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  • G. Lindemann, K. Bangert, F. Wappler
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  • 31.01.2006

Notfallversorgung eines Suizidversuchs

Folgender Artikel berichtet über den Fall eines 18-jährigen Schülers, der sich in suizidaler Absicht mit dem Trennschleifer in den Hals sägte.

 

Die Tracheavorderwand auf Höhe des ersten Luftröhrenknorpels und die Vena jugularis interna links wurden durchtrennt. Der eintreffende Notarzt intubierte über die offene Trachea und leitete den Hubschraubertransport in die Klinik ein.
Der Kreislaufstabilisierung im Schockraum und der chirurgischen Versorgung folgte eine 2-monatige psychiatrische Nachbehandlung. Der Schüler konnte ohne Folgeschäden entlassen werden. Die durchgeführten Primär- und Sekundärmaßnahmen werden diskutiert.

 

Einleitung

Eine retrospektive Analyse der Notarztprotokolle der Stadt Hamburg für das Jahr 1995 zeigt, dass knapp 3 % der Einsätze durch Selbstmord bzw. Selbstmordversuch bedingt waren [1]. Bei Durchsicht der internationalen Literatur zum Thema offenes Halstrauma infolge Unfall oder in suizidaler Absicht finden sich nur wenige Fallberichte [2][3][4][5][6][7].
Eine Stockholmer Arbeitsgruppe stellte fest, dass diejenigen Suizide, die durch Messer bzw. andere scharfe Gewalt verursacht wurden (3 % der männlichen bzw. 2 % der weiblichen Suizide), in nur 16 % (Männer) bzw. 34 % (Frauen) den Hals betrafen [8]. In einer anderen Studie wird das offene Larynxtrauma mit < 1 % aller Traumen an den größeren Zentren Europas und Nordamerikas beziffert [4]. Insgesamt lässt sich über die Inzidenz und Letalität des offenen Halstraumas als seltenem Verletzungsmuster nur spekulieren. Fest steht jedoch, dass mangelnde Erfahrung der behandelnden Ärzte infolge seltener Konfrontation mit dieser Art von Verletzung eine verzögerte Diagnose und insbesondere Therapie mit sich bringen kann [9].

 

Kasuistik

Der am Notfallort eintreffende Notarzt fand einen wachen und ansprechbaren jungen Mann vor, der aus einem ca. 10 cm langen glatt begrenzten queren Halsschnitt unterhalb des Ringknorpels (bzw. oberhalb der Fossa jugularis) stark blutete. Der Patient befand sich im Schockzustand mit einem Blutdruck von 80/40 mm Hg und einer Herzfrequenz von 120/min. Alle vier Extremitäten waren frei beweglich. Bei Wundinspektion zeigte sich u. a., dass die Trachea in ihrem knorpeligen Anteil durchtrennt und somit der endotracheale Raum frei einsehbar war. Zur Atemwegssicherung wurde vom Notarzt unverzüglich die Narkose eingeleitet (20 mg Etomidate®, 100 mg Ketanest®, 8 mg Norcuron®), ein Tubus durch die offene Trachea eingeführt und geblockt (Abb. [1]). Wegen starkem Blutverlust aus der Halswunde wurde ein steriler Druckverband angelegt. Über zwei großlumige i. v.-Zugänge wurden insgesamt 2,5 l Ringer und 1 l HAES infundiert.
Des Weiteren waren intermittierende Gaben von Akrinor® erforderlich. Inzwischen wurde der Hubschraubertransport in das 30 km entfernte Universitätsklinikum eingeleitet.

 

Intubation über die offene Tracheavorderwand

 

Bei Ankunft im Schockraum bot der Patient stabilisierte Kreislaufparameter (RR 130/80, HF 120) bei beginnender Zentralisation. Der übergebende Notarzt äußerte den Verdacht einer einseitigen Intubation bzw. Blutaspiration bei nur einseitig auskultierbaren Atemgeräuschen. Nach Zurückziehen des Tubus um 2 cm und bronchoskopisch gezielter Absaugung größerer Mengen alten Blutes aus den Segmentbronchien beider Lungenflügel verbesserte sich die pulmonale Situation unverzüglich.
Der initiale paO2-Wert von 50 mm Hg bei einer FiO2 von 1,0 und einem PEEP von 8 mm Hg stieg auf 130 mm Hg. Bei einem Hb von 6,9 g/dl und fortbestehendem Volumendefizit wurden vier Erythrozytenkonzentrate sowie sechs Frischplasmen und fünf Thrombozytenkonzentrate substituiert.

