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  • Reportage
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  • Julia Hecht, Leonie Clement
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  • 24.05.2017

Trotz Blutbad im Brustkorb: Gib niemals auf!

Clara hat in ihrem PJ die Möglichkeit, bei der Operation eines lebensbedrohlich verletzten Menschen zu assistieren. Sie ergreift die Chance und lernt vor allem eins: trotz aller widrigen Umstände nicht die Hoffnung aufzugeben.

Kampf ums Überleben

Eine Situation wie sie in jedem deutschen Krankenhaus vorkommen könnte: Ein Patient mit geöffnetem Thorax im Operationssaal, eine Medizinerin, die bei der Bypass-OP assistiert. Nichts Ungewöhnliches, oder? Tatsächlich handelt es sich bei der jungen Frau um eine PJ-Studentin, ein Herzkranzgefäß des 17-jährigen Patienten ist durchtrennt, das Blut spritzt bis zum Anästhesiewagen, weitere Helfer pumpen von Hand über großlumige periphere Zugänge Blutkonserven in seinen Kreislauf, um den massiven Verlust auszugleichen. Die Studentin, Clara Winge (Name geändert), hat v. a. einen Gedanken im Kopf: „Was machen wir hier, das kann man doch gar nicht mehr richten!“

 

PJ-Tertial in Südafrika

Eine Stunde zuvor: Es ist 23 Uhr an einem Samstagabend im November. Draußen herrscht schönstes Wetter bei vorsommerlichen 20 °C.  Cara hat heute Nachtdienst. Sie betritt die chirurgische Notaufnahme des Tygerberg Hospital in Kapstadt. Seit 4 Wochen arbeitet sie im Traumabereich der Viszeralchirurgie – es ist ihr allgemeinchirurgisches PJ-Tertial. „Kommt Samstag- oder Sonntagnacht in die Notaufnahme“, hatten die Betreuer immer zu den Studenten gesagt. „Da seht ihr am meisten.“

 

Zu viele Patienten, zu wenig Ärzte

Der größte Unterschied zu Deutschland: die maximale Auslastung. In einer Art Halle vor den eigentlichen Behandlungsräumen sitzen, schlafen und warten die Angehörigen der Patienten. Bewaffneter Sicherheitsdienst riegelt die eigentliche Notaufnahme ab: Zum einen reicht der Platz nicht einmal für die, die Hilfe benötigen, zum anderen soll die Gewalt draußen bleiben, die u. a. zu so vielen Patienten führt (Infokasten). „Das war ungewohnt“, sagt Clara. „Aber in Scrubs und mit Stethoskop hatte ich nie Probleme reinzukommen.“

Hinter der bewachten Tür befindet sich ein enger Gang, an der linken Wand sind ca. 25 Stühle aufgereiht. Wer schon behandelt ist, aber zu gesund für ein Bett oder zu krank, um nach Hause zu gehen, oder auf den Arzt wartet, stapelt sich hier schlafend, halbsitzend, liegend, teils mit Thoraxdrainage oder Infusion. In Deutschland wären diese Patienten auf der Intensivstation oder zumindest in einem eigenen Bett, im Tygerberg fehlen die Kapazitäten. „Die Patienten verbringen die Nacht im Krankenhaus und gehen am nächsten Tag nach Hause“, erklärt Clara. „Das ist ihre Art der Überwachung.“

Der Gang öffnet sich und gibt den Blick auf etwa 30 schiebbare Tragen frei, die dicht an dicht stehen. Zwischen den improvisierten „Betten“ ist weder Platz für Vorhänge noch für die Behandelnden. Dieser Bereich ist Bewusstlosen und Schwerverletzten vorbehalten. Wer stehen oder sitzen kann, steht oder sitzt eben.

 

"Reinigungstrupp"

Ein bis zwei Ärzte und 5 Pfleger behandeln die insgesamt ca. 50 Patienten nach Dringlichkeit. Clara findet es immer wieder erstaunlich, wie schnell sie einordnen können, wer warten kann und wo sie gerade akut handeln müssen. Sobald ein Arzt mit der ersten Einschätzung fertig ist, folgt ein Zwischenschritt, den es in Deutschland nicht gibt: Das Pflegepersonal stopft die dreckige und blutige Kleidung in einen Sack und schrubbt die Patienten regelrecht mit Wassereimer und Bürste ab. Häufig leben diese in den Townships, zu 95 % sind sie schwarz.

