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  • Dr. Julia P. N. Holler und Florian Hecker
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  • 11.08.2014

Bombe im Bauch: Abdominales Aortenaneurysma

Die Ruptur eines abdominalen Aortenaneurysmas (AAA) ­kommt fast einem Todesurteil gleich. Die Patienten haben nur eine Chance: So schnell wie möglich in den OP.

 

Aortenaneurysma - Foto: Dr. J. Geks

Die Ruptur eines abdominalen Aortenaneurysmas (AAA) ist mit einer Sterblichkeit von 85% einer der gefährlichsten Notfälle. - Foto: Dr. J. Geks

 

„Oh Mann. Siehst du mies aus!“ Als Daniel* seinem Onkel Jörg am Münchner Hauptbahnhof gegenübersteht, liegt ihm dieser Satz auf der Zunge. Doch dann behält er ihn doch für sich – und umarmt seinen Onkel erst einmal herzlich. Wie jedes Jahr treffen sich die beiden, um am ersten April-Wochenende zum Wandern in die Berge zu gehen. Jörg ist niedergelassener Gastroenterologe – und Daniels großes Vorbild. Der Medizinstudent liebt die alten Geschichten, die der 62-Jährige während der Hüttenabende in den Bergen erzählt. Doch dieses Jahr ist er skeptisch: Wird der alte Knabe da überhaupt hochkommen? Sein Bäuchlein ist zu einer Wampe geworden, die Gesichtsfarbe ungesund rot – und zu allem Überfluss riecht seine Fleece-Jacke nach Nikotin.

 

Als die beiden Stunden später im Allgäu den ersten Anstieg angehen, blickt Daniel immer wieder zu seinem Onkel, der mühsam den Weg hinaufschnauft – und fasst sich schließlich ein Herz: „Sag mal, ich möchte hier ja nicht den Haus­arzt spielen. Aber wann hast du deinen Blutdruck und die Blutfette mal nachgucken lassen? So richtig fit wirkst du ja nicht …“ Doch Jörg winkt ab. „Ach Kleiner, erzähl mir doch nichts. Das ist nur der Stress, und der geht bei mir auf den Magen und nicht aufs Herz. Bis auf ein paar Bauchschmerzen in letzter Zeit fehlt mir nichts. Und mit Bauchschmerzen kenne ich mich aus. Hab mich letztens von einem Kollegen kolo­skopieren lassen. Alles in Ordnung. Ein paar Stunden in dieser herrlichen Luft – und gut ist.“

 

Stich, Schmerz, Schock

Doch am Einstieg zu einem Klettersteig zeigt sich, dass überhaupt nichts gut ist. Jörg mault über lästige Rückenschmerzen. „Nur wegen der blöden Schreibtischarbeit. Das macht einfach keinen Spaß mehr!“ Dann schnallt er seinen Klettergurt fest – so fest, dass es seinen Bauch kräftig einschnürt – und marschiert los. Kaum ist er hinter einer Felsnase verschwunden, hört Daniel einen infernalischen Schrei. Schnell klettert er weiter und sieht seinen Onkel am Karabiner hängen. „Es tut so höllisch weh“, stößt er hervor. „Mir ist was in den Rücken geschossen. Mit voller Wucht! Das sticht wie ein glühendes Messer … Ich glaube, ich sterbe!“ Rasch nimmt Daniel seinem Onkel den Rucksack ab, klinkt ihn aus und legt ihn auf die Felsplattform. „Bekommst du noch Luft?“, fragte er ihn. Jörg nickt. „Ja, verdammt, aber diese Schmerzen … mal hier und mal da …“ Daniel fällt auf, wie blass er ist. Zudem ist er kaltschweißig und reagiert immer weniger auf Ansprache. Der Student tastet den Puls und zählt 110/Min. Offenbar gleitet er mit dem Blutdruck ab. Jetzt muss was passieren! Sofort verständigt Daniel die Bergwacht und gibt die Position durch, mit dem Hinweis, dass es sich um eine Schocksymptomatik handelt und akute Lebensgefahr besteht.

 

Rasch geht er im Kopf mögliche Diagnosen durch. Heftigste Schmerzen und Schockzustand ohne sichtbare Verletzungen passen zu den „big three“: Infarkt, Lungenembolie und Aortendissektion bzw. -ruptur. Daniel begutachtet die Halsvenen. Diese zeigen keine Anzeichen einer Stauung, somit stellt er die Lungenembolie hinten an. Gegen einen Herzinfarkt sprechen die wechselnde und stechende Schmerzsymptomatik. Infarktschmerz ist eher fix lokalisiert und hat einen drückenden Charakter. Bleibt noch die Aortendissektion bzw. -ruptur.

 

Daniel öffnet seinem Onkel die Jacke und den Klettergurt, zum einen, um zur kardiopulmonalen Reanimation bereit zu sein, und zum anderen, um den Bauch abzutasten. Schließlich liegen dort 80 % aller Aortenaneurysmen. Und da ist er: ein über die halbe Bauchdecke tastbarer Puls. Der Leistenpuls ist schwach, die Ex­tremitäten kalt. Das passt natürlich zu den von Jörg beschriebenen Bauch- und