Die Blutung aus der Halswunde verstärkte sich nach dem Lösen des Verbands und erschwerte die Wundversorgung erheblich. Bei Wundinspektion wurde dann die Vena jugularis interna links als Blutungsquelle identifiziert, die sofort notfallmäßig übernäht wurde. Eine Verletzung der Karotiden konnte ausgeschlossen werden. Nach Sistieren der Blutung und weiterer Volumensubstitution konnte die vorübergehend notwendig gewordene Kreislaufunterstützung mit niedrig dosiertem Arterenol® (3 - 6 µg/min) ausgeschlichen werden.

Der neurologische Konsiliar sah aufgrund des Verletztungsmusters und der seitengleich mittelweiten Pupillen keinen weiteren akuten Handlungsbedarf. Das Thoraxröntgenbild war unauffällig. Auf ein Hals-/Thorax-CT wurde in Anbetracht der Akutsituation verzichtet.

Die entgültige operative Sanierung in Form einer Gefäßnaht und Weichteildeckung der Trachealverletzung inkl. Anlage eines Tracheostomas erfolgte direkt im Anschluss an die Schockraumversorgung. Intraoperativ wurde die Narkose als TIVA (totale intravenöse Anästhesie) mit Propofol®/Sufentanil® weitergeführt. Der Gasaustausch war unter einer FiO2 von 0,4 und einem PEEP von 8 mm Hg mittlerweile suffizient, Vital- und Laborparameter weiterhin stabil.
Zur postoperativen Überwachung wurde der Patient trachealkanüliert, sediert und beatmet auf die anästhesiologische Intensivstation verlegt. Eine Aspirationspneumonie entstand nicht, sodass der Patient vonseiten der Beatmung problemlos entwöhnt werden konnte. Er wurde jedoch mit zunehmender Vigilanz aggressiver und psychomotorisch unruhig. Außerdem waren inzwischen fremdanamnestisch Informationen eingeholt worden, die den Verdacht der suizidalen Absicht erhärteten. Daher wurde der Patient nach dem 4. postoperativen Tag in der psychiatrischen Klinik unter der Diagnose „akute polymorphe psychotische Episode” bei schulischer Überforderung weiterbehandelt. Nach weiteren 2 Monaten konnte er ohne Folgeschäden in die häusliche Umgebung entlassen werden.

 

Diskussion

Symptome der Halsverletzung:
Tiefe Halsweichteilverletzungen bergen das Risiko der Atemwegsmitbeteiligung. In diesem Falle war das Verletzungsmuster eindeutig. Nicht immer jedoch lässt die äußere Wunde Rückschlüsse auf die inneren Verletzungen zu. Dann können luftblasendurchsetztes Wundblut, Hämoptyse, Zyanose, Dyspnoe, Stridor, Heiserkeit und/oder Dysphagie als wegweisende Symptome einer Atemwegsverletzung gelten [5]. Bei unmittelbar suprasternalen Halsverletzungen besteht darüber hinaus die Gefahr der Pleurapenetration und damit eines Pneumo- oder Hämatothorax. Weiterhin können Aspiration von Blut oder Erbrochenem sowie Schwellungen durch subkutanes Emphysem, Wundödeme oder Hämatome zu einer zusätzlichen Atemwegsverlegung beitragen [5].

Sicherung der Atemwege:
Für den erstbehandelnden Notarzt stellte sich das Problem der suffizienten Atemwegssicherung. Eine Sauerstoffinsufflation des wachen Patienten war in diesem Fall wegen der Gefahr weiterer Blutaspiration und des zunehmenden Kreislaufschocks mit einem unkalkulierbaren Risiko verbunden. Eine Intubation auf konventionellem Weg als anatomische Überbrückung barg das Risiko weiterer möglicher Probleme bei der Laryngoskopie. Mit der Intubation durch die offene Trachea wählte der Notarzt eine der Situation angemessene Methode. Ob eine Muskelrelaxierung vor Intubation, wie in diesem Fall durchgeführt, wirklich notwendig ist, kann kontrovers diskutiert werden. Sollte der zwar sichtbare Atemweg dennoch nicht intubierbar sein, würde die Katastrophe durch Nocuron perfekt. Wäre es zur Eröffnung der Pleurahöhle gekommen, hätte unter kontrollierter Beatmung an die Möglichkeit eines Spannungspneumothorax gedacht werden müssen, insbesondere wenn die Wunde, wie in diesem Fall, mit abdichtendem Verband bedeckt wurde. Dann wären zusätzlich entlastende Bülaudrainagen notwendig gewesen.

