Blickdiagnostik: Hautzeichen innerer Krankheiten
Die klinische Untersuchung gilt vielen Ärzten als Auslaufmodell: Das ganze Palpieren, Auskultieren und Inspizieren koste nur Zeit – und zudem gebe es ja die apparative Diagnostik, die ohnehin zuverlässiger sei. Dabei kann gerade die Inspektion Befunde liefern, die für das weitere Prozedere wegweisend sein können. Der erfahrene Diagnostiker Prof. Dr. med. Hermann Füeßl erklärt dir die wichtigsten dermalen Zeichen innerer Leiden.
Es war einmal, vor vielen Jahren, da war die klinische Untersuchung noch das wichtigste Mittel der ärztlichen Diagnostik. Heute benutzt der Arzt Augen und Hände vorwiegend zur Bedienung des PCs, und das Stethoskop dient vielen nur noch als Statussymbol. Das geht so weit, dass manche Kollegen fast völlig auf die Befunde der körperlichen Untersuchung verzichten. Dabei öffnet sich für den Kenner ein wahres diagnostisches Panoptikum, wenn er diese Zeichen richtig zu deuten weiß. Vor allem die Haut bietet eine Vielzahl von Befunden, die manchmal nahezu pathognomonisch – in vielen Fällen aber zumindest wegweisend – für innere Erkrankungen sind. Viele klinische Untersuchungsmethoden sind apparativen Diagnostikverfahren in Sensitivität und Spezifität zwar unterlegen. Sie haben aber unschätzbare Vorteile, die weit über den unmittelbaren Wert als Diagnostikum hinausgehen. Unter anderem ist die körperliche Untersuchung des Patienten so gut wie nebenwirkungsfrei, billig und beliebig oft wiederholbar. Vor allem aber empfinden die meisten Patienten sie als Zeichen einer engagierten Zuwendung des Arztes, wie man sie mit einem Apparat kaum vermitteln kann. Manchmal sind die Patienten geradezu verblüfft, welche diagnostischen Schlüsse allein durch die sorgfältige Inspektion der Haut gezogen werden können. Diese Reaktion erleichtert die weitere Therapie und dient – nicht zuletzt – deinem Ansehen als Arzt.
Blickdiagnostische „Farbenlehre“
Wenn du einen Patienten untersuchst, ist eines der offensichtlichsten Merkmale, auf das du achten kannst, die Farbe der Haut. Diese kann extrem variieren, abhängig von vielen individuellen, äußeren und vegetativen Faktoren. Dennoch gibt es einige Veränderungen der Hautfarbe, die diagnostische Rückschlüsse erlauben. Bei einer ausgeprägten Anämie (Hb 7–8 g/dl) kommt es z. B. zu einer wächsernen Blässe der Haut. Einen von Hautpigmenten unverfälschten Eindruck bekommst du, wenn du die Unterlider etwas herunterziehst und die Konjunktiven anschaust. Achte außerdem auf die Farbe des Nagelbettes (s. Abb) und der Handflächen. Im Zweifelsfall nimmst du deine eigene Hand zum Vergleich. Wenn du parallel zur Blässe Petechien oder ungewöhnlich viele Hämatome erkennst, könnte das für eine hämorrhagische Diathese sprechen und auf eine Thrombozytopenie oder Leukämie hindeuten.
Verfärbt sich die Haut blau, stecken häufig harmlose neurovegetative Mechanismen dahinter – meist ausgelöst durch kalte Luft. Erwärmt sich die Haut wieder, geht diese Verfärbung weitgehend zurück. Besteht die Blauverfärbung fort, kann das aber auch auf eine gravierende Störung der Sauerstoffversorgung des Blutes im Sinne einer Zyanose hinweisen (s. Abb.). Ab einem Gehalt von 5 g/dl desoxygeniertem Hämoglobin kann der trainierte Diagnostiker die Zyanose klinisch erkennen. Man unterscheidet zwischen einer peripheren und einer zentralen Zyanose, die auch gleichzeitig vorliegen können. Im ersten Fall ist der Blutfluss in der Körperperipherie so verlangsamt, dass ein Missverhältnis zwischen oxygeniertem und desoxygeniertem Hämoglobin vorliegt (Ausschöpfungszyanose). Im zweiten Fall besteht eine unphysiologische Mischung zwischen sauerstoffreichem und sauerstoffarmem Blut aufgrund eines Shuntvitiums im Herzen oder einer ungenügenden Oxygenierung des Blutes in der Lunge (Mischungszyanose). Klinisch kannst du die periphere von der zentralen Zyanose unterscheiden, indem du die Zunge inspizierst. Bei peripherer Zyanose bleibt die Zungenfarbe in der Regel normal, bei zentraler Zyanose ist auch die Zunge bläulich verfärbt.
