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  • Dr. med. Horst Gross
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  • 22.09.2005

Notfall: plötzlicher Brustschmerz

In Notfällen muss man zügig und zielorientiert handeln. Aber Vorsicht: Wenn die Zeit drängt, werden vorschnelle Verdachtsdiagnosen oft zu Trugschlüssen. Wird etwa eine Pankreatitis mit einem Myokardinfarkt verwechselt, kann das fatal sein: Leidet der Patient an einem Infarkt, ist ein Nitro-Perfusor gerechtfertigt. Hat er aber eine Pankreatitis, kann diese Maßnahme gefährlich sein.

 

Notarzt Dr. Behr war völlig fertig. So eine Nachtschicht hatte er noch nie erlebt. Sechs Einsätze bisher und nichts war ihm erspart geblieben: vom zunächst komatösen und dann um sich schlagenden Alkoholiker mit starkem Brechreiz bis zur Borderline-Patientin mit Pulsaderverletzung und hysterischer Mitbewohnerin.

Müde schlürfte er im Aufenthaltsraum der Rettungswache seinen Kaffee und linste auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Da ging schon wieder der Alarm. Beim Notfall, den die Leitstelle durchgab, ging es um „plötzlichen, heftigen Brustschmerz“. Die Patientin war eine ältere Dame.
Dr. Behr atmete auf. „Na, wenn sich das nicht unkompliziert anhört. Bestimmt hat sie nur einen kleinen Infarkt“, dachte er bei sich. „Schnell ins nächste Krankenhaus bringen und dann habe ich endlich Dienstschluss!“ Wenige Sekunden später saß er bereits im Notarztwagen. Der Rettungsassistent neben ihm gähnte und bog aus der Einfahrt der Rettungswache hinaus auf die Straße.

Während der Fahrt begann Dr. Behr schon daran zu zweifeln, dass bei diesem Einsatz wirklich alles glatt gehen würde. Allein die Anfahrt zu der abgelegenen Siedlung dauerte über eine halbe Stunde.
Und dann die Patientin: sie sah gar nicht gut aus. Die Haut der etwa 70-Jährigen war blass und kaltschweißig. Mit wimmernder Stimme erklärte sie, dass sie seit zwei bis drei Stunden heftige Schmerzen im unteren Brustkorb plagten, die immer schlimmer würden. Außerdem sei ihr übel und sie habe sich ein paar Mal übergeben. Der abdominelle Tastbefund war unauffällig und die Peristaltik hörbar. Das Herz raste mit einer Frequenz von 130 pro Minute. Der Blutdruck war kaum messbar und lag bei 80/40 mmHg. Klinisch war die Diagnose für den Notarzt eindeutig. Alles sprach für einen Herzinfarkt mit kardiogenem Schock. Da die Schmerzen vom unteren Thorax und Oberbauch ausgingen und mit Übelkeit kombiniert waren, vermutete er einen Hinterwandinfarkt.

 

PTCA oder Lyse?

Jetzt war schnelles Handeln angesagt. Bei einem ausgedehnten Myokardinfarkt fällt die Pumpleistung des Herzens stark ab. Der Blutdruck sinkt und kompensatorisch schlägt das Herz schneller. Trotzdem strömt nicht genügend Blut durch den Körper. Den Organen fehlt akut Sauerstoff. Ein solcher Zustand kann nur kurze Zeit kompensiert werden. Dann kommt es rasch zum Multiorganversagen. Deshalb gehört der kardiogene Schock mit einer Mortalität von 80 Prozent zu den bedrohlichsten Notfällen. Effektivstes Gegenmittel ist die perkutane transluminale Koronar-Angioplastie (PTCA). Dabei wird mit einem speziellen Ballonkatheter die verschlossene Koronararterie eröffnet. Das Herz gewinnt dann wieder an Kraft und die Pumpleistung normalisiert sich.

Eine erfolgreiche PTCA halbiert die Sterblichkeit des Schocks – wenn sie schnell durchgeführt wird. Minuten können über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Ist bei einem Infarkt die nächste Klinik zu weit entfernt, führt man deswegen stattdessen eine Lysetherapie durch. Dabei wird der Thrombus nicht mechanisch, sondern durch ein intravenös appliziertes Lysemittel (z.B. Streptokinase) aufgelöst. Die Erfolgsraten der Lyse beim kardiogenen Schock sind allerdings schlechter als bei der PTCA. Und diese Therapie hat noch einen Nachteil. Das Blut wird für längere Zeit ungerinnbar. Lebensgefährliche Blutungen können die Folge sein.

