- Fachartikel
- |
- Gönna-Frauke Rehkamp, Ulrike Rostan
- |
- 27.10.2008
Siamesische Zwillinge
Die Trennung der siamesischen Zwillinge Ladan und Laleh Bidschani ist tödlich verlaufen und hat das Thema siamesische Zwillinge im Sommer 2003 wieder in die Schlagzeilen der Tageszeitungen und anderer Medien gebracht. Es war der erste Versuch, siamesische Zwillinge im Erwachsenenalter zu trennen. Ein Heidelberger Ärzteteam hatte die Trennung 1997 als zu riskant abgelehnt.
Definition
Bei siamesichen Zwillingen trennt sich der Embryoblast im späten Entwicklungsstadium der Blastozyste nur unvollständig. Ist die Trennung vollständig, entstehen eineiige Zwillinge. Wie es zu der sogenannten Doppelfehlbildung kommen kann, ist bisher unbekannt. Manchmal bleibt nur äußeres Gewebe miteinander verwachsen, manchmal haben die Embryonen auch gemeinsame Organanlagen. Je nach Art der Verwachsung werden sie als
- Thorakopagus (am Brustkorb vergewachsen)
- Omphalopagus (am Bauch vergewachsen)
- Pygopagus (am Steiß vergewachsen)
- Kraniopagus (am Kopf vergewachsen)
bezeichnet.
Am häufigsten werden siamesische Zwillinge mit Verwachsung am Brustkorb geboren (ca. 40 Prozent), wesentlich seltener mit Verwachsungen am Kopf (etwa 2 Prozent).
Die Bezeichnung siamesische Zwillinge rührt vom ersten bekannten Zwillingspaar Eng und Chang aus Siam (heute Thailand) her, die 1811 geboren und 63 Jahre alt wurden. 1874 starben sie innerhalb weniger Stunden nacheinander. Sie waren von Brust bis Nabel zusammengewachsen und wären in heutiger Zeit relativ komplikationslos zu trennen gewesen. Antike Skulpturen und Höhlenzeichnungen zeigen aber, dass es siamesische Zwillinge seit jeher gegeben hat.
Häufigkeit
Herauszufinden, wie häufig siamesische Zwillinge vorkommen, ist relativ schwierig. Die Zahlenangaben schwanken zwischen einem siamesischen Zwillingspaar auf 100.000 bis 200.000 Geburten, wobei die Überlebenschance der Kinder langfristig gesehen sehr gering ist. Bei künstlicher Befruchtung kommt es durch die hormonelle Stimulation vermehrt zu Zwillingsgeburten. Hier kommt auf 800 Zwillingspaare ein siamesisches Zwillingspaar. In den USA kommen etwa 50 siamesische Zwillinge pro Jahr zur Welt. Nur an die 12-13 Paare überleben die ersten 24 Stunden. Im Zeitalter des Ultraschalls werden die Doppelföten meist bei den Schwangerschafts-Vorsorgeuntersuchungen entdeckt und abgetrieben.
Trennungen von siamesischen Zwillingen
Wenn die Zwillinge nicht lebenswichtige Organe miteinander teilen, sind Operationen vor allem im Säuglingalter durchaus möglich und zum Teil auch erfolgreich. Die Trennung von Zwillingspaaren, die am Kopf zusammengewachsen sind, ist sehr riskant. "Vier von fünf siamesischen Zwillinge sterben dabei oder tragen schwere Behinderungen davon", wird Keith Y C Goh, leitender Neurochirurg des Raffleshospital in Singapore, im Vorfeld der Operation der iranischen Zwillinge von der Stuttgarter Zeitung zitiert. Er hatte im April 2001 ein nepalesisches Zwillingspärchen, das am Hinterkopf zusammen gewachsen war, getrennt. Von dieser Operation hatten Laleh und Ladan Bijani gehört und waren darauf hin nach Singapore gereist.
1968 wurde in Johannesburg/Südafrika der Versuch gewagt, siamesische Zwillinge zu trennen. Die beiden Mädchen waren am Kopf zusammengewachsen. Dem 27-köpfigem OP-Team gelang die Operation, jedoch starb wenige Wochen später eines der beiden Mädchen.
In der Regel finden Trennungen nur statt, wenn beide Kinder alle lebenswichtigen Organe haben. Im November 2000 entschied jedoch das oberste britische Zivilgericht gegen den Willen der Eltern, dass die damals drei Monate alten Zwillinge Jodie und Mary, die an der Wirbelsäule zusammengewachsen waren, getrennt werden sollten, um das Leben von Jodie zu retten. Mary hatte kein eigenes Herz und keine eigene Lunge und war somit auf die Organe ihrer Schwester zum Überleben angewiesen. Sie starb noch während der Operation.