Ist die gesamte Haut durch erhöhtes Bilirubin gelb verfärbt, spricht man vom Ikterus. Das Phänomen ist in der Regel ab einem Bilirubingehalt des Serums von 2–2,5 mg/dl zu beobachten. Die Gelbverfärbung fällt zuerst an der Konjunktiva auf. Dieses Häutchen ist transparent und liegt vor der weißen Sklera (s. Abb.). Deshalb ist fälschlicherweise häufig von einem Sklerenikterus die Rede. Doch nicht die Lederhaut selbst, sondern die Bindehaut färbt sich bei einem Ikterus zuerst gelb. Wenn du einen Ikterus beurteilen willst, ist es wichtig, dass du den Patienten möglichst bei Tageslicht inspizierst, da du bei künstlichem Licht, besonders bei Neonlicht, die Gelbfärbung deutlich schlechter erkennen kannst. Das ist auch der Grund, warum Patienten den Ikterus trotz des täglichen Blicks in den Spiegel oft erst bemerken, nachdem andere Personen sie darauf aufmerksam gemacht haben. Ein Ikterus ist immer ein beunruhigendes Symptom. Er kann prähepatisch (z. B. durch Hämolyse), intrahepatisch (z. B. bei Hepatitis oder Leberzirrhose) oder posthepatisch (z. B. durch Obstruktion des Ductus hepatocholedochus) bedingt sein.
Dieser junge Patient mit akuter Hepatitis B bei Drogenmissbrauch zeigt einen deutlichen Ikterus der Konjunktiven (Bilirubin 5,3 mg/dl).
Die untere Hand gehört einem 56-Jährigen mit schwerer chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD), die obere einer gesunden Person. Im Vergleich erkennt man die zyanotische Blaufärbung des lungenkranken Patienten.
Dieser 73-jährige Patient mit Herzinsuffizienz zeigt eine Zyanose der Akren (Kinn, Nase, Wangen). Dort wirken sich die vermehrte Ausschöpfung und die ungenügende Oxygenierung des Blutes besonders deutlich aus.
Fingerspitzen eines Patienten mit Tumoranämie (Hb 7,3 g/dl). Die Blutarmut ist an den blassen Nagelbetten zu erkennen.
Stoffwechsel fürs Auge
Weitere Krankheitsbilder, die sich zum Teil pathognomonisch auf der Haut manifestieren, sind Stoffwechselstörungen. Vor allem Veränderungen des Lipid-, des Glukose-, des Harnsäureund des Pophyrinstoffwechsels bilden Hautzeichen aus. Bei Fettstoffwechselstörungen kann man anhand des Verteilungsmusters und der Art der Ablagerungen Rückschlüsse auf deren Ursache ziehen. So finden sich bei der familiären Hypercholesterinämie vorwiegend tuberöse Xanthome (s. Abb), die vor allem über kräftigen Sehnen liegen, sowie Xanthelasmen im Bereich der Augenlider (s. Abb). Um die Sehnenxanthome nicht zu übersehen, solltest du die Achillessehne, die Patellarsehne und die Trizepssehne sehr genau untersuchen. Eruptive Xanthome (s. Abb.) sind typisch für die Hyperlipoproteinämie Typ III, Handlinienxanthome für den Typ IV.
Auch der Diabetes mellitus begünstigt eine ganze Reihe von Hauterscheinungen. Hierzu zählen z. B. intertriginöse Mykosen und andere Infektionen. Diese sind jedoch nicht spezifisch und deswegen auch diagnostisch wenig hilfreich. Eine Ausnahme ist die Necrobiosis lipoidica, eine seltene, bei etwa 0,3% aller Diabetiker auftretende granulomatöse Entzündung, bei der sich in der mittleren Dermis Lipide anreichern (s. Abb). Frauen sind hiervon häufiger betroffen als Männer. Die Entzündungsherde können handtellergroß werden. In etwa einem Drittel der Fälle entwickeln sich schlecht heilende Ulzerationen.