Trotz dieser Nachteile war sich Dr. Behr recht sicher, dass er eine Lysetherapie versuchen musste. Die Patientin befand sich wegen des Schocks in Lebensgefahr und die nächste Klinik war über 40 Minuten entfernt. Also plante er im Kopf die Therapie kurz durch: Zuerst würde er der Patientin Piritramid (Dipidolor®) gegen den Brustschmerz und Diazepam zur Beruhigung verabreichen und Sauerstoff insufflieren. Auf dem langen Weg in die Klinik wollte er Streptokinase injizieren und mit einer Dobutamin-Dauerinfusion die Herzleistung steigern. Parallel würde er außerdem kontinuierlich Nitro applizieren, um das Herz zu entlasten. Das sollte den Kreislauf der Frau über die Runden retten, bis die Lyse den Blutfluss in den Koronarien wiederhergestellt hätte. Und wenn die Lyse versagen würde, könnten die Kollegen in der Kardiologie trotzdem noch eine Notfall-PTCA versuchen. Eigentlich fehlte jetzt nur noch die Bestätigung der Diagnose. Während die Rettungsassistenten die Patientin auf die Trage betteten, schaute sich Dr. Behr deswegen das Notfall-EKG an.

 

Infarktdiagnose per Schnelltest

Leider war das EKG aber alles andere als eindeutig. Es zeigte eine Tachykardie mit zwar infarkttypischer, aber nur diskreter ST-Strecken-Hebung im Hinterwandbereich. Einen solchen EKG-Befund kann man allenfalls als Indiz für einen Infarkt werten. Ein Beweis war das nicht. Für Dr. Behr war diese Situation nicht neu. Unklare EKG-Befunde sind ein häufiges Problem in der Notfallmedizin. Deshalb war der NAW auch mit dem neuen Schnelltest auf Troponin T ausgestattet. Bei einer Schädigung des Herzmuskels wird dieser Zellbestandteil ins Blut freigesetzt. Troponin T kommt nur im Herzen vor und sein Nachweis im Blut ist deshalb sehr spezifisch für Schädigungen des Myokards. Mit einem Schnelltest können erhöhte Werte im Blut innerhalb weniger Sekunden nachgewiesen werden. Der Test erfordert kein Labor und reagiert schon bei minimalen Schädigungen positiv.

Leider unterliegt auch diese Untersuchung dem Problem der „diagnostischen Lücke“: In den ersten 2 bis 3 Stunden nach einem Infarkt ist nicht nur auf das EKG, sondern auch auf die Laborwerte einschließlich Troponin kein Verlass. Aus großen Studien weiß man, dass die Diagnoseparameter oft erst nach zwei Stunden reagieren. Da man aber bei Verdacht auf akuten Myokardinfarkt nicht stundenlang warten kann, wird die Indikation oft auf etwas wackelige diagnostische Beine gestellt. Nicht selten bleibt dem Arzt nichts anderes übrig, als die Indikation zur Infarkttherapie in der Frühphase der Erkrankung „aus dem Bauch heraus“ zu stellen. Aber Dr. Behr hatte Glück: Der Troponin-Test war positiv. Jetzt war sich der Notarzt sicher, dass die Patientin an einem kardiogenen Schock nach Myokardinfarkt litt. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren.

 

Vorsicht: Differenzialdiagnose!

Eben spritzte Dr. Behr der Patientin Dipidolor® gegen die Schmerzen, als ihn der Ehemann der Patientin von hinten ansprach: „Brauchen Sie eigentlich noch die alten Arztbriefe wegen der Gallensache?“ Dr. Behr stutzte sofort. Was für eine Gallensache? Er hatte doch gefragt, ob noch andere Krankheiten bekannt seien. „Nein, nichts Besonderes,“ hatte der Mann geantwortet. Nur herzkrank sei seine Frau schon seit Jahren. Jetzt erzählte er plötzlich, dass seine Frau mehrfach stationär gewesen sei, weil sich immer wieder Gallensteine eingeklemmt hätten. Auch mit der Bauchspeicheldrüse sei da was gewesen.

„Warum hat der das denn nicht gleich gesagt?“, seufzte Dr. Behr innerlich. Jetzt ließ er sich alles noch einmal durch den Kopf gehen. Das Beschwerdebild passte zum Infarkt. Aber natürlich kann die akute Pankreatitis ähnliche Beschwerden auslösen. Dabei kann man ebenfalls mit einem bunten Bild unspezifischer EKG-Störungen rechnen und auch Schockzustände können eine Pankreatitis auslösen. Und da im Schock auch das Herz weniger durchblutet wird, kann auch der Troponin-Test positiv reagieren.

