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  • Agnieszka Wolf
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  • 03.05.2006

Fallorientiert lernen: ST-Veränderungen im EKG

Die Elektrokardiographie ist für manche Ärzte ein Buch mit sieben Siegeln. Dabei ist sie für die Diagnose vieler häufiger Krankheitsbilder unentbehrlich. Wer ein EKG zu lesen versteht, kann innerhalb von Sekunden schwere Herzkrankheiten erkennen. Weicht zum Beispiel die ST-Strecke nur Millimeter von ihrer „Ideallinie“ ab, kann das bedeuten, dass der Patient in Lebensgefahr schwebt.

„Hier, lies mal!“ Mit diesen Worten drückt Oberarzt Dr. Horner Oliver einen Stapel Blätter in die Hand und lässt ihn im Ärztezimmer allein. Ein Blick genügt und Oliver stöhnt auf. Oh Gott! Ein EKG-Streifen!

Zugegeben: Er hatte im Innere-Blockpraktikum Praxisbezug erwartet ... Aber gleich so viel? Schon in der Vorklinik hatte er nicht verstanden, wie man aus all den Re- und Depolarisationen erkennen soll, was sich im Myokard eines Patienten abspielt! Widerwillig breitet er den meterlangen Schrieb vor sich aus und mustert verwirrt die gezackten Linien.

Dann erinnert er sich an den Patienten, von dem das EKG stammt. Vor einer Stunde hat er ihn selbst untersucht. Der junge Mann ist heute Morgen wegen neu aufgetretener retrosternaler Schmerzen in die Klinik gekommen. Die Beschwerden seien heftiger, wenn er sich schnell bewegt oder einatmet. Vier Wochen zuvor habe er eine „Grippe“ gehabt. Bei der Auskultation des Herzens war Oliver ein seltsames Reiben und Kratzen aufgefallen, das er über fast jeder Stelle des Herzens hören konnte. Handelt es sich also um eine Erkrankung, die das ganze Herz betrifft?
Plötzlich reißt Oliver eine Stimme aus seinen Gedanken. „Und? Was hat unser Patient?“, fragt ihn Assistenzarzt Jonas, der sich hinter seinem Rücken ins Zimmer geschlichen hat. Oliver weiß darauf nur mit der Schulter zu zucken. „Kein Problem“, beruhigt ihn sein älterer Kollege. „Dann schauen wir uns das gemeinsam an. Erzähl einfach, was du siehst.“

 

Hebung aus der S-Zacke

Jetzt versucht’s Oliver mit System: „O.K. Die Herzfrequenz ist mit etwa 80 pro Minute normal, und vor jedem QRS-Komplex steht eine P-Welle. Wir haben also einen regelmäßigen Sinusrhythmus. “
Jonas nickt zustimmend und ergänzt: „Genau. Und wie du siehst, sind auch die QRS-Komplexe normal. Aber das Wichtigste hast du übersehen: die ST-Strecken-Hebungen in V2 bis V6, II, III und aVF!“
Oliver ist baff. „Ist das nicht typisch für einen Infarkt?“, wundert er sich. „Nicht immer!“, korrigiert Jonas. „Manchmal steckt auch eine Perikarditis dahinter!“

Er erklärt ihm, dass die ST-Hebungen beim Herzinfarkt meist deutlicher sind als bei einer Perikarditis und nur in wenigen Ableitungen auftreten. Im Fall von Olivers Patienten ist die Veränderung in vielen Ableitungen sichtbar. Außerdem entspringen manche ST-Hebungen aus den S-Zacken, was ebenfalls typisch für eine Perikarditis ist.

Bei einem Myokardinfarkt geht die Hebung meist direkt aus der R-Zacke ab. Deswegen ist eine akute Perikarditis am wahrscheinlichsten. Zur Therapie verordnet Jonas dem Patienten Bettruhe und Diclofenac. Oliver ist mit Diagnose und Behandlung natürlich vollkommen einverstanden.
Trotzdem lässt ihm eine Frage keine Ruhe. Warum führt die Perikarditis zu einer ST-Hebung?Jetzt holt Jonas ein wenig weiter aus: „Wie du weißt, ist während der ST-Strecke das Myokard fast vollständig depolarisiert. Deswegen bestehen in dieser Phase normalerweise keine Potenzialunterschiede, und dieser Teil der EKG-Kurve ist flach. Die T-Welle steht dagegen für Erregungsrückbildung. In dieser Phase sind die eher zentral liegenden Anteile des Myokards noch depolarisiert und damit negativ geladen und die eher peripher, subepikardial gelegenen Bereichen schon repolarisiert und positiv geladen.

