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  • Veronika Holter
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  • 13.09.2021

Folter statt Fürsorge

Im Mittelalter waren es brutale Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen, später Peitschenhiebe und gezielte Vergasungen. Depressive, Angstgestörte, Schizophrene und viele andere fielen einem düsteren Kapitel der Medizingeschichte zum Opfer, mit dem sich heute nur noch wenige beschäftigen. Mit welchen Horrorszenarien sahen sich die damaligen Kranken konfrontiert und wie konnte es dazu kommen?

 

Verteufelt, verbannt, verfolgt

Zwar waren psychische Erkrankungen bereits in der Antike bekannt, wo man sie teils mit Massagen und Diäten behandelte, jedoch gibt es keinen Nachweis dafür, dass man bereits zu dieser Zeit Heilanstalten einrichtete. Noch im mittelalterlichen Europa berief man sich auf die Vorstellung des antiken griechischen Arztes Galen, dass psychisches Leid durch ein Ungleichgewicht von Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle im Körper hervorgerufen wird.
Insbesondere im Früh- und Hochmittelalter stand für die Menschen dennoch auch fest: Wer psychisch gestört ist, dessen Kopf wird von bösen Geistern und Dämonen bewohnt. Für Betroffene folgten daraus lange, qualvolle Exorzismen oder das Einsperren in kleine Käfige oder Kisten vor den Toren der Stadt, in sicherer Entfernung vom restlichen Volk. Doch damit nicht genug: Eine alternative Behandlungsmethode sah vor, den vermeintlich Besessenen an einen Stuhl zu fesseln und ihm ein Loch in den Schädel zu bohren, damit der Dämon daraus entweichen kann.
Im 11. Jahrhundert erreichte das Leid schließlich seinen Höhepunkt, da die Furcht vor dem Satan dazu führte, dass man die Kranken plötzlich ihrer Familie entriss und öffentlich verbrannte.

Körperqual für die Seelenheilung

Auch wenn man den Gedanken an Dämonenbesessenheit größtenteils aufgab, blieben die Behandlungsmethoden auch in den nachfolgenden Jahrhunderten schmerzhaft und ineffektiv.
Hinter den vergitterten Fenstern psychiatrischer Einrichtungen des 16. Jahrhunderts wurden „Rasende“ in „Tobzellen“ untergebracht oder in ein hohles Rad gesteckt, worin sie bis zur vollkommenen Erschöpfung wie ein Hamster laufen mussten. Es galt die Devise: Ein kranker Geist lässt sich nur durch physische Erschütterung heilen.
Das Auspeitschen mit Brennnesseln, Verprügelungen mit Stöcken und der Einsatz von Drehstühlen, auf welchen den Behandelten nach einiger Zeit Blut aus Mund und Nase schoss, sind nur einige der Methoden, die man ab dem 18. Jahrhundert dafür anwandte. Die Unterbringung der Kranken war hier oft eher eine isolierte Verwahrung zusammen mit Kriminellen und Prostituierten.
Mit dem Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert wurden psychische Erkrankungen zwar als medizinische Probleme anerkannt, doch auch hier machte man nicht davor Halt, Betroffene bis zu 14 Stunden in einem 20-30ºC warmen Deckelbad einzusperren, sie an ihre Betten zu fesseln und ihnen Zwangsjacken anzulegen.

Schrecken des 20. Jahrhunderts: Stromschläge und der „gute“ Tod

Auch mit der Jahrhundertwende nahm das Leid für psychisch Kranke zunächst nicht ab – Behandlungsschwerpunkt waren zunächst die sogenannten „Kuren“, für welche durch Malaria-Erreger oder Insulin bewusst Fieberschübe ausgelöst wurden. In der Schweiz wurden Psychosen darüber hinaus mit Schlafkuren behandelt, die die Betroffenen für bis zu 10 Tage in eine künstliche Dauernarkose versetzten, in einigen Fällen aber auch zum Tode führten.
In den 30ern kam der Gedanke auf, man müsse die „natürlichen Selbstheilungskräfte“ des Körpers in Schwung bringen, was man mit Kreislaufstimulationen in Form von Cardiazol, aber vor allem auch Stromschlägen umsetzte. Nützte all das nicht, griff man  ab 1936 vermehrt auf die Lobotomie zurück – ein operativer Eingriff, bei welchem Frontallappen und Thalamus durchtrennt werden. Die OP hatte jedoch zur Folge, dass die  Persönlichkeit der Kranken wieder infantile Züge annahm und sie nur noch vor sich hin vegetieren konnten, kaum Emotionen und Antrieb verspürten. Nichtsdestotrotz erhielt Moniz, der das Verfahren ins Leben gerufen hatte, 1949 einen Medizinnobelpreis.
Im Nationalsozialismus schienen die Ärzte dem hippokratischen Eid letztlich komplett den Rücken zugekehrt zu haben, denn hier wurden nicht nur riskante Menschenversuche, sondern auch gezielte  Massenvergasungen durchgeführt. Die zahlreichen Morde standen unter dem Stern der Euthanasie (griech. von „eu“, „gut, richtig“ und „thánatos“, „Tod“), die man damit rechtfertigte, die Gemeinschaft von „kranken Genen“ befreien zu wollen.

Psychopharmaka: Der Weg zur Besserung?

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts erschien ein Licht am Ende des Tunnels: Die ersten Antipsychotika und -depressiva kommen auf den Markt, 1948 wird das Diagnosemanual ICD durch ein eigenes Kapitel über psychische Störungen ergänzt. Doch schon bald kommt Gegenwind auf, denn die „chemischen Zwangsjacken“, wie viele sie nennen, stecken noch in ihren Kinderschuhen und haben teils stärkere Nebenwirkungen wie motorische Störungen. Den Höhepunkt stellt hier die gesellschaftskritische Bewegung der „Antipsychiatrie“ dar, die hinterfragt, ob Psychosen und andere Erkrankungen überhaupt existieren, oder nicht einfach nur gesellschaftlich konstruiert wurden.
Durch neue Entwicklungen wie atypische Neuroleptika oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer im Laufe der 90er Jahre konnte man zwar noch immer keine rasante Leerung der Psychiatrien erreichen, wie man es sich erhofft hatte, doch die Mittel waren inzwischen weitaus verträglicher und werden auch heutzutage noch erfolgreich eingesetzt.


Fazit

In der Vergangenheit liegen Isolation, Verwahrlosung und Schmerzen, und dennoch haben wir letztlich zu Methoden gefunden, die weder Körper noch Gefühle verletzen. Nun liegt es an uns, die Schicksale in Erinnerung zu behalten und bereits begangene Fehler nicht zu wiederholen, sondern ein gesundes Bewusstsein für psychische Erkrankungen zu schaffen, das Menschen nicht zu Objekten werden lässt.

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