Benjamin Carson, Direktor der Abteilung für pädiatrische Neurochirurgie am Johns Hopkins Hospital in Baltimore (USA), der bei der jetzigen Operation in Singapore assistierte, hat in drei Fällen am Kopf zusammen gewachsene Zwillinge getrennt, 1987, 1994 und 1997. Nach Angaben der Stuttgarter Zeitung endete die erste Operation mit schweren Hirnschäden der Kinder, ein südafrikanische Zwillingspärchen starb kurz nach der zweiten Operation und über das letzte Zwillingspärchen sei nichts bekannt. In einer Information des Johns Hopkins Hospitals über Benjamin Carson und die bevorstehende Trennung der iranischen Zwillinge wird seine chirurgische Erfahrung in der Trennung von Kraniopagi erwähnt, allerdings ohne den Zusatz, wie die drei Operationen ausgegangen waren.
Dies kann man als Hinweis darauf werten, dass eine Trennung auch als erfolgreich beschrieben wird, wenn nichts über das weitere Leben der Zwillinge bekannt ist oder schwere Schäden zurückgeblieben sind. Auch über das Schicksal des nepalesischen Zwillingspaares, das Dr. Goh im April 2001 getrennt hat, ist nichts bekannt. Interessanterweise wird im ZDF Heute Magazin (online) Benjamin Carson zitiert, ebenfalls mit dem Hinweis, er habe drei Zwillingspärchen im Säuglingsalter erfolgreich gertrennt.
"Operation Hoffnung endete tödlich"
Auch im jüngsten Fall endete die Trennung mit dem Tod der beiden Frauen. Sie sind getrennt worden, sind aber noch in der Narkose gestorben, nachdem beide zu viel Blut verloren hatten. Schon die Trennung des Schädelknochens hatte mit 6 Stunden mehr Zeit in Anspruch genommen, als das internationale Ärzteteam vorher veranschlagt hatte. Über das Risiko waren sich die Operateure und die Zwillingsschwestern bewusst gewesen. Denn jede der Frauen hatte zwar ein eigenes Gehirn, allerdings führte nur eine gemeinsame Hauptvene (Sinus sagittalis*) das Blut aus dem Gehirn wieder ab. Eine der beiden Schwestern sollte die Vene behalten, der anderen wurde im Verlauf der Operation ein Bypass aus der Oberschenkelvene eingepflanzt.
* Der Sinus saggitalis superior war an der Stelle, an der die Schädel der Schwestern zusammen gewachsen waren, in einen gemeinsamen Sinus saggitalis gemündet, der bis zum Confluens sinuum einen gemeinsamen Verlauf hatte. Oberhalb des Confluens sinuum sollte ein Bypass eingesetzt werden (siehe auch nachfolgender Link zu einem Bild des John Hopkins Hospitals). Nach der Zeichnung zu urteilen sieht es so aus, als hätten die Schwestern auch nur über einen Sinus occipitalis verfügt, der von unten in den Confluens mündet. Der Bypass sollte den Sinus sagittalis superior mit dem entsprechenden Sinus transversus verbinden.
Am Schicksal der beiden iranischen Schwestern hatten Menschen aus der ganzen Welt Anteil genommen. Es war der erste Versuch gewesen, erwachsene am Kopf zusammen gewachsene Zwillinge zu trennen. Im Zeitalter des Internet und der großen Medienpräsenz hatten die Menschen rund um den Globus die Möglichkeit, das Geschehnis fast hautnah mit zu verfolgen.
Zudem hatten die beiden Schwestern die Herzen vieler Menschen in Singapore erobert, wie ein Nachruf des Raffles Hospital im Internet dokumentiert. Laleh und Ladan hatten seit Oktober 2002 in Singapore gewohnt, um die Voruntersuchungen zur Operation vornehmen lassen zu können. Sie waren gebildet, attraktiv, hatten ein gewinnendes Wesen - und hatten nur einen Wunsch: endlich eigene Wege gehen zu können. Für diesen Wunsch waren sie das Risiko, zu sterben, bewusst eingegangen.
Quellen:
Pschyrembel, Stuttgarter Zeitung, Spiegel online, Focus online, Internetseiten des Raffels Hospital und des Johns Hopkins Hospital
Presseerklärung des John Hopkins Hospitals zu Dr. Benjamin Carson und der bevorstehenden Trennung von Laleh und Ladan