- Kasuistik
- |
- PD Dr. med. habil. S. Lederer
- |
- 07.09.2007
Notfall: Stromschlag
Eigentlich ist Strom ganz schön praktisch. Ohne diesen allgegenwärtigen Helfer gäbe es kein Licht zum Anknipsen, keine Mikrowellenfertigkost - und auch der Fernseher bliebe schwarz. Strom zur falschen Zeit am falschen Ort ist allerdings sehr gefährlich! Rettungsmediziner Dr. Siegfried Lederer erklärt, wie man nach einem Elektrounfall professionell hilft.
Vielleicht wäre Holger K. an diesem Tag lieber früher zu Bett gegangen. Es ist der Abend des 28.10.2004, Tief Carolin hat Deutschland fest im Griff, das Wetter in Brandenburg ist grau und ungemütlich. Passend dazu hat Hertha BSC am Dienstag gegen Dortmund verloren und ist auf den elften Tabellenplatz abgerutscht. Um die aufkeimenden Herbstdepressionen durch Heimwerkeln zu vertreiben, will der 56-Jährige heute Baustrom mit einer Spannung von 360 Volt in seiner Werkstatt verlegen. Er klettert auf eine Trittleiter, streckt sich nach dem Stromkasten aus und - ZACK! - findet sich auf dem Werkstattboden wieder. Herr K. kann nicht mehr auftreten, weil er beim Sturz von der Leiter im rechten Sprunggelenk umgeknickt ist. Seine rechte Hand brennt wie Feuer, und das Herz "stolpert" ganz seltsam in seiner Brust. Schnell ruft die Ehefrau den Notarzt. Schon nach zehn Minuten trifft das Rettungsteam ein - Einsatzstichwort "Leitersturz".
Erstversorgung eines Niederspannungsunfalls
Dieses Szenario ist typisch für einen Niederspannungsunfall, also einen Stromunfall mit einer Spannung unter 1.000 Volt. Dabei fließt Strom direkt durch den Körper - entweder "zweiphasig", vom Stromkreis durch den Körper zurück in den Stromkreis, oder wie im Fall von Holger K. "einphasig", sprich vom Stromkreis durch den Körper und die Trittleiter in die Erde. Die Energie schädigt den Körper auf zweierlei Weise:
- Zum einen führt die thermische Wirkung zu Hitze und lokalen Verbrennungen,
- zum anderen stört die elektrophysiologische Wirkung die Reizbildung und Leitung am Herzen.
Als das Rettungsteam beim Patienten ankommt, liegt dieser am Boden, ist aber ansprechbar. Jetzt geht alles Schlag auf Schlag. Ein Rettungsassistent kontrolliert die Vitalfunktionen: Der Blutdruck ist mit einem Wert von RR 180/110 leicht erhöht. Die Herzfrequenz ist schnell und unregelmäßig, sie liegt zwischen 90 und 123 Schlägen pro Minute. Die Sauerstoffsättigung (SpO2) ist mit 93% nicht allzu schlecht, trotzdem bekommt der Patient über eine Maske vier Liter O2/min. Äußerlich erkennt der geschulte Blick des Notarztes sofort "Strommarken" - Verbrennungen an den ersten drei Fingern der rechten Hand.
Strommarken und Verbrennungen der Hände
Per "WaterJel-Kompresse" werden sie gekühlt. Eine Vakuumschiene stellt das vermeintlich angeknackste Sprunggelenk des Pechvogels ruhig.
Währenddessen löst ein EKG das Geheimnis des Herzrasens: Der elektrische Schlag hat zu ventrikulären und supraventrikulären Extrasystolen geführt. Als das Team Herr K. nach und nach 5 mg des Betablockers Metoprolol injiziert, normalisieren sich Herzschlag und Blutdruck. Zusätzlich bekommt er ein Schmerz- (0,5 g Aspisol®) und ein Beruhigungsmittel (3 mg Midazolam) - und hat damit das Schlimmste überstanden.