Risiko der Luftembolie:
Eine Luftembolie kann auftreten, wenn die Wunde höher liegt als die Herzebene, d. h. der Druckgradient zwischen geöffneter Vene und rechtem Vorhof mehr als 5 cm H2O beträgt. In der geöffneten Vene herrscht dann subatmosphärischer Druck, der zur Ansaugung von Luft führt. Eine sitzende Position oder ein niedriger zentraler Venendruck wirken begünstigend. Die Schwere der Komplikationen hängt vor allem von der angesaugten Luftmenge und von der Geschwindigkeit des Lufteintritts ab. Kleinere Luftmengen sind meist ohne Bedeutung und werden nach einiger Zeit ausgeatmet. Gelangen jedoch größere Mengen (ab ca. 50 ml) in den Kreislauf, kann dieses zum akuten Cor pulmonale bis zum Herz-Kreislauf-Stillstand führen.

Die wichtigsten klinischen Symptome der Luftembolie, die dem Kreislaufkollaps vorangehen, sind Blutdruckabfall, Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, gestaute Halsvenen und Zyanose. Außerdem wird ein typisches Mühlradgeräusch über dem Herzen auskultierbar [10]. Ein frühzeitiges Erkennen der Luftembolie durch besondere Überwachungsmaßnahmen vor Eintritt der o. g. klinischen Symptome gestaltet sich auf dem Notarztwagen schwierig, da die hierzu notwendigen Instrumente wie Ultraschalldopplersonde, transösophageale Echokardiographie oder Pulmonalarterienkatheter ihren Einsatz erst in der Klinik finden.
Umso mehr ist es notwendig, einer Luftembolie vorzubeugen. In diesem Fall geschah dieses einerseits durch den vom Notarzt angefertigten Druckverband, andererseits trug die der Schocksituation angepasste Oberkörperflachlagerung und die Volumenersatztherapie dazu bei, den intrathorakalen Druck bzw. den ZVD zu erhöhen. Eine PEEP-Beatmung hätte sich zwar ebenfalls positiv auf den intrathorakalen Druck ausgewirkt. In Anbetracht der klaren Schocksituation wurde offensichtlich während der Notfallversorgung darauf verzichtet. Darüber hinaus wurden in diesem Fall kardiovaskuläre Medikamente eingesetzt und mit 100 % Sauerstoff beatmet. Die Katheterabsaugung des Luftgasgemisches wäre wiederum erst in der Klinik durchführbar und ist als Therapiemaßnahme für die Notfallsituation ungeeignet. In der Literatur wird die Häufigkeit einer asymptomatischen Luftembolie nach peripherer Venenkanülierung mit knapp 5 % angegeben [11], insofern ist nicht ausgeschlossen, dass hier eine unerkannte subklinische Embolie stattgefunden haben könnte.

Folgen der Blutaspiration:
Noch im Schockraum wurden größere Mengen in die Lungen gelaufenen Wundbluts abgesaugt. Die Blutaspiration führt zum Verschluss von Bronchien. Über eine Atelektasenbildung kommt es zur Behinderung des Gasaustausches durch ein Missverhältnis von Ventilation zur Perfusion und/oder durch intrapulmonale Shunts [12]. Das Blutaspirat aktiviert zudem humorale und zelluläre Entzündungsmediatoren mit der Gefahr der Entwicklung eines ARDS. Außerdem bietet es eine hervorragende Grundlage für eine bakterielle Besiedlung und somit für eine Pneumonie. Es konnte gezeigt werden, dass es infolge bronchoalveolärer Lavage nach Aspiration von Blut oder Magensaft seltener zu pulmonalen Infekten kam [13]. Auch in unserem Fall gab es keine weiteren respiratorischen Komplikationen.

Kreislauftherapie:
Aus der offenen linken Jugularvene war es zu starkem Blutverlust, und damit zum Volumenmangel gekommen. Die alleinige Volumenersatztherapie mit Kristalloiden, die den Nachteil haben, dass sie im Verhältnis 4 : 1 infundiert werden müssen (z. B. 2000 ml Ringer auf 500 ml Blutverlust), hat nicht mehr ausgereicht, um den Kreislauf zu stabilisieren. Daher verwendete der Notarzt mit HAES ein Plasmaersatzmittel und mit Akrinor®, einem Xanthin-Derivat, ein positiv-inotropes und vorlasterhöhendes Medikament.