 

Klinikalltag

Hauptansprechpartner für die Studentin ist eine niederländische Ärztin, die im Tygerberg ein praktisches Training für ihre Facharztprüfung macht. Die Notärzte haben kaum Zeit. Clara erzählt: „Die Niederländerin war schon seit ein paar Wochen dort und kannte sich ein bisschen aus.“ Mit ihrer Unterstützung lernt die PJ-Studentin, wie man Thoraxdrainagen legt, näht oft stundenlang eigenständig Stichverletzungen, schient und gipst mit Kollegen multiple Knochenbrüche. „Ich durfte viel mehr als in Deutschland“, sagt Clara. „Aber dass ich bei so einer OP 1. Assistenz sein würde, hätte ich mir trotzdem nicht träumen lassen.“

 

17-Jähriger mit Messerstichverletzung

An diesem Abend steht sie gerade an einem der Betten, um eine Wunde zu verbinden, als der Rettungsdienst einen jungen Mann auf einer Liege hereinfährt. Seine Mutter begleitet ihn. Jemand hat ihm auf Höhe seines Herzens ein Messer in die Brust gerammt. „Er hatte Pech, dass die Waffe genau zwischen seinen Rippen hindurchgeglitten ist“, sagt Clara. Es ist nicht klar, ob Lunge oder Herz verletzt sind. Der 17-Jährige ist bereits in einem kleineren Krankenhaus erstversorgt worden. Dort hat man die Wunde einfach zugenäht. „Sie haben aber wohl gemerkt, dass er nicht stabil ist, und ihn deshalb zu uns verlegt.“ Er ist nicht ansprechbar und wehrt Hilfe reflexartig ab. Augenblicklich schart der Notarzt jegliches medizinisches Personal um sich. Clara denkt: „Wahnsinn, die ganze Notaufnahme ist voll, und sie kümmern sich nur um ihn!“ Als 5–6 Menschen plötzlich ihren Sohn umringen, wird auch der Mutter klar, wie ernst die Lage ist.

 

Schlagartige Verschlechterung

Die PJlerin steht mittendrin und versucht zu helfen. „Was kann ich tun?“, fragt sie. „Du bist diejenige, die den Puls überwacht. Bleibt er aus, müssen wir den Thorax komprimieren.“ Zu Beginn fehlt es an jeglichen Überwachungsgeräten. Clara versucht also, den Puls in der Leiste und am Hals zu tasten, der Patient wehrt sich immer weniger, bewegt sich irgendwann gar nicht mehr. Er hört auf zu atmen. Mehrere Dinge passieren jetzt gleichzeitig: der 17-Jährige wird reanimiert und intubiert, die Herz-Thorax-Chirurgin wird gerufen. Man versucht Zugänge zu legen, was sich als sehr schwierig erweist. Der Patient ist ganz kaltschweißig.

 

Sofort operieren

Die Chirurgin ist innerhalb kürzester Zeit da. Sie setzt das Ultraschallgerät auf und gibt unmittelbar Bescheid: „Perikardtamponade, wir müssen ihn sofort operieren!“ Die Mutter fleht die Ärztin an, sein Leben zu retten. Doch Clara bezweifelt, dass das noch möglich ist. „Es war sehr dramatisch“, erinnert sie sich. „Ich kam mir vor wie in einem Film!“

 

Entscheidend: Blutzufuhr

Aus dem Labor treffen jetzt Blutkonserven ein, die mit in den OP müssen. Der Notarzt sagt zu der Studentin: „Wenn du sie trägst, bis du diejenige, die assistiert.“ Der Gedanke, die Aufgabe abzugeben, kommt ihr gar nicht: „Es war eine Chance für mich!“ Der 17-Jährige wird direkt in den OP gefahren, die Studentin läuft nebenher – Erythrozyten und Plasma unter dem Arm. Auf dem Weg wird weiter reanimiert. Die Chirurgin sagt: „Das Wichtigste ist, dass er von außen Blut bekommt!“ Der Anästhesist schafft es, 2 oder 3 Zugänge zu legen. Jeder schnappt sich einen Beutel und drückt das Blut in den Patienten hinein.

 

Notfall-Thorakotomie

Währenddessen beginnt die Chirurgin alleine, den Thorax aufzusägen. Sobald er offen ist, spritzt das Blut. „Es war, als hätte jemand einen Wasserhahn aufgedreht“, sagt Clara. Sie muss jetzt so schnell wie möglich einwaschen und an den Tisch. Für „chirurgisch sauber“ ist keine Zeit. Außer ihr ist noch ein Pfleger dabei, der instrumentiert. Die Chirurgin sagt: „Ich heiße Eileen. Wer bist du?“ Clara antwortet: „Clara.“ „Clara, du machst jetzt genau, was ich dir sage. Saug, damit ich irgendetwas sehen kann.“ Das Herz des Patienten liegt offen vor den beiden und pumpt schwach. Ziemlich schnell ist klar: Eines der Herzkranzgefäße ist durchgeschnitten – der Ramus interventricularis anterior der linken Koronararterie. Die Ärztin ist vollkommen ruhig, als sie beschließt, einen Bypass zu legen. Sie fordert Verstärkung an.