Kleine Physik der Stromunfälle: Es gibt drei Größen, die für die Wirkung von Strom verantwortlich sind: Spannung, Widerstand und Stromstärke. Die in Volt gemessene Spannung (U) hängt von der Stromquelle ab. Der Widerstand (R) in Ohm wird davon bestimmt, wie gut ein Teil eines Stromkreises leitet. Deshalb beträgt der Hautwiderstand bei trockener, verhornter Haut bis zu 100.000 Ohm und bei dünner, feuchter Haut nur etwa 500 Ohm. Ist der Strom stark genug, thermisch die Haut zu zerstören, nimmt dieser Widerstand innerhalb kürzester Zeit noch weiter ab. Die Stromstärke (I) in Ampere hängt letztendlich von Spannung und Widerstand gemeinsam ab, und zwar nach dem Ohm'schen Gesetz im Verhältnis I = U:R.
Sowohl für Spannung als auch für Stromstärke gilt - je höher, desto größer der Schaden nach einem Stromunfall. Aber auch eine relativ geringe Stromstärke von 15 bis 25 mA kann gefährlich sein: Ab dieser "Loslassgrenze" führt ein Stromfluss zu Muskelkontraktionen. Ein Unfallopfer kann dann die Hand nicht mehr von einer Stromquelle lösen!
Schwächstes Glied bei Niederspannung: das Herz
Nachdem das Rettungsteam Holger K. fachkundig versorgt hat, ist sein Herzschlag wieder normal und sein Kreislauf stabil. Trotzdem nehmen die Sanitäter den Patienten mit in das nächstgelegene Krankenhaus. Jedes Opfer eines Stromunfalls muss für mindestens acht Stunden zur Beobachtung in eine Klinik! Solange können auch bis dato völlig symptomfreie Unfallopfer ganz plötzliche gefährliche Herzrhythmusstörungen entwickeln. Zudem kann Niederspannung bei Menschen, deren Herz etwa durch eine koronare Herzkrankheit vorgeschädigt ist, zu einem Myokardinfarkt führen. In der Klinik wird die Herzfunktion des Patienten deswegen per 12-Kanal-EKG überwacht. Um einen Infarkt auszuschließen, testen die Ärzte außerdem im Abstand von sechs Stunden zweimal seine Herzenzyme (CK, CK-MB und Troponin-I).
Bei Niederspannungsunfällen sind die Schäden am Herzen meist schwerwiegender als die Brandverletzungen. Entscheidend ist dabei nicht nur Stärke, sondern auch Art des Stromes: Gleichstrom, der konstant in eine Richtung fließt, ist für das Herz weniger belastend als "oszillierender" Wechselstrom. Während Batterien, Telefon und viele medizinische Geräte mit Gleichstrom arbeiten, fließt in deutschen Haushaltsnetzen Wechselstrom. Und unglücklicherweise hat Wechselstrom aus Steckdosen eine Frequenz, die besonders häufig Rhythmusstörungen auslöst - 50 Hertz. Wichtig ist auch, welchen Weg Strom durch den Körper nimmt: Lebensbedrohliche Arrhythmien treten öfter auf, wenn die Bahn des Stromes durch die Herzachse geht. Normalerweise fließt Strom linear von Eintritts- zu Austrittsstelle, sprich ein Kontakt "Kopf zu Fuß" ist gefährlicher als einer "Hand zu Hand".
Wenn ein Herz nach einem Stromschlag versagt und das Rettungsteam ein reanimationspflichtiges Unfallopfer vorfindet, sollte man nicht sofort aufgeben. Meistens handelt es sich bei Betroffenen um bis dahin gesunde Personen, bei denen die Reanimationschancen gut stehen. Deshalb, und weil Zeitangaben oft unzuverlässig sind, gilt: Im Zweifel immer reanimieren, und zwar nach den anerkannten Regeln des "European Resuscitation Council".