Auch eine jahrelang bestehende Hyperurikämie kann sich zunächst an der Haut zu erkennen geben. Bei dieser Erkrankung kann es zu weißlichen Harnsäureablagerungen in bradytrophen Geweben wie Sehnen, Knorpel und Knochen kommen. Typischerweise sind diese sogenannten Tophi im Bereich des Ohrmuschelknorpels zu finden (s. Abb.). Auch an den Gelenkkapseln der Fingergelenke, an Beuge- und Strecksehnen, am Nasenknorpel und in der Haut können sich „Gichtperlen“ bilden. Diese können zu Deformierungen der Finger führen. Eröffnet man eine dieser „Perlen“ mit einem Skalpell, entleert sich weißlich-bröckliges Material: reines Urat.
Die häufigste Störung des Porphyrinstoffwechsels in unseren Breiten ist die Porphyria cutanea tarda. Sie tritt bei immerhin 1% der Bevölkerung zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr auf. Es besteht eine Assoziation zu meist alkoholtoxisch bedingten Leberschäden. An den chronisch lichtexponierten Hautarealen, vor allem am Handrücken, befinden sich nebeneinander frische Erosionen, Blasen, hämorrhagisch-krustige Läsionen und hyperpigmentierte Narben (s. Abb.). Es handelt sich um eine Blickdiagnose, die durch den Nachweis einer erhöhten Porphyrinkonzentration im Urin bestätigt wird. Dieser erscheint bierbraun, fluoresziert jedoch im Wood-Licht (UV-Licht) rötlich. Die verschiedenen Porphyrine lassen sich quantitativ im 24-h-Urin bestimmen.
An den Ellenbogen der 57-jährigen Patientin fallen tuberöse Xanthome auf. Diese sprechen für eine Hypercholesterinämie Typ IIb nach Fredrickson. Die Patientin klagte über Durstgefühl und hatte in vier Wochen 5 kg abgenommen. Im Labor waren Blutzucker, HbA1c,
Serum-Cholesterin und Triglyceride deutlich erhöht.
Bei dieser Patientin mit familiärer Hypercholesterinämie zeigen sich Xanthelasmen an beiden Augenlidern ...
Am Ohr dieses Patienten ist eine „Gichtperle“ gut zu erkennen. Der 62-Jährige litt seit Jahren an einer unbehandelten Hyperurikämie.
Die Knötchen am Gesäß dieses 45-Jährigen sind eruptive Xanthome bei sekundärer Hyper-triglyceridämie und Diabetes. Das Serum des Patienten sah aus wie Milch, sein Triglyceridwert lag bei 1.300 mg/dl, der Blutzucker bei 380 mg/dl. Die Xanthome bestehen aus kutanen Ablagerungen von Makrophagen, die Chylomikronen phagozytiert haben.
Am Unterschenkel dieser 54-Jährigen mit Typ-2-Diabetes sieht man das typische Bild einer Necrobiosis lipoidica. Zunächst bilden sich rote, linsengroße Papeln, die im weiteren Verlauf unter das Hautniveau einsinken. Später verfärben sie sich gelblich und werden von Teleangiektasien durchzogen.
Die typischen Veränderungen bei einer Pophyria cutanea tarda: Charakteristisch ist das bunte Bild von nebeneinander bestehenden verschiedenen Effloreszenzen.
Organe im „dermalen Spiegel“
Wer genau hinschaut, kann auch bei Patienten mit Organschäden zum Teil sehr charakteristische Veränderungen beobachten. Paradebeispiel ist die Leberzirrhose. Typisch hierfür sind z. B. das Palmarerythem und die „Bauchglatze“ bei Männern, bei der sich ein weiblicher Schambehaarungstyp ausbildet. Zudem manifestiert sich eine Zirrhose häufig in Form einer Gynäkomastie, eines Caput medusae als Hinweis auf einen Umgehungskreislauf des Portalsystems und der typischen Spider-Naevi (Naevus araneus, s.Abb). Hierbei handelt es sich um arteriell-kapillare Gefäßneubildungen, die vor allem im Bereich des vorderen Thorax, der Schultern und des Gesichts auftreten können. Im Gegensatz zu Erythemen füllen sie sich nach dem Ausdrücken mit dem Finger von zentral nach peripher, da sie von einem zentralen arteriell-kapillaren Gefäß gespeist werden. Die Ursache für die Entstehung des „Spinnen-Nävus“ ist unklar.