 

Autologer Venengraft

Die nächsten 15 min überbrücken sie irgendwie, dann ist endlich der Kollege da. Er drückt beide Enden des durchtrennten Gefäßes mit einer Pinzette zu und bereitet die Stelle vor, an die er den Bypass annähen wird. Währenddessen entnimmt die Chirurgin am rechten Unterschenkel einen Teil der V. saphena magna. Immer wieder kommt Nachschub an Blutkonserven aus dem Labor. Clara erinnert sich: „Der Blutdruck war so niedrig, dass ich dachte, der Patient schafft es nicht.“ Sie hat den Sauger und teilweise 2 Haken in der Hand, einer der beiden Chirurgen sagt jeweils an, was sie wann und wo halten, manchmal wo sie saugen soll. „Ich habe es so gemacht, wie ich es für sinnvoll hielt und gehofft, dass es richtig ist“, sagt sie.

 

Herzstillstand

Sechs Stunden nachdem der 17-Jährige in der Notaufnahme eingetroffen ist, ist der Bypass endlich gelegt. Clara Winge atmet auf. Doch dann hört das Herz des Patienten auf zu schlagen. „In dem Moment ist mir selbst fast das Herz stehen geblieben“, sagt sie. Die Ärzte setzen sofort intrathorakale Paddles auf und defibrillieren 3-mal. Tatsächlich fängt das Herz wieder an zu schlagen, und der Patient stabilisiert sich. „Das gibt's gar nicht“, denkt Clara. „Er lebt tatsächlich noch!

 

Ungewisses Outcome

Sonntagfrüh um 7 Uhr: Das Ende ihrer Schicht fällt mit dem Ende der OP zusammen. Der Patient wird auf die Intensivstation verlegt, sie entledigt sich der blutigen OP-Bekleidung und macht sich auf den Weg nach Hause. „Ich war völlig platt, als ich ankam, hatte all die Bilder noch vor Augen!“ Was aus dem 17-Jährigen wird, erfährt Clara nicht. Sie findet noch heraus, dass er nach ein paar Tagen auf die Normalstation wechselt, kann aber seine Spur in dem riesigen Krankenhaus nicht weiter verfolgen. Frustrierend findet sie, dass er – falls er überhaupt ohne Folgen davonkommt – in ein paar Wochen wahrscheinlich wieder in der Notaufnahme auftaucht.

 

Studentin als 1. OP-Assistenz

Im Nachhinein ist Clara vor allem begeistert von der Chirurgin, die sich einfach mit einer Studentin an den OP-Tisch stellt. „Sie war total konzentriert und überhaupt nicht cholerisch. Im Gegenteil: Sie war immer freundlich, fast schon höflich!“ Sie hat nie infrage gestellt, dass die Studentin assistiert – obwohl die niederländische Ärztin es sicherlich auch gerne übernommen hätte. „Die Chirurgin wollte sich erst mit mir einen Überblick verschaffen und dann gegebenenfalls Hilfe anfordern. Sie ging davon aus, dass wir das gemeinsam hinbekommen“, sagt Clara. Sie hat eine solche Operation vorher noch nie live gesehen – erst recht stand sie noch nie am Patienten, um mitzuoperieren. „Allenfalls habe ich mal versucht, von hinten einen Blick auf das Herz zu erhaschen!“ Die Anweisungen waren jedoch so klar, dass sie rückblickend nichts anders gemacht hätte. „Nur am Anfang habe ich mich am OP-Tisch kurz überfordert gefühlt“, meint sie.

 

Nicht vorschnell aufgeben

Clara nimmt aus ihrem Schlüsselerlebnis besonders eine Erkenntnis mit: Auch eine hoffnungslose Situation kann sich zum Guten wenden, wenn man sein Bestes gibt, befolgt, was man gelernt hat, und alles andere ausblendet – so wie es die Chirurgin getan hat. „Das Gefühl zu wissen, der Patient hat es geschafft, wir haben erreicht, was wir maximal erreichen konnten, war unbeschreiblich!“

 

 

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