, ein aufmunterndes Lächeln - für die meisten ist das Thema damit beendet. Nicht aber für Betroffene. Mit Sozialphobie zu leben bedeutet einen täglichen Spießrutenlauf: Am liebsten würden sie sich verschanzen, weglaufen, einfach in Ruhe gelassen werden. Aber wie soll man einer Welt entrinnen, deren Fundament die Begegnung und Interaktion mit anderen Menschen ist? Wie viel Leid liegt wirklich unter der ruhigen Oberfläche versteckt? Und wie kann man gegen die Stigmatisierung ankämpfen?

Gedankenlesen leicht gemacht

7-16% aller Menschen tragen mindestens einmal in ihrem Leben die steinerne Maske der Sozialphobie mit sich herum. Das ist eine ganze Menge: Nach der Alkoholabhängigkeit und der Depression landet diese Angststörung auf dem respektablen dritten Platz der häufigsten psychischen Störungen. Die Phobie beginnt oft bereits im Kindes- oder Jugendalter und schränkt dann besonders den Schulalltag ein. Doch weil sie nur selten als solche erkannt wird, beginnt eine Abwärtsspirale - die Störung wird chronisch.

Mein 11-jähriges Ich sitzt im Klassenraum - ganz hinten natürlich -  „Bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen“ lautet die Devise. Meine mündliche Beteiligung  hat schon lange komplett ausgesetzt. Zu überwältigend ist das Gefühl, die abwertenden und verurteilenden Blicke der anderen Schüler*innen bei jedem potentiellen Satz von mir schon förmlich aus ihren Gesichtern ablesen zu können. Zu groß die Panik, gleich knallrot anzulaufen, mich zu verhaspeln, den Satz zu vergessen. Mein Herz und meine Gedanken rasen - ich schweige.

Hier setzt das ein, was viele als „Overthinking“ kennen: Jeder mögliche Ausgang einer Situation wird bis in kleinste Häppchen zerlegt.  Letzendlich glaubt man, sich die (natürlich negativen) Gedanken aller anderen Anwesenden bereits vollständig erschlossen zu haben und wird komplett handlungsunfähig. Plötzlich erscheint es absolut plausibel, dass der ganze Raum in schallendes Gelächter ausbricht, sobald man den Mund aufmacht. Deshalb hält man ihn lieber und kurzzeitig setzt Beruhigung ein, denn wer nichts sagt, bietet auch keine Angriffsfläche. Oder? 

Ein Kreislauf der Angst

Was das Verständnis dieser und vieler anderer Störungen gleichzeitig erleichtern und erschweren kann, ist vor allem eins: Wir alle kennen verwandte Empfindungen in unterschiedlicher Ausprägung, denn Angst ist uns schließlich allen ein Begriff. Wer vor einer Präsentation oder Prüfung schon einmal Herzklopfen oder schwitzige Hände bekommen hat, weiß, wovon ich spreche. Angst mag gut und wichtig sein, doch es ist die „Überdosis“, die krank macht.

Herzklopfen, Schweißausbrüche, Übelkeit oder Muskelanspannung sind auch bei der Sozialphobie typische körperliche Reaktionen auf Auslöser wie Prüfungen, Reden oder Essen in der Öffentlichkeit - bis hin zu einer Panikattacke ist alles möglich. Die Angst bezieht sich also konkret auf Situationen, in denen man von anderen Menschen beobachtet oder gar bewertet wird, insbesondere die Konfrontation mit fremden Menschen oder Autoritätspersonen. Die Auswirkung der Sozialphobie erstreckt sich somit auf viele Lebensbereiche.

Eine Steigerung erfährt das Ganze schließlich noch durch die „Angst vor der Angst“: Erröten beispielsweise fällt unangenehm auf, man wird mich dafür verurteilen, so die Annahme. Daraus folgt oft ein Vermeiden sozialer Situationen, die Betroffenen verlieren soziale Kontakte, die Angst nimmt zu, so dreht sich die Spirale weiter und weiter.

Liegt das Schicksal in den Genen?

Die Angst fällt nicht weit vom Stamm: Wer Sozialphobiker*innen in der Familie hat, verfügt über ein 3-mal so hohes Risiko, selbst zu erkranken wie jemand aus einer unbelasteten Familie. Um welche einzelnen Risikogene es sich handelt, wird derzeit noch erforscht. Im Grunde muss man jedoch bei jeder psychischen Störung von einer Multikausalität ausgehen: Wer von vornherein ein negatives Selbstbild und hohe Erwartungen an sich selbst hat, vielleicht eher bei Helikopter-Eltern aufgewachsen ist oder schon in der Vergangenheit negative Erfahrungen während sozialen Interaktionen gesammelt hat, ist oftmals anfälliger für die Phobie. Tatsächlich können auch Eigenschaften wie Schüchternheit oder Ängstlichkeit in Bezug auf Neues die Entstehung der sozialen Angststörung begünstigen. Trotzdem sollte man Phobie und Persönlichkeitsmerkmale sauber voneinander trennen.

Der Weg aus dem Schweigen

Die Psyche heilt nicht wie ein Knochen. Und trotzdem bedeutet die Diagnose auf keinen Fall, dass Betroffene auf ewig in ihrer Sozialphobie gefangen bleiben. Man weiß: Der Weg aus einer Angststörung hinaus führt mitten durch die Angst hindurch. Und das ist mehr als unangenehm, aber effektiv. Mein 11-jähriges Ich wollte das nicht wahrhaben - heute bin ich umso glücklicher, es letztlich doch begriffen zu haben. 

Empfohlen wird meist eine kognitive Verhaltenstherapie. Diese beschäftigt sich damit, die betroffene Person ihre negativen Denkmuster erkennen zu lassen und sie dann durch bewusste Distanzierung oder positive Umdeutungen gezielt bekämpfen zu können. Verallgemeinerungen, Schwarz-Weiß-Denken und vermeintliches „Gedankenlesen“ werden so gezielt ausgemerzt. Stufenweise und im eigenen Tempo setzen sich Betroffene wieder verschiedenen sozialen Situationen aus.

Als begleitende Maßnahme können auch Medikamente eingenommen werden, wie selektive Serotonin- oder Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, also Antidepressiva. Benzodiazepine sind ebenfalls möglich, denn sie vermindern die Angstreaktion besonders schnell, machen jedoch auch abhängig. Deshalb werden sie nur über kurze Zeiträume eingesetzt. Besonders, weil von außen oft gemutmaßt wird, Betroffene „seien eben einfach schüchtern“, ist es wichtig, sich bei Bedarf eine professionelle Meinung einzuholen! Auch die "Öffentlichkeit", insbesondere pädagogisches Personal wie Lehrkräfte, müssen für das Störungsbild sensibilisiert werden um unterstützen zu können - allzu oft schlägt sich die Zurückhaltung nämlich in schlechten mündlichen Noten nieder, begründet in Angst, nicht etwa Unwissenheit oder Faulheit. Manchmal weiß ein/e Betroffene*r vielleicht selbst gar nicht, dass die Empfindungen psychisch bedingt und therapierbar sind und es braucht einen Anstoß von Außenstehenden.

Fazit

Die Sozialphobie wird wie auch andere psychische Störungen oft missverstanden und zu einem „Persönlichkeitsmerkmal“ degradiert. Betroffene leben dennoch in konstanter, alltäglicher Anspannung und brauchen gerade deshalb die Offenheit und Empathie der Menschen in ihrem Umfeld. Therapie in Anspruch zu nehmen kann ein großer Schritt sein  - ein Schritt hin zu einen unbeschwerten Leben hinaus aus der Stille.

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