Bei der akuten Perikarditis ist die Erregbarkeit des subepikardialen Myokards gestört, weil es direkt unter dem entzündeten Perikard liegt. Dadurch dauert die Erregung der Herzmuskel-Außenschicht kürzer. Die Repolarisation findet früher statt, und die ST-Strecke hebt sich.“ „Das ist ja eigentlich richtig logisch“, freut sich Oliver. Aber lange kann er sein kleines Erweckungserlebnis nicht genießen. Jonas muss ins Herzlabor und drückt ihm einen Aufnahmebogen in die Hand.

 

Hypertrophie – groß und träge

Im Untersuchungszimmer wartet auf Oliver ein leicht übergewichtiger Mann von etwa 70 Jahren, dessen Haut um den Mund bläulich verfärbt ist. Der Patient erzählt ihm, dass es ihm seit etwa sechs Monaten zunehmend schwer falle, Treppen zu steigen. Früher sei es für ihn nie ein Problem gewesen, dass er im vierten Stock wohne. Jetzt aber bekomme er im Treppenhaus immer Luftnot. Auch das Spazierengehen sei mittlerweile eine Tortur. Bei der Auskultation hört Oliver über den basalen Abschnitten der Lunge ein feinblasiges Rasselgeräusch. Der Blutdruck des Patienten ist mit 180/90 mmHg eindeutig zu hoch. Die Laborwerte sind aber in Ordnung.

Als Oliver die Befunde mit Jonas bespricht, fällt ihm auf, dass die Symptome für eine Linksherzinsuffizienz sprechen. „Das ist ein guter Gedanke!“, lobt ihn Jonas. Er erklärt dem Studenten, dass sich dieser Verdacht am besten mit einem Röntgen-Thorax und einem Herzecho nachprüfen lässt. Am naheliegendsten sei jetzt aber, zunächst im EKG nach weiteren Hinweisen auf die Ursache dieses Krankheitsbildes zu suchen.
Deswegen nimmt sich Oliver das EKG seines Patienten und bestimmt zunächst den Lagetyp:
Die größten positiven R-Zacken sieht er in den nach links gerichteten Ableitungen I und avL. Folglich handelt es sich um einem Linkstyp. Das passt zu einer Linksherzhypertrophie: Bei der Kammererregung überwiegt der Hauptvektor des linken Ventrikels im Vergleich zum rechten Ventrikel noch mehr als sonst. Deswegen zeigen die nach links weisenden Ableitungen (I, aVL, V5 und V6) stark positive R-Zacken und die nach rechts gerichteten Ableitungen (V1–V3, III und aVF) große S-Zacken. Der Sokolow-Index – das EKG-Kriterium für Herzhypertrophie – liegt über dem Grenzwert von 3,5 mV: Das S in V1 und das R in V5 addieren sich zusammen auf 3,9 mV.

Stolz präsentiert Oliver seinem Assistenzarzt die Diagnose. Aber der hat gleich die nächste Frage parat: „Was meinst du denn, woher die ST-Strecken-Senkungenin I, aVL, V5 und V6 kommen?“ Erneut muss Oliver passen. „ST-Senkungen können viele Ursachen haben“, erklärt ihm Jonas. „Dahinter kann sich zum Beispiel ein Schenkelblock oder eine Digitalis-Überdosierung verbergen. Bei unserem Patienten ist die Ursache aber die Linksherzyhypertrophie.

Am besten stellst du dir Folgendes vor: Bei der Erregungsausbreitung in einem linkshypertrophischen Herz überwiegen die Depolarisierungen im linken Ventrikel, was den Linkslagetyp verursacht. Andererseits bildet sich die Erregung im hypertrophierten Gewebe langsamer zurück. Deswegen wird die EKG-Kurve während der T-Welle vor allem durch die Potenzialdifferenzen im rechten Ventrikel bestimmt. In den nach links gerichteten Ableitungen wie I, aVL, V5 und V6 äußert sich das in einer ST-Streckensenkung, die in eine negative T-Welle übergeht.

