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  • Maren Hönig
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  • 30.05.2022

Wie das Leben mit Kontrasten spielt

Maren lernt während ihrer Zeit in der Neurologie und Geriatrie eine Patientin und einen Patienten kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die eine jung und schwerkrank, der andere alt und auf dem Weg der Besserung. Die Geschichten beider stimmen Maren nachdenklich.

 

 

„Die Histologie ist noch nicht fertig, aber wir können morgen nochmal schauen. Das letzte Wort hat immer der Pathologe.“
Gedanklich schicke ich ein Stoßgebet gen Himmel, dass die stereotaktische Biopsie, die gestern bei meiner Patientin entnommen wurde, die erhoffte Erleichterung bringt und es sich bei der Läsion im inferioren Temporallappen rechts nur um ein Ödem und nicht um ein Rezidiv handelt. Die Oberärztin, die den Neurochirurgie-Kurs leitet, erzählt uns noch einige Dinge über Glioblastome und innovative Heilungsversuche, doch meine Gedanken schweifen ab zu der vergangenen dreiviertel Stunde, die ich alleine mit der Patientin hatte.

Ahnungslos trete ich ins Zimmer und muss mir angesichts der Patientin ein „Hey, ich bin Maren“, verkneifen. Stattdessen sage ich „Guten Tag, Frau Hönig mein Name“. Ohne ihr Geburtsdatum zu wissen und trotz FFP2 Maske erkenne ich, dass die Patientin sehr jung ist. Gerade einmal ein Jahr älter als ich, wie ich kurz darauf durch einen Blick auf ihr Patientenarmband erkennen kann. Hätte ich sie nicht im Krankenhaus-Kontext getroffen, ich hätte nicht auch nur annähernd vermutet, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Im Schneidersitz auf dem Bett hockend fallen ihr die langen braunen Haare über den Rücken, über der Maske lächeln mich freundlich zwei geschminkte braune Augen an.

„So Frau D., wir haben jetzt ein wenig Zeit zusammen, ich werde Sie ein bisschen befragen und untersuchen, soweit es für Sie in Ordnung ist. Außer ihrem Namen weiß ich momentan noch gar nichts, also können Sie bitte einfach einmal erzählen, wieso Sie hier sind und seit wann?“, leite ich das Gespräch ein. „Ja, klar. Das habe ich ja jetzt schon so oft erzählt“, sagt sie lachend. So erzählt sie, wie im November 2020 alles begann. Von heftigem Erbrechen, Doppelbildern, Kopfschmerzen, Sensibilitätsstörungen kommt sie auf eine OP, nachfolgende Chemotherapie und Bestrahlung. Die Differenzialdiagnosen schwirren mir durch den Kopf, während sie ihre Geschichte erzählt und der Kreis wird immer kleiner …
„Ja, ich hatte ein Glioblastom WHO Grad 4“, sagt die gelernte Krankenschwester. „Aber jetzt gerade bin ich eigentlich nur wegen der Biopsie hier und darf hoffentlich morgen nach Hause. Ich bin einfach optimistisch. Es hilft ja auch nicht, sich lauter schreckliche Dinge auszumalen. Es kommt, wie es kommt.“

Wir führen das Gespräch und ich die Untersuchungen fort, ich habe das Gefühl wir sind auf einer Wellenlänge. Gemeinsam lachen wir bei den neurologisch-motorischen Testungen, die für einen jungen „gesunden“ Menschen eher wie Kinderturnen als eine ärztliche Untersuchung anmuten. Vielleicht ist das Lachen auch ein kläglicher Versuch die Situation weniger absurd wirken zu lassen, da auch Frau D. kaum entgehen kann, dass wir nahezu gleich alt sind und unsere jeweilige Zukunft doch so diametral gegensätzlich verlaufen wird. Dennoch bemühe ich mich eine professionelle Distanz zu wahren und bin froh über meinen weißen Kittel, der mich in dieser Situation abgrenzt.

Als die Zeit fortgeschritten ist, bedanke ich mich für ihre Offenheit, spreche ihr meine große Bewunderung dafür aus, wie sie mit all dem umgeht und wie optimistisch sie auf mich wirkt. Diese Aussage kommt in einem Tonfall über meine Lippen, die nichts mehr mit Arzt und Patient zu tun hat. Viel eher fühle ich mich wie in einem Gespräch mit einer guten Freundin. Allerdings kann ich nicht anders. Ich wünsche ihr alles Gute und dass ich sehr für sie hoffe, dass die Biopsie das „richtige“ Ergebnis liefert, worüber sie dankbar lächelt.

Auf dem Weg über den Stationsflur zurück zum Konferenzraum, in dem meine Kommilitoninnen und ich nach unseren Patientengesprächen wieder mit der Oberärztin zusammenkommen, reflektiere ich das Erlebte. Die Geschichte der Patientin und ihr Schicksal treffen mich tief und unweigerlich fällt mir ein, was drei Wochen zuvor ein 95-jähriger Patient zu mir gesagt hat. „Gesundheit ist einfach das Wichtigste, aber man weiß es immer erst zu schätzen, wenn so etwas passiert.“ Mit „so etwas“ meinte der damalige Patient Herr E. allerdings seine Hüftkopf-Fraktur, die ihm durch ein Umfallen beim Anziehen der Hose passierte. Auch dieser Patient hat mich nachhaltig beeindruckt und stellt den Kontrast zu Frau D. dar. Er war für einen 95-Jährigen kerngesund, erzählte von seinen wöchentlichen Wanderungen auf den Schlossberg in Freiburg, seinen Café-Treff-Kumpels und Zugfahrten nach Hamburg zu seiner Nichte. „Wissen sie, ich will ja nicht prahlen, aber ich glaube für 95 bin ich doch noch ganz fit. Aber das ist ja das Schlimme, denn ich habe ja kaum noch Ansprechpartner! Die im Altenheim haben doch alle was an der Birne. Das ist vielleicht schön, jetzt einmal mit Ihnen zu sprechen!“
Er erzählte vom Krieg und den Schützengräben, die er durchschritten hat, von seinem zweijährigen Aufenthalt im Arbeitslager danach und dass es im Leben so viel Schlimmes gibt als einen Rollator. Dennoch bedauerte er es sehr, dass er durch die Hüft-TEP-OP vor zwei Tagen nicht so mobil ist wie gewohnt. Große Pläne für die Reha schmiedete er bereits. „Ich übe direkt ganz viel am Stock zu gehen! So ein Rollator ist ja nur was für alte Leute!“, außerdem können er damit nur schwerlich mit seinem Bekannten einen Ausflug in den Kaiserstuhl machen… „Ja, wenn ich wieder so hergestellt bin wie vor diesem blöden Sturz, dann bin ich zufrieden. Nichtsdestotrotz wäre ich langsam auch mal gerne an der Reihe. Seit ich meine Frau vor zwei Jahren verloren habe, macht das Leben doch sehr viel weniger Spaß. Aber solange ich noch so viel unternehmen kann, möchte ich mich nicht beklagen. Es gibt ja so viele denen es schlechter geht!“
Auch Herrn E. sprach ich meine Bewunderung aus, dass er so fit, vital und optimistisch wirke, wie andere ist mit 65 nicht seien.

Ich staune über die Parallelen, die beide Menschen aufweisen. Optimismus. So lebensbejahend und zufrieden mit sich. Die Punkte im Leben allerdings, an denen Frau D. und Herr E. stehen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Die eine jung, ihr ganzes Leben vor sich mit einer unheilbaren, todbringenden Erkrankung, sich an die letzte Hoffnung klammernd, dass es einen Ausweg für sie gibt. Der andere steinalt, bis auf einen akuten Bruch keine terminalen Erkrankungen, mit der Hoffnung ohne Gehhilfe noch einmal einen Spaziergang auf dem Schlossberg machen und dort speisen zu können.
Beide jedoch voller Dankbarkeit für alles was war und ist. Beide auf die jeweilige Weise hoffnungsvoll auf das blickend, was die Zukunft wohl bereithalten mag.

Einen Tag nach meinem Gespräch mit Frau D. öffnet die Neurochirurgin die Befunde der Patientin. Der Pathologe hat die Histologie-Ergebnisse eingestellt. Die Biopsie ergab: ein Rezidiv. „16 Monate“, sagt die Oberärztin. Das ist die durchschnittliche Lebenszeit bei einem Glioblastom Grad IV. Frau D. bekam ihre Erstdiagnose im Dezember 2020. Ich schlucke.

Ob Herr E. womöglich gerade mit einem Gehstock auf dem Weg in das Café auf dem Schlossberg unterwegs ist, wenn Frau D. für immer die Augen schließt?

Das Leben geht doch wirklich manchmal unergründliche Wege.

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