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  • 13.09.2018

Runderneuerung für Herzzellen

Mediziner in Boston transplantieren bei Neugeborenen mit schwachen Herzen Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen. Die Methode weist auf ganz neue Möglichkeiten, wie man kranke Zellen gesund machen könnte.

Kate Bowen mit ihrer Tochter Georgia, deren Herz mit Mitochondrien behandelt wurde –
leider erfolglos. Nun steht sie auf der Liste für ein Spenderherz. Foto: Katherine Taylor/NYT/ Redux/ Laif

 

Das winzige Herz schlägt viel zu schwach. Sitaram Emani setzt eine Spritze mit rehbrauner, trüber Flüssigkeit an. Unter dem Mikroskop sähe man darin lauter kleine Tic Tacs schwimmen: Mitochondrien. Noch vor 30 Minuten waren sie in den Bauchmuskelzellen des neugeborenen Mädchens. Nun sollen sie sein Herz zu neuem Leben erwecken.

Es ist eine Weltpremiere. Was die Kinderherzchirurgen am Boston Children’s Hospital hier zum ersten Mal versuchen, ist eine Organtransplantation im Kleinen. Mitochondrien sind „Organellen“, also Organe einer Zelle – hochspezialisierte, membranumschlossene Untereinheiten, die Zellen mit Energie versorgen. Beim Baby in Boston aber hatten sie nach einem Herzinfarkt ihre Dienste versagt. Die Herzmuskelzellen waren zu schwach, um sich zusammenzuziehen. Das Kind war nur noch am Leben, weil ein Membranoxygenator außerhalb seines Körpers die Arbeit übernahm. Nachdem die Chirurgen die Mitochondrien in den geschädigten Herzmuskel gespritzt hatten, ging es den Zellen nach acht Stunden messbar besser. Nach zwei Tagen arbeiteten sie normal – und ließen das Herz wieder kräftig schlagen.

So jedenfalls schreibt es Emanis Kollege James McCully, ebenfalls Professor für Chirurgie, in der aktuellen Veröffentlichung der beiden. Seit 2009 macht McCully solche Transplantationsexperimente mit Zellkulturen und einzelnen Herzen. Jetzt sind die Menschen an der Reihe. Die Bostoner Chirurgen hatten bis Redaktionsschluss elf Kinder auf diese Weise behandelt. Anschließend er holten sich bei zehn Babys
die Herzen so weit, dass die Ärzte die Pumpe abnehmen konnten. Drei Kinder starben trotzdem einige Zeit später, drei weitere brauchten trotz der Transplantation ein Spenderherz. „Weil die Behandlung zu spät kam“, glaubt Emani.

Normalerweise stellt sich die Herzfunktion, einmal verloren, nicht wieder von allein her. Und von allen Neu geborenen, die nach der Geburt an einen Membranoxygenator angeschlossen werden müssen, brauchen normalerweise doppelt so viele auf lange Sicht eine Herztransplantation.

Am Mitochondrienaustausch arbeiten Forscher schon seit den 1990ern, weil Mitochondrien auch bei einigen Erbkrankheiten die Schwachstellen sind. „Wir wissen zum Beispiel, dass bestimmte Stammzellen andere Zellen mit frischen Mitochondrien versorgen, wenn diese Energieprobleme haben“, sagt Andreas Reichert, Direktor des Instituts für Biochemie I am Uniklinikum Düsseldorf. „Sie legen sich an kranke Zellen und bilden Tunnel zwischen den beiden Zellmembranen. Dass das womöglich auch mit frei um die Zellen schwimmenden Mitochondrien gehen könnte, war nicht bekannt.“

Die Herzmuskelzellen sollen laut McCully die Mitochondrien gezielt aus dem Blut gefischt und verschluckt haben. Zellen machen dies zum Beispiel mit bestimmten Bakterien, indem sie einen Bereich ihrer Membran einstülpen und dann nach innen abtrennen. Die Mitochondrien wären also noch
einmal extra eingepackt und müssten dadurch eigentlich von wichtigen Nährstoffen abgeschnitten sein.

Einige Forscher bezweifeln daher, dass der Weg der Bostoner Chirurgen tatsächlich funktioniert hat. Die sechs behandelten Kinder, die starben oder sich nur kurz erholten, wären demnach die Regel und nicht die Ausnahme. Skeptisch macht auch die vergleichsweise grobe Handhabung. Um die Mitochondrien für die Transplantation zu gewinnen, werden die Muskelzellen mit einem Enzym versetzt, das Proteine verdaut.
Davon müssten eigentlich auch wichtige Proteine beeinträchtigt werden, die in der äußeren Membran der
Mitochondrien sitzen.

„Wie das trotzdem funktionieren kann, ist mir unklar“, sagt Peter Seibel, Professor für Molekulare Zelltherapie an der Uni Leipzig, der selbst oft die kleinen Organellen isoliert. Sobald er die Mitochondrien aus den lebenden Zellen herausholt, hat er keine vitalen Energiemacher mehr vor sich. Genau wie die
Bostoner Arbeitsgruppe benutzt er für diesen Prozess unter anderem Enzyme, die Proteine abbauen. Und sie greifen auch die für die Energieproduktion so wichtigen Membranporen an. „Außerdem beginnen die Mitochondrien außerhalb der Zellen nach wenigen Stunden, ihre eigene Membran zu verdauen“, so Seibel. Wenn die aber löchrig wird, bricht die Energiegewinnung zusammen.

Als gänzlich unmöglich will er die Transplantationsidee dennoch nicht abtun. Er kennt die beiden Chirurgen, weil er ihnen Zellen mit defekten Mitochondrien geliefert hatte. Die Versuche damit waren beeindruckend: Im Bostoner Labor fütterte McCully die Zellen mit frischen Mitochondrien.
Und obwohl nur etwa 25 funktionierende Mitochondrien pro Zelle aufgenommen wurden – unter mehreren Tausend defekten –, erholte sich die ganze Zelle innerhalb weniger Stunden. „Viel leicht, weil sich die fitten Mitochondrien schnell vermehrten und die defekten ausgemustert wurden“, sagt Seibel.

McCully selbst antwortet nicht auf Fragen rund um den Stoffwechsel seiner Mitochondrien. Vielleicht hat er zu viel zu tun. Gerade arbeitet er mit Emani daran zu zeigen, dass die Mitochondrien ihren Weg ganz allein zu den schwachen Zellen finden, wenn man sie in ein großes Blutgefäß spritzt – nicht bei Kindern, sondern bei Erwachsenen, die gerade ums Überleben kämpfen.

 


Dies ist ein Artikel aus der Technology Review 9/2018

 

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