 

Selbstbewusst instabil

Als Oliver das Zimmer der nächsten Patientin betritt, telefoniert diese gerade mit einem Arbeitskollegen: „Ich bin bald wieder auf den Beinen. Nur keine Sorge! Das Projekt wird laufen!“, sagt sie mit energischer Stimme. Nachdem sie aufgelegt hat, erzählt ihm die 49-jährige, dass sie Managerin bei einer großen Bank sei. Ihr Hausarzt habe sie in die Klinik überwiesen, weil sie seit drei Wochen brennende Schmerzen in der Brust fühle, wenn sie sich belaste. Aber eigentlich habe sie gar keine Zeit zum Kranksein. „Die Schmerzen hatte ich früher nie“, erklärt sie. „Vielleicht sollte ich öfters zum Joggen gehen. Aber ich komme einfach nicht dazu. Dabei wäre das sicher gut. Meine 70 kg bei 1,65 m Körpergröße sind einfach zu viel ...“

Dann erzählt sie Oliver, dass ihr Vater an Diabetes mellitus leidet und vor drei Jahren einen Herzinfarkt hatte. Die Mutter sei an Darmkrebs gestorben. In der Akte findet Oliver Blutdruckwerte von 150/90 mmHg im Durchschnitt, erhöhtes Gesamt-Cholesterin von 274 mg/dl, einen erhöhten LDL-Wert von 164 mg/dl und erniedrigtes HDL von 35 mg/dl. Der Nüchtern-Glukose-Wert liegt bei 110 mg/dl. Dann studiert Oliver das EKG der Patientin.

Wieder reißt ihn Jonas aus seinen Gedanken. Auf seine Frage nach einer Verdachtsdiagnose zählt Oliver auf, was er herausgefunden hat: Die Patientin weist eine ganze Reihe von Risikofaktoren für eine koronare Herzerkrankung auf. Die Familienanamnese ist positiv, und sie leidet an einer Hyperlipidämie. Außerdem ist sie mit einem BMI von 25,7 zu dick und führt das durch Stress und Überarbeitung gekennzeichnete Leben einer „Typ-A-Persönlichkeit“.
Als Diagnose schlägt Oliver eine Angina pectoris vor, die man als instabil ansehen müsse, da die Beschwerden zum ersten Mal aufgetreten sind. Jonas nickt anerkennend. Aber als Oliver behauptet, dass das EKG unauffällig sei, schüttelt er den Kopf. „Na klar ist das Ruhe-EKG unauffällig. In Ruhe hat sie ja auch keine Probleme. Aber hast du dir auch das Belastungs-EKG angeschaut?“

 

Das Phänomen der letzten Wiese

Sofort erkennt Oliver die deutlichen ST-Strecken-Senkungen in den linkspräkordialen Ableitungen. Jonas erklärt ihm, dass dieses EKG-Bild typisch für eine belastungsabhängige Innenschichtischämie bei einer Angina pectoris ist. Wenn der Sauerstoffbedarf des Herzmuskels steigt, reicht die Blutversorgung in diesem Myokardareal nicht mehr aus – das Phänomen der so genannten „letzten Wiese“.

Folge ist, dass die Erregungsausbreitung in der Innenschicht des Myokards verkürzt abläuft und auch die Erregungsrückbildung früher einsetzt. Deswegen zeigt während der Phase, die sich im EKG als ST-Strecke abbildet, ein Potenzialdifferenz-Vektor von der normal depolarisierten Außenwand zu den sich pathologisch verfrüht repolarisierenden Innenschichten. Dadurch wird die ST-Strecke abgesenkt.

Dann erklärt Jonas, wie es mit der Patientin weiter geht:
„Als Nächstes werden wir eine Koronarangiographie durchführen. Die Verengung liegt wahrscheinlich in der linken Koronararterie oder einem ihrer Äste. Wir müssen versuchen, die Stenose zu finden und sie zu beseitigen. Dazu kann man die Engstelle dilatieren, man kann auch einen Stent einlegen und die beiden Verfahren kombinieren. Wichtig ist aber auch, dass die Patientin ihren Lebensstil ändert. Sonst ist eine erneute Stenose vorprogrammiert.“

 

STEMI: transmural und gefährlich

Ein paar Tage später geht Olivers Praktikum in der Kardiologie zu Ende. Jetzt ist das Block-Praktikum Notfallmedizin an der Reihe. Oliver ist deswegen zunächst sehr traurig. Gerne hätte er noch mehr darüber erfahren, wie man EKGs richtig interpretiert.