Dr. Behr dachte angestrengt nach. Hatte er sich mit seiner Diagnose „kardiogener Schock“ etwa vergaloppiert? Jetzt schaute er sich die Frau einmal genau an. Tatsächlich: Die Patientin hatte keine Halsvenenstauung. Dieses typische Symptom kardialen Pumpversagens fehlte also. Und was war das? Die Zunge der Frau war ja ganz trocken. Dieses klinische Kardinalzeichen für einen Flüssigkeitsmangel hatte er völlig ignoriert. Dabei ist der ausgeprägte Flüssigkeitsmangel doch das Leitsymptom der akuten Pankreatitis. War also eher eine Dehydratation für den schlechten Kreislauf verantwortlich? War er bei der Beurteilung des Schmerzbildes zu voreilig gewesen? Angefangen hatte es im Rücken. Mit zunehmender Stärke hatte sich der Schmerz über den ganzen unteren Brustkorb und Oberbauch gelegt. Jetzt tat der Patientin nur noch das Epigastrium weh. Natürlich gibt es solche Schmerzen auch beim Infarkt, aber gerade der Schmerzbeginn im Rücken und der bandförmige Schmerz im Oberbauch sind typisch für die Pankreatitis (a Tab. 1). Nein, das mit der Lyse würde er wohl besser bleiben lassen. Wenn die Frau tatsächlich eine Pankreatitis hätte, könnte diese Maßnahme fatale Folgen haben.

Stattdessen verabreichte Dr. Behr der Patientin während der Fahrt ins Krankenhaus über zwei großlumige Braunülen einige isotone Infusionen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Der Blutdruck erholte sich zusehends. Gegen den quälenden Schmerz half das Piritramid. Als der Notarzt seine Patientin gegen 6.30 Uhr auf der Intensivstation ablieferte, hatte sich der Blutdruck mit 110/90 mmHg schon fast normalisiert. Nur die Herzfrequenz von 120/min zeigte an, dass noch nicht alles in Ordnung war. Auf der Rückfahrt zur Rettungswache ließ sich Dr. Behr noch telefonisch die Laborwerte durchsagen. Die Lipase war mit 3.200 U/l eindeutig erhöht. In der Notfallsonografie hatten die Kollegen Zeichen für eine ödematöse Pankreatitis erkannt. Dr. Behr atmete tief durch. „Da habe ich aber Schwein gehabt“, ging es ihm durch den Kopf. Nur aus Bequemlichkeit und um pünktlich nach Hause zu kommen, hatte er bei der Anamnese einfach nur das gefragt, was ihm gerade am besten in den Kram passte. Das war nicht gerade professionell.

 

Keine Nitrate bei Pankreatitis!

Gott sei Dank hatte er seine falsche Diagnose „kardiogener Schock“ korrigiert. Möglicherweise hätte er mit der Lysetherapie schwere Blutungen ausgelöst. Noch verheerender wäre aber wahrscheinlich der Nitro-Perfusor gewesen. Durch eine kontinuierliche Nitrat-Applikation soll beim kardialen Schock die Herzfunktion verbessert werden. Das Blut, das sich aufgrund des Pumpversagens vor und im Herzen staut, überdehnt die Herzmuskulatur, die dadurch noch mehr an Kraft verliert und noch schlechter pumpt. So entsteht ein Teufelskreis, der durch Nitrat durchbrochen werden kann. Nitro erweitert die großen Kapazitätsvenen im Körper und bewirkt eine Art medikamentösen Aderlass. Schon wenige Minuten nach Start des Nitro-Perfusors erholt sich das Herz und der Blutdruck steigt.

Anders bei einer Pankreatitis. Hier sind Nitrate „Gift“. Die in den Körper eingeschwemmten Pankreasenzyme führen zu einer generalisierten Ödemneigung aller Körpergewebe. Dem Blutkreislauf wird massiv Wasser entzogen, das im Interstitium verschwindet. Dadurch reduziert sich das Blutvolumen. Das Herz hat nichts mehr zum Pumpen und der Kreislauf bricht zusammen. Der Patient „verdurstet innerlich“. Wenn man in dieser Situation noch Nitro gibt, macht man die Katastrophe perfekt, da noch weniger Blut in Richtung Herz strömt. Auch die beim kardiogenen Schock üblichen Katecholamine sind bei der akuten Pankreatitis eher schädlich. Das Herz arbeitet ja schon auf Hochtouren. Durch Katecholamine würde man es in die Übermüdung treiben. Zudem können gefährliche Arrhythmien ausgelöst werden.