Nonplusultra bei Hochspannung: Eigenschutz
Noch gefährlicher sind Stromunfälle mit sogenannter Hochspannung ab 1.000 Volt. In Acht nehmen sollte man sich etwa vor Überlandleitungen, in denen über 100.000 Volt fließen! Bei der Erstversorgung von Hochspannungsunfällen ist eines besonders wichtig - der Eigenschutz. Die Bergung der Opfer gehört hier immer in die Hände von Fachleuten! Nur entsprechend ausgebildete Experten können den Stromkreis abschalten und gegen Wiedereinschalten absichern. Diese müssen dann eindeutig feststellen, dass die Leitung stromfrei ist und den Abschnitt zur Sicherheit erden. Bis dahin müssen auch die Sanitäter einen Sicherheitsabstand zur Unfallstelle einhalten. Ein Grund dafür ist die Gefahr von "Lichtbögen" - auch ohne direkten Körperkontakt kann Hochspannung vom Stromkreis auf einen Menschen überspringen. Dabei sind Entladungen über eine Distanz von bis zu vier Metern möglich! Die Folge solcher "indirekten" Stromunfälle sind dann schwere Verletzungen, zum Beispiel drittgradige Verbrennungen.
Verbrennung beider Beine durch Lichtbogen 20 kV
Innerliche und äußerliche Verbrennungen
Den Grundsatz "Eigenschutz zuerst" einzuhalten, fällt auch dem Team des Rettungshubschraubers Christoph 49 schwer, als es zu einem jungen Techniker der Bundesbahn gerufen wird. Dieser hatte am 15.000 Volt starken Eisenbahn-Oberleitungsnetz gearbeitet, als ihn ein heftiger Stromstoß erfasste. Seine Kleidung fing sofort Feuer. Jetzt hängt er in sechs Metern Höhe am Montagemast, gesichert durch Karabinerhaken. Erst den Kollegen der Bahn und der Feuerwehr gelingt es, das Feuer zu löschen und den Verletzten zu retten.
Dem Rettungsteam zeigt sich ein verheerendes Bild. Der junge Mann ist somnolent und hat am ganzen Körper starke Verbrennungen. Sicherheitsgurt und Arbeitskleidung sind miteinander verschmolzen und lassen sich nicht vom Körper entfernen
Schwere III°ige Verbrennungen - die Kleidung lässt sich nicht entfernen
Das Team kämpft um das Leben des Patienten: Über einen dicklumigen Zugang bekommt er intravenös Beruhigungs- und Schmerzmittel - 5 mg Midazolam und 0,5 mg Ketamin/kg KG. Parallel überwacht ein Rettungsassistent die Vitalfunktionen, misst Blutdruck und Sauerstoffsättigung und leitet ein EKG ab. Soweit möglich, kühlt er auch die verbrannte Körperoberfläche. Ein zweiter Sanitäter hat währenddessen 1.000 ml Ringerlösung vorbereitet, um einem Schock durch Volumenverlust vorzubeugen.
Bei Kontakt mit Hochspannung wirken thermische Energien über 1.000 °C auf die Unfallopfer! Es kommt zu schweren Verbrennungen, oft übertrifft der "interne Schaden" die äußeren Verletzungen. Deshalb ist die "Baxter"-Formel*, die benutzt wird, um den Flüssigkeitsbedarf von Verbrennungsopfern zu berechnen, nur eingeschränkt gültig. In den ersten Stunden ist oft ein höheres Infusionsvolumen vonnöten. Was hilft den Schaden abzuschätzen, ist die Suche nach Strommarken: Mit ihrer Hilfe lässt sich der Weg des Stromes durch den Körper rekonstruieren - für den Arzt ein wertvoller Hinweis, welche Organe und welches Gewebe verletzt sind.
Achtung "Crushniere"
Die Verletzungen des jungen Mannes sind so schwer, dass der Notarzt sich für eine Anästhesieeinleitung plus Intubation entscheidet. Durch eine intravenöse Dosis Etomidat (2 mg/10 kg KG) und Fentanyl (0,2 mg) verliert der Patient das Bewusstsein. Vor der Intubation injiziert das Rettungsteam noch Esmeron® (0,6 mg/kg KM). Das "nicht depolarisierende Muskelrelaxanz" entspannt die Muskulatur, ohne Kalium freizusetzen. Das ist wichtig, weil Hochspannung meist so viel Gewebe zerstört, dass schon davon der Kaliumspiegel im Blut stark ansteigt.