Im Schockraum machte der anhaltende Blutverlust (Hb 6,9 g/dl) die Volumensubstitution mit Blutprodukten erforderlich. Außerdem kam niedrig dosiertes Noradrenalin zum Einsatz. Im Gegensatz zu Adrenalin tritt die a-adrenerge und damit vasokonstriktorische Wirkung bereits in niedriger Dosierung ein. Es wird eingesetzt, wenn der arterielle RR so stark abgefallen ist, dass mit einer Mangeldurchblutung von Herz und Gehirn zu rechnen ist. Die mit steigender Dosierung drohende Ischämie von Nieren und Splanchnikus sowie die Maskierung und Verstärkung einer Volumenmangelsituation muss allerdings berücksichtigt werden.

 

Schlussbemerkung

So selten ein Notarzt mit offenen Halsverletzungen konfrontiert wird, umso mehr ist der schnelle und adäquate Umgang mit der Situation erforderlich. In der Literatur sind bei vergleichbaren trachealen Verletzungen die Versorgung mittels Notkonio- bzw. Tracheotomie [9] und weitere Verfahren beschrieben, die jedoch nicht auf die präklinische Versorgung zugeschnitten sind: Beispielsweise werden die fiberoptische (Wach-)Intubation [2][6][7], die Hochfrequenz-Jet-Ventilation [7][14] oder der femorale kardiopulmonale Bypass [7] diskutiert. Wie sich aus der vorliegenden Falldarstellung ergibt, kann die Atemwegssicherung über die offene Trachea als eine weitere Möglichkeit der Versorgung eines offenen Halstraumas in der Akutsituation lebensrettend sein.

 

Literatur

1 Pajonk FG, Gruenberg KA, Moecke H, Naber D. Suicides and suicide attempts in emergency medicine. Crisis 2002; 23 (2): 68-73

2 Davies JR. The fibreoptic laryngoscope in the management of cut throat injuries. British Journal of Anaesthesia 1978; 50: 511-513

3 Hasekura H, Fukushima H, Yonemura I, Ota M. A rare suicidal case of a ten-year-old child stabbing himself in the throat. Journal of Forensic Sciences 1985; 30 (4): 1269-1271

4 Ikram M, Naviwala S. Case report: Acute management of external laryngeal trauma. Ear, Nose and Throat Journal 2000; 79 (10): 802-804

5 Hamilton-Farrell MR, Edmundson L, Cantrell WDJ. Penetrating tracheal injury in a child. Anaesthesia 1988; 43: 123-125

6 Bullingham A, Hampson-Evans D, Palazzo M. An impaled neck. Anaesthesia 1994; 49: 866-869

7 Brierley JK, Oates J, Bogod DG. Diagnostic and management dilemmas in a patient with tracheal trauma. British Journal of Anaesthesia 1991; 66: 724-727

8 Karlsson T, Ormstad K, Rajs J. Patterns in sharp force fatalities - a comprehensive forensic medical study: part 2. suicidal sharp force injury in the Stockholm area 1972 - 1984. Journal of Forensic Sciences 1988; 33 (2): 448-461

9 Kelly JP, Webb WR, Moulder PV, Everson C, Burch BH, Lindsey ES. Management of airway trauma I: tracheobronchial injuries. The Annals of Thoracic Surgery 1985; 40 (6): 551-555

10 Larsen R. 6. Auflage: Anästhesie. München: Urban & Schwarzenberg 1999, p. 1078

11 Groell R, Schaffler GJ, Rienmueller R. The peripheral intravenous cannula: a cause of venous air embolism. Am J Med Sci 1997; 314 (5): 300-302

12 Sato J, Inaba H, Uchida H, Sakurada M, Ohwada T, Mizuguchi T. Comparison between fluctuating PEEP and conventional PEEP in dogs with lung injury induced by blood aspiration. Acta Anaesthesiologica Scandinavica 1988; 32 (5): 369-373

13 Regel G, Seekamp A, Aebert H, Wegener G, Sturm JA. Bronchoscopy in severe blunt chest trauma. Surgical Endoscopy 1990; 4 (1): 31-35

14 Hodgson CA, Mostafa SM. High frequency jet ventilation in the management of intra-operative tracheal injury. Anaesthesia 1995; 50: 637-639


Die Kasuistik stammt aus der Zeitschrift "Der Notarzt" (2005; 21: 15-18)

Kontaktadresse:

Dr. med. G. Lindemann
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Medizinische Klinik I · Campus Lübeck
Ratzeburger Allee 160
23538 Lübeck

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