 

Wasser ist Leben

Neben einer absoluten Nulldiät ist das entscheidende therapeutische Mittel bei einer Pankreatitis die Zufuhr von Wasser. Bei schweren Fällen kann innerhalb weniger Stunden ein Flüssigkeitsdefizit von über 10 l auftreten. Am besten gleicht man das mit isotonischen Infusionslösungen aus (z.B. Ringer). Auch bei der Patientin von Dr. Behr stand die Therapie des Flüssigkeitsdefizits zunächst im Vordergrund. Als sie in der Klinik eintraf, litt sie trotz der bereits applizierten Infusionen immer noch an einem massiven Flüssigkeitsmangel. Der Hämatokrit lag mit 63% weit über der Norm. Auch Stunden nachdem mit der Infusionstherapie begonnen worden war, betrug der zentrale Venendruck (ZVD) immer noch –3 cm H2O (Norm: +5 bis +10 cm H2O). Fast acht Liter Infusionslösung zusätzlich zum normalen Tagesbedarf waren innerhalb der ersten 24 Stunden notwendig, um das Flüssigkeitsdefizit auszugleichen. Die Ursache der Pankreatitis fand sich im Ultraschall. Durch ein Konkrement war der abführende Gallengang verlegt. Die Galle staute sich bis in die Bauchspeicheldrüse hinein. Im Rahmen einer Endoskopie (ERCP) konnte das tückische Steinchen beseitigt werden.

Nach ein paar Tagen besserte sich der Zustand der Patientin. Die zur Schonung der Bauchspeicheldrüse angesetzte künstliche Ernährung wurde abgesetzt, als sich die Laborwerte wieder normalisierten. Dabei schauten die Ärzte vor allem auf den Verlauf des C-reaktiven Proteins (CRP). Dieser Laborparameter korreliert am besten mit dem Schweregrad einer Pankreatitis. Die eigentlich pankreastypische Lipase ist kein guter Verlaufsparameter für die Krankheit.

 

Nekrosen verschlechtern die Prognose

Leider verläuft eine akute Pankreatitis nicht immer so glimpflich. Besonders gefürchtet sind schwere metabolische Entgleisungen, die bereits Stunden nach Beginn der Erkrankung einsetzen können. Die aus dem Pankreas ins Blut freigesetzten Verdauungsenzyme führen zu schweren Zellschäden. Die dabei einsetzende Laktatazidose endet oft letal. Gott sei Dank tritt so etwas nur selten auf.

Eine weitere Komplikation der Pankreatitis ist die Ausbildung von Nekrosen. Die Bauchspeicheldrüse verdaut sich und das umgebende Gewebe dann selbst. Im Oberbauch bilden sich Nekrosehöhlen, die sich oft infizieren. Wenn sich das Krankheitsbild so dramatisch zuspitzt, muss chirurgisch interveniert werden. Durch tägliche Bauchspülung und chirurgische Abtragung des Nekrosematerials versucht man, das Fortschreiten der Entzündung zu bremsen. Die Mortalität ist bei der nekrotisierenden Pankreatitis sehr viel höher (30%) als bei der ödematösen Form (1%). Leider gibt es bis heute keine Möglichkeit, Patienten mit einem erhöhten Nekroserisiko frühzeitig zu identifizieren. Deshalb müssen alle Pankreatitispatienten engmaschig überwacht werden. Durch Ultraschall und CT muss geklärt werden, ob die Entzündung „ödematös“ und damit eher harmlos oder aber „nekrotisierend“ und damit bedrohlich ist.

Bei der Patientin von Dr. Behr blieb es bei der ödematösen „Version“. Insofern nahm die Geschichte für Patientin und Notarzt ein gutes Ende. Trotzdem grübelte Dr. Behr noch lange darüber nach, was da falsch gelaufen war. Nachdem er mit Kollegen über das Vorkommnis gesprochen hatte, war ihm klar, dass solche falschen Anfangshypothesen wohl sehr viel häufiger sind, als man denkt. Schuld daran ist oft eine falsche gebahnte Wahrnehmung. Schließlich war er ja auch nicht ganz alleine auf den Blödsinn mit dem Herzinfarkt gekommen. Hatte ihn die Leitstelle nicht mit dem Einsatzstichwort „plötzlicher Brustschmerz“ auf das falsche Gleis gelockt? Damit war er schon früh auf die falsche Diagnose programmiert. Hinzu kam, dass ihm diese Diagnose wegen des nahenden Feierabends gut in den Kram gepasst hatte. Keine Frage: Das sollte ihm eine Lehre sein.
Ein guter Arzt sollte sich niemals zu früh auf eine Diagnose festlegen.

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