Aber schon der erste Einsatz, zu dem ihn sein Notarzt mitnimmt, zeigt ihm, dass EKGs natürlich auch in der Notfallmedizin eine wichtige Rolle spielen. Dieser Einsatz geht zu einem Patienten, bei dem der Hausarzt ein „akutes Koronarsyndrom“ festgestellt hat. Das Notarzt-Team findet den Patienten – einen 58-jährigen Winzer – unruhig im Bett liegend. Sein Gesicht ist schweißnass. Sprechen und Atmen fallen ihm sehr schwer. Er gibt einen „einschnürenden“ Schmerz in der Brustgegend und dem Oberbauch an. Seine Frau berichtet, dass er beim Abendessen einen starken Schmerz in der Brust verspürt habe und von einer Sekunde auf die andere blass geworden sei. Daraufhin habe er sich sofort hingelegt und seither kaum mehr bewegt.

Über die Schultern des Rettungsassistenten, der das EKG ableitet, kann Oliver das EKG lesen: Es zeigt deutliche ST-Strecken-Hebungen in den Ableitungen V2 bis V5 und I. Zusammen mit den Beschwerden des Patienten scheint das Oliver recht typisch für einen Infarkt zu sein. Die Leute vom Einsatzteam nehmen diese Diagnose aber nicht in den Mund, sondern reden untereinander nur von „STEMI“. Während der Rettungsassistent einen Venenzugang legt, verabreicht der Rettungssanitäter Sauerstoff über eine Nasensonde.
Gleich danach spritzt der Notarzt dem Patienten intravenös ASS, einen beta-Blocker und Diazepam zur Sedierung. Ein Nitroglyzerin-Spray wird sublingual verabreicht. Dann transportiert das Einsatz-Team den Mann in die kardiologische Notaufnahme. Dabei misst der Rettungssanitäter alle fünf Minuten den Blutdruck und den Puls des Patienten.

Während der Patient in den Angiographie-Raum gefahren wird, trifft Oliver auf Jonas. Sofort beginnt er seinen alten Kollegen mit Fragen zu löchern. Vor allem interessiert ihn, was „STEMI“ bedeutet. „Das ist ein spezieller Typ von Myokardinfarkt“, erklärt ihm Jonas geduldig. „Das Kürzel steht für ,ST-Elevations-Myokardinfarkt‘. Dafür sind diese ‚katzenbuckelförmigen‘ ST-Strecken-Hebungen aus der R-Zacke typisch, wie man sie auch in den Brustwand-Ableitungen von diesem Patienten sehen kann. Sie machen eine akute transmurale Läsion im Myokard sehr wahrscheinlich, und zusammen mit den Symptomen sind sie Indikation für eine sofortige Koronarangiographie mit Intervention. Wir suchen jetzt die Engstelle und dehnen sie mit dem Ballonkatheter auf. Der Begriff ,STEMI‘ ist also aussagekräftiger als nur ,Infarkt‘, da er Schweregrad, Prognose und weiteres therapeutisches Vorgehen genauer beschreibt.“

Jetzt schielt Jonas ungeduldig in den Angiographie-Raum, wo Dr. Horner den Patient auf den Eingriff vorbereitet. Aber eine Sache möchte Oliver noch wissen: „Bei einem solchen Infarkt ist doch die Herzwand transmural betroffen. Wie kommen da diese Potenzialunterschiede zustande, die dazu führen, dass sich die ST-Strecke hebt?“ Jonas guckt nervös über die Schulter.
„Also gut: Dort, wo das Myokard geschädigt ist, kann sich das Gewebe nicht normal depolarisieren. Das bedeutet, dass wir Potenzialdifferenzen zwischen dem gesunden, negativ geladenen Myokard und dem kranken Myokard haben. Aus diesen Differenzen errechnet sich ein Summen-Vektor, der in Richtung Läsion zeigt. Deswegen zeigen die Ableitungen im EKG, in denen die ,Katzenbuckel‘ am höchsten sind, wo das Zentrum des Infarktes liegt. Zufrieden?“

Oliver nickt dankbar. Natürlich weiß er, dass er noch lange kein EKG-Spezialist ist. Aber dank Jonas‘ Erklärungen hat er den Eindruck, dass er endlich gründlich verstanden hat, wie die Wellen und Zacken im EKG zustande kommen. Und er weiß, dass er damit den wichtigsten Schritt geschafft hat, um ein Arzt zu werden, der EKGs verlässlich befunden kann.

 

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