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  • Praxisanleitung
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  • Dr. med. Frank Kerling, Erlangen
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  • 24.10.2006

Notfall: Status epilepticus

Auch Cäsar und Napoleon litten daran. Trotzdem haben Krampfanfälle nichts Kaiserliches. Ein Epileptiker, der sich zuckend auf dem Boden windet, benötigt eher dringend Hilfe. Der Neurologe Dr. med. Kerling schildert einen typischen Notfall dieser Krankheit und erläutert die Therapie.

 

So ein Sonntagsausflug zum Trödelmarkt ist normalerweise keine aufregende Sache. Tim ist in Feiertagslaune und ahnt noch nicht, was ihm bevorsteht. Nach der anstrengenden Neuro-Klausur letzte Woche will er sich mit ein paar gebrauchten CDs belohnen. Gemächlich stöbert er Kiste für Kiste durch, bis er plötzlich in zwei starre, weit aufgerissene Augen blickt: Der Mann neben ihm ist zusammengebrochen und beginnt an Armen und Beinen heftig zu zucken. Ein großer epileptischer Anfall, ein Grand-mal! Schnell lockt diese bedrohlich anmutende Situation eine große Menschenmenge an. Tim fasst sich ein Herz und kniet sich neben den Krampfenden, aus dessen Mund blutiger Schaum läuft. Das Gesicht verfärbt sich bläulich. „Da muss man einen Beißkeil in den Mund stecken!“, ruft einer der Umstehenden, ein anderer versucht den zuckenden Körper mit Gewalt festzuhalten. Tim erinnert sich an die Neurologie-Vorlesung und wehrt ab: „Ganz ruhig! So ein Anfall dauert meistens nicht lange.“ Er weist auch den zweiten Schaulustigen zurück: „Ein Beißkeil nützt nichts, da besteht nur die Gefahr, den Patienten zu verletzen oder einen Finger abgebissen zu bekommen!“ Nachdem das Gesicht des Mannes zuletzt blitzblau aussieht, werden die Zuckungen tatsächlich seltener. Am Ende fällt er in einen tiefen Schlaf.

Tim untersucht ihn auf Kopfverletzungen und bringt ihn danach in die stabile Seitenlage, um die Aspirationsgefahr zu vermindern. Zum Glück findet er nur eine kleine Abschürfung am Hinterkopf. Atmung und Puls sind in Ordnung. Einer der Schaulustigen hat einen Rettungswagen gerufen. Im Gewühl des Flohmarktes dauert es allerdings eine ganze Weile, bis die Mannschaft mit der Trage eintrifft. Tim spricht den Patienten in dieser Zeit mehrmals an, bekommt aber keine Antwort. Das Rettungsteam legt dem Bewusstlosen eine Infusionsnadel und hängt eine Kochsalzinfusion an. Laut Ausweis heißt der Patient Paul Schmidt und ist 41 Jahre alt. Tim schildert dem Notarzt den Vorfall und wird von dem älteren Kollegen für sein umsichtiges Verhalten gelobt. Aufgeregt, gleichzeitig aber auch erleichtert, schaut er dem Rettungswagen hinterher.

Er ahnt nicht, dass der Leidensweg von Herrn Schmidt noch nicht vorbei ist: Nach nur zwei Minuten Fahrt fangen Arme und Beine erneut an zu zucken und sein Körper windet sich wieder in Krämpfen. Da er zwischendurch zu keiner Zeit bei Bewusstsein war, lautet die Diagnose nun: Status epilepticus – Lebensgefahr für den Patienten! Der Notarzt schafft es, Herrn Schmidt 2 mg Lorazepam durch den venösen Zugang zu spritzen. Nach vier wilden Minuten Grand-mal-Anfall im Rettungswagen hören die Krämpfe glücklicherweise auf. In der Klinik nimmt der diensthabende Neurologe Dr. Koch dann einen erneut friedlich schlafenden Patienten in Empfang. Dr. Koch untersucht ihn gründlich, aber bis auf die Bewusstlosigkeit fällt ihm nichts auf – wie durch ein Wunder keine neuen Verletzungen! Da Herr Schmidt überhaupt nicht zu sich kommen will, bringen Dr. Koch und ein Pfleger ihn nach der Blutentnahme zum CT. Argwöhnisch achten sie dabei die ganze Zeit auf neue Anzeichen eines Krampfanfalls. Aber der Patient schläft nur tief, während ein CT seines Kopfes gemacht wird. Er wacht auch nicht auf, als er danach zur Beobachtung auf die Intensivstation kommt. Das Computertomogramm des Schädels ist vollkommen unauffällig.

 

Glückliches Erwachen

Seit der Einlieferung ist fast eine Stunde vergangen, da kommt Herr Schmidt endlich zu sich. Nach ein paar Minuten ist er wieder voll da und erinnert sich: Heute Morgen wollte er auf den Trödelmarkt und hat dort nach Büchern gestöbert. Damit enden seine Erinnerungen. Für die Zeit danach hat er einen kompletten „Filmriss“. „War das Ihr erster epileptischer Anfall?“, fragt ihn Dr. Koch. „Nee, dass ich Epileptiker bin, weiß ich schon“, antwortet Herr Schmidt. „Eigentlich nehme ich auch immer Carbamazepin. Aber ich hatte schon lange keine Anfälle mehr. Deshalb dachte ich, dass ich die Medikamente vielleicht weglassen kann.“ „Haben Sie sie gar nicht mehr genommen?“, fragt ihn Dr. Koch. „Unregelmäßig“, gibt der Patient zu. „Ging ja auch gut – bis heute“, seufzt er. „In den letzten Tagen war ich zwar ein bisschen schlapp und hatte leicht erhöhte Temperatur, aber sonst lief alles blendend.“ „Ja, bis die Kollegen Sie retten mussten“. Dr. Koch schüttelt tadelnd den Kopf. Aber im Stillen freut er sich, dass sein Patient sich wieder erholt und nur noch etwas müde ist.

Er belässt den intravenösen Zugang, falls doch noch weitere Medikamentengaben notwendig sein sollten und bestellt im Labor den Carbamazepin-Spiegel nach. Unter den Routinewerten sind nur die Entzündungsparameter – Leukozyten und CRP – leicht erhöht, alles andere ist unauffällig. Herr Schmidt erhält am Abend und am nächsten Morgen wieder seine gewohnte Tablette Carbamazepin. Am Montag wird noch ein EEG abgeleitet, das unauffällig ist. Dagegen zeigt das Blut einen viel zu niedrigen Medikamentenspiegel – aber das hatte der Patient ja schon gebeichtet. Als Tim auf dem Weg zum Hörsaal kurz in der neurologischen Klinik vorbeischaut, ist Herr Schmidt schon entlassen und auf dem Weg zu seinem niedergelassenen Neurologen. Tim hat noch das bläulich verfärbte Gesicht im Kopf und wundert sich. So schnell entlassen? Er wird noch einmal genau nachlesen, was bei einem epileptischen Anfall eigentlich passiert.

 

Neurone außer Rand und Band

Als Herr Schmidt krampfend auf dem Boden lag, spielten in seinem Gehirn etliche Nervenzellen verrückt. Diese Nervenzellen – Neurone – gaben gleichzeitig und völlig irregulär elektrische Ladungen ab. Solch ein „Feuerwerk“ kann auftreten, wenn die Neurone sehr leicht erregbar sind. Die Gründe dafür sind ganz unterschiedlich: Lokale Schäden im Kopf, zum Beispiel Hirntumoren, Infektionen oder Hypoxie können genauso eine Rolle spielen wie eine genetische Veranlagung. Hinzu kommen oft Auslöser wie beispielsweise Schlafmangel, Medikamentenentzug oder banale Infekte. Je nachdem, wo sich die Zellen im Gehirn entladen, zeigen die Patienten unterschiedliche Phänomene. Sitzen die verrückt spielenden Neurone zum Beispiel im Bereich der primär motorischen Hirnrinde, zucken entweder einzelne Muskeln oder ganze Extremitäten, was dann Kloni genannt wird. Entladen sich dabei nur Neurone einer Hemisphäre, bleiben auch die Kloni auf eine Körperhälfte beschränkt. Ist wie bei Herrn Schmidt die motorische Hirnrinde beidseits betroffen, treten die Muskelkrämpfe generalisiert auf. So kann es zu einem großen epileptischen Anfall kommen (Grandmal oder „tonisch-klonischer“ Anfall).

Die Bildergalerie oben zeigt eindrucksvoll den Verlauf eines Krampfanfalls.

Präsentiert sich dieser Anfall sofort in voller Ausprägung, heißt er „primär generalisiert“. Entwickelt sich ein Grand-mal aus einem kleineren Anfall, nennt man ihn „sekundär generalisiert“. Wenn das „Feuerwerk“ der Neurone an einer anderen Stelle des Gehirns sitzt, treten manchmal auch gar keine motorischen Symptome auf. Bei Anfällen im Bereich des Schläfenlappens können die Patienten zum Beispiel unter Angstgefühlen leiden. Manchmal spüren sie auch nur nein aufsteigendes „Kribbeln“ vom Magen.

 

Sonderfall Status epilepticus

Während eines Anfalls werden im Gehirn hemmende Botenstoffe freigesetzt, zum Beispiel Gamma-Amino-Buttersäure (GABA). Sie helfen das Geschehen zu begrenzen. In der Regel dauern epileptische Anfälle deshalb nicht länger als ein bis zwei Minuten. Für Umstehende ist es vor allem wichtig, sich besonnen zu verhalten.

 

Verhalten beim Grand-mal-Anfall

Ein einfacher Grand-mal-Anfall sieht zwar bedrohlich aus, muss aber nicht mit Medikamenten durchbrochen werden! Für Herrn Schmidt war die Situation deshalb so gefährlich, weil bei ihm ein Status epilepticus vorlag. Von einem Status spricht man, wenn ein Patient zwischen zwei Anfällen nicht zu Bewusstsein kommt oder ein Anfall länger als fünf Minuten dauert. Hier versagen die hemmenden Botenstoffe. Grundsätzlich kann jeder Typ eines epileptischen Anfalles als Status auftreten. Man unterscheidet grob den "konvulsiven", also krampfartigen, vom "nonkonvulsiven Status". Die Ärzte im Rettungswagen mussten bei Herrn Schmidt den schlimmsten Fall eines "konvulsiven Status" behandeln, den "Grand-mal-Status". Es gibt aber auch den lokal begrenzten, "fokalen konvulsiven Status". Der Patient krampft dabei nicht mit dem ganzen Körper, sondern zuckt nur mit einzelnen Extremitäten oder einzelnen Muskelgruppen. Oft geschieht dies bei vollem Bewusstsein. Im "nonkonvulsiven Status" stehen nicht die Muskelkrämpfe im Vordergrund. Vielmehr sind die Patienten - mehr oder weniger - in ihrem Bewusstsein gestört. Sie fallen zum Beispiel auf, weil sie plötzlich vor sich hin dämmern und kaum ansprechbar sind. Manchmal irren die Betroffenen in diesem Zustand auch ziellos in der Gegend umher. Einige Patienten schaffen es sogar noch, einkaufen zu gehen. Das Bezahlen an der Kasse klappt dabei aber meistens nicht mehr.

 

Tödliche Gefahr

Verglichen mit der Gesamtzahl von epileptischen Anfällen ist ein Status eher selten. Dennoch trifft er in Deutschland jedes Jahr ungefähr 16.000 Menschen. Ein generalisierter „konvulsiver Status“ ist eine absolute Notfallsituation. Herr Schmidt hatte Glück, denn etwa jeder zehnte dieser Notfälle endet tödlich. Während die Neurone feuern, ist der Energieumsatz im Gehirn um das Drei- bis Vierfache erhöht und die Körpertemperatur steigt an. Gelingt es Ärzten nicht, den Status zu unterbrechen, versterben die Patienten an zentralem Herz- und Lungenversagen. Auch Komplikationen wie Hypoxie, Aspiration, Rhabdomyolyse oder ein Hirnödem können zum Tod führen. Es gibt sehr unterschiedliche Ursachen für einen Status. Alle akuten und chronischen Krankheiten, bei denen das zentrale Nervensystem betroffen ist, können im Prinzip zu einem Status führen. In drei von vier Fällen spielen die Hauptrolle jedoch der Entzug von Alkohol oder Medikamenten, ein Hirninfarkt, eine Hirnblutung oder eine diffuse Hypoxie. Auch Herr Schmidt hatte mit seinen Medikamenten geschlampt, hinzu kamen als Auslöser noch sein grippaler Infekt und ein Schlafdefizit. Ein längerer Status lässt sich schwerer durchbrechen und hat eine schlechtere Prognose. Deshalb ist eine frühzeitige und konsequente Therapie sehr wichtig.

 

Therapie des Status epilepticus

 

Die erste Stufe ist immer ein Benzodiazepin intravenös oder rektal. Auf jeder Stufe sollte man die Substanz bis zur Höchstdosis ausreizen. Ab der dritten Stufe müssen die Patienten auf der Intensivstation behandelt werden. Diagnostische Maßnahmen – mit Ausnahme der Blutentnahme – erfolgen erst, wenn der generalisierte Status durchbrochen ist.

 

Verschroben oder Epileptiker?

Dieses Schema gilt auch für den „fokalen konvulsiven Status“ ohne Bewusstseinsverlust und für den „nonkonvulsiven Status“. Bei ihnen muss jedoch nicht so aggressiv vorgegangen werden, weil die Situation zunächst einmal nicht lebensbedrohlich ist. Ein „nonkonvulsiver Status“ kann oft erst nach dem EEG therapiert werden, weil die Diagnose vorher meist noch gar nicht klar ist. Die Symptome werden nicht als Epilepsie erkannt, da die Patienten eben nicht krampfen, sondern eher durch merkwürdiges Verhalten auffallen. Eine Patientin hat sich in ihrem „nonkonvulsiven Status“ zum Beispiel einmal ständig Currywürste bestellt – obwohl sie überzeugte Vegetarierin war! Gerade bei älteren Menschen sollte man an einen „nonkonvulsiven Status“ denken, wenn sie plötzlich in ihrem Bewusstsein oder Verhalten gestört sind und dieser Zustand länger andauert. Ein besonders eindrucksvolles EEG zeigt dabei der so genannte „Absencestatus“, bei dem sich ganz charakteristische Wellen finden.

 

 

Das typische EEG eines „Absencestatus“: Alle Ableitungen zeigen in jeder Sekunde drei bis vier charakteristische Wellen, so genannte „3/s Spikewaves“. Der Patient war aufgefallen, weil er unangemessen reagierte, wenn man ihn ansprach.

Nach dem Krampf ist vor dem Krampf

Nach erfolgreicher Ersttherapie eines Status ist es wichtig, seine Ursache zu erkennen, da davon häufig die Prognose abhängt. Ein Status wegen des Entzugs von Alkohol oder Medikamenten ist meist unkompliziert. Bei Hypoxie oder metabolischen Ursachen ist die Prognose dagegen eher schlecht. Alle Patienten, bei denen eine Epilepsie diagnostiziert wird, sollten medikamentös behandelt werden. Seltene Ausnahmen sind Patienten, die ganz anfallsfrei bleiben, wenn sie bestimmte Auslöser vermeiden. Es gibt eine ganze Reihe von Medikamenten, die epileptische Anfälle verhindern können. Diese so genannten Antikonvulsiva wirken auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Phenytoin stabilisiert zum Beispiel die Zellmembranen der Neurone. Einige Wirkstoffe wie Barbiturate und Benzodiazepine erhöhen den hemmenden Einfluss von GABA. Andere Medikamente hemmen den erregenden Botenstoff Glutamat. Ein paar Antikonvulsiva wirken über mehrere Wege, und von einigen Stoffen ist der Wirkmechanismus bis heute unbekannt. Das Medikament wird je nach Epilepsiesyndrom ausgesucht und die Dosis so lange erhöht, bis keine Anfälle mehr auftreten. Goldstandard ist die Gabe einer einzigen Substanz! Kombinationen sollten besonders am Beginn einer Behandlung vermieden werden, da es oft zu Interaktionen kommt und Nebenwirkungen verstärkt werden. Rund zwei Drittel aller Patienten lassen sich mit Medikamenten gut behandeln.

 

Ultima ratio – die Neurochirurgie

Helfen Medikamente nicht, bleibt den Patienten als letzte Chance manchmal nur noch die Operation. Neurochirurgische Eingriffe bei Epileptikern? Das erinnert stark an die gruselige Vergangenheit, als man den Kranken radikal alle Verbindungen zwischen den Hirnhälften durchtrennte. Gerade Patienten mit Epilepsie haben aber in den letzten Jahren stark von den Fortschritten in der Medizin profitiert. Neue diagnostische und operative Techniken versprechen Erfolg. Eine Operation kommt allerdings nur unter bestimmten Bedingungen in Frage. Es muss ein klarer Herd vorliegen, wie zum Beispiel eine Hippocampussklerose oder Gefäßmissbildungen. Die Patienten werden in spezialisierten Zentren sehr genau untersucht. Ihre Anfälle werden als Video-EEGs aufgezeichnet und eine Runde von Spezialisten – Epileptologen, Neuropsychologen und Neurochirurgen – bespricht die Ergebnisse. Vor der Operation muss natürlich klar sein, dass der Patient sie ohne ernsthafte Schäden übersteht und nicht nachher an Lähmungen oder Sprachstörungen leidet. Ideale Kandidaten sind Patienten mit einem Fokus im rechten Schläfenlappen. Von ihnen sind nach dem Eingriff 60–70 Prozent geheilt, das heißt, vollkommen anfallsfrei.

 

Dr. med. Frank Kerling ist Funktionsoberarzt in der Neurologie. Er arbeitet am Epilepsiezentrum in Erlangen.
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