"Depolarisierende Muskelrelaxantien" würden die Konzentration zusätzlich steigern - mit lebensbedrohlichen Folgen: Möglich wären Bradykardien bis hin zum Herzstillstand. Kalium ist auch nicht der einzige Stoff, den zerstörte Muskulatur abgibt: Auch Myoglobin gelangt in großer Menge in den Blutkreislauf, überflutet die Niere und führt im schlimmsten Fall zu einer schweren Nierenschädigung, der "Crushniere". Um die Gefahr zu entschärfen, müssen entwässernde Medikamente wie Furosemid die Diurese von Stromschlagpatienten ankurbeln - natürlich zusammen mit ausreichend Infusionen.
Zum Glück hat der Stromschlag die Atemwege des Technikers nicht verletzt. Einmal intubiert, lässt er sich problemlos künstlich beatmen. Die Sauerstoffsättigung liegt nun bei 100 Prozent. Mit relativ stabilem Kreislauf, einem Blutdruck von RR 127/86 und einer Herzfrequenz von 112/min kann das Rettungsteam den Verletzten auf eine Vakuummatratze lagern - die Verbrennungen gut abgedeckt und geschützt durch ein Metalline-Tuch.
Wenn der Blitz einschlägt …
Auch ein Blitz ist nichts anderes als geballte Hochspannung, allerdings im Mega- bis Giga-Volt-Bereich. Dabei entladen sich schlagartig Stromstärken zwischen 20.000 und 40.000 Ampere - und erzeugen Temperaturen von über 10.000 °C!
Dass ein solcher Ausbruch an Naturgewalt einen Menschen trifft, ist selten, die Folgen sind dann aber fatal: Das helle Licht - infra- und ultrarote Strahlung - blendet das Auge, schädigt die Netzhaut und kann zum Erblinden führen. Die plötzliche Hitze dehnt die Umgebungsluft aus. Dabei entstehen Druckwellen, die das Trommelfell zerreißen und das Gleichgewichtsorgan verletzen. Weil ein Blitz nur sehr kurz, etwa 0,1 bis 1 Sekunde, auf den Körper einwirkt, überwindet die Spannung zum Glück selten den Hautwiderstand, Verbrennungen sind oft oberflächlich. Wenn der Einschlag aber doch die Barriere Haut durchbricht, ähneln die Verletzungen denen schwerster Hochspannungszwischenfälle: plötzlicher Herzstillstand und Schäden der Nervenbahnen beziehungsweise des Gehirns, die zu Lähmungserscheinungen und Bewusstlosigkeit führen. Unfallopfer, die einen Blitzeinschlag überlebt haben, leiden oft unter Angst- und Panikattacken. Sie brauchen deshalb intensive psychologische Betreuung.
Auch für die Retter sind Blitzunfälle nicht ungefährlich. Unmittelbar nach dem Einschlag in der Erde bildet sich am Boden ein Spannungstrichter aus. Wer darauf steht, wird von einer "Stride", einem elektrischen Schlag von Bein zu Bein, getroffen. Allerdings fließt die Energie innerhalb von 15 Sekunden über den Boden ab.
Abflug ins Ungewisse
Per Hubschrauber wird der junge Bundesbahntechniker zum etwa 15 Minuten entfernten Zentrum für Schwerbrandverletzte transportiert. Hier hat er einen langen und kraftraubenden Behandlungsmarathon vor sich - leider mit ungewissem Ende. Noch immer endet in Deutschland jeder dritte Hochspannungsunfall tödlich!
Holger K. hat dafür Glück im Unglück: Sein Herz lässt sich nicht mehr aus dem Takt bringen, das Sprunggelenk ist nur verstaucht und nicht gebrochen. Relativ unversehrt kann er die Klinik schon am nächsten Morgen verlassen - und am Samstag drauf gewinnt dann auch Hertha BSC wieder drei zu eins gegen Freiburg. Für Holger K. ist die Welt wieder in Ordnung. Nur vor dem Stromkasten hat er von jetzt ab einen Heidenrespekt.