Ein weiteres Leiden, bei dem ein Blick auf die Haut hilfreich sein kann, ist die Endokarditis. Diese Diagnose lässt sich häufig nur schwierig stellen. Selbst das vermeintlich obligate Symptom Fieber kann gelegentlich fehlen, auch Blutkulturen sind nicht zuverlässig, und die echokardiografische Beurteilung der Herzklappen ist oft diffizil. Bei bakteriellen Endokarditiden können sich allerdings subunguale Splitterblutungen und Osler-Knötchen ausbilden (s. Abb.). Wahrscheinlich werden diese durch Mikroembolien von Klappenauflagerungen in akralen Gefäßen oder eine Immunkomplexvaskulitis verursacht. Osler-Knötchen treten als kleine, rötliche Papeln an den Finger- und Zehenkuppen auf. Splitterblutungen finden sich typischerweise unter den Fingernägeln.
Schmetterling und Kolibris
Besonders wichtig ist der diagnostische Blick auf die Haut bei seltenen Erkrankungen. Diese werden häufig erst spät erkannt, obwohl gerade sie sich oft mit pathognomonischen Zeichen auf der Haut manifestieren. Ein Beispiel sind Kollagenosen. Zwar stellt der Rheumatologe die endgültige Diagnose dieser Erkrankungen selten nur durch den Hautbefund. Er kann aber helfen, die wegweisenden laborchemischen und apparativen Untersuchungen anzuordnen. So sollte bei einem Patienten mit Schmetterlingserythem dringend abgeklärt werden, ob er an einem Lupus erythematodes leidet (s. Abb). Weniger geläufig und bei flüchtigem Blick durchaus zu übersehen sind das periorbitale heliotrope Erythem bei der Dermatomyositis (s. Abb.) oder die Nagelfalzhyperkeratose bei der progressiven systemischen Sklerodermie (s Abb.).
Auch die Neurofibromatose Typ 1 (Morbus Recklinghausen) ist eine sehr seltene Erkrankung. Sie wird autosomal dominant vererbt und manifestiert sich an der Haut mit einer typischen Kombination von Effloreszenzen. Findet man mehrere derbe, nicht druckdolente Hauttumoren (Neurofibrome) und mehrere milchkaffeefarbene Hyperpigmentierungen (Café-au-lait-Flecken), darf man diese Erkrankung vermuten (s. Abb). Die Patienten können minder begabt sein oder unter einer Epilepsie leiden. Wichtig ist, dass die Kombination aus beiden Befunden vorliegt: Café-au-lait-Flecken können bei allen Menschen auftreten und sind ein völlig harmloser Befund.
Zum Schluss noch ein „Kolibri“: Gelegentlich findet man bei älteren Männern im Bereich der unteren Thoraxapertur eine eigenartige, geschlängelte Venenzeichnung (s. Abb.). Dieses Phänomen wurde 1913 von dem Internisten Hermann Sahli erstmals beschrieben. Er postulierte, dass alle Männer mit der nach ihm benannten Venengirlande ein Lungenemphysem hätten. Über die Pathogenese dieses Befundes diskutierten Sahli und seine Kollegen damals sehr lebhaft. Der Umkehrschluss gilt jedoch nicht. Nur ein Bruchteil der Männer mit Lungenemphysem entwickelt dieses klinische Zeichen.
Ist es dann überhaupt notwendig, das Sahli-Zeichen zu kennen? Sicher kann man ein Lungenemphysem auch hervorragend diagnostizieren und behandeln, wenn einem der von Hermann Sahli beschriebene Venenkranz kein Begriff ist. Aber auch für das Sahli-Zeichen gilt, was auf viele Hautzeichen internistischer Erkrankungen zutrifft: Es verleiht nicht nur zusätzliche Sicherheit, es verschafft einem auch ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit, Krankheiten nicht nur mit Laborwerten, Röntgenbildern & Co. identifizieren zu können, sondern mit dem naheliegendsten diagnostischen Gerät, das wir zur Verfügung haben: unseren Augen.
Am Thorax dieses 74-jährigen Mannes mit Lungenemphysem erkennt man die nach dem Internisten Hermann Sahli benannte „Venengirlande“.
Eine Leberzirrhose zeigt sich häufig durch arteriell-kapillare Gefäßneubildungen, sogenannten Spinnen-Nävi.
Die Nagelfalzhyperkeratose und die Sklerodaktylie weisen bei dieser Patientin auf eine progressive systemische Sklerodermie hin.
Typisches Bild des Morbus Recklinghausen: Neurofibrome und Café-au-lait-Flecken.
Dieses fliederfarbene, periorbitale, heliotrope Erythem ist typisch für eine Dermatomyositis.
52-jährige Patientin mit systemischem Lupus erythematodes und Schmetterlingserythem.
An den Fingern dieses 45-jährigen Patienten mit Alkoholabusus manifestierte sich eine bakterielle Endokarditis der Mitralklappe durch Osler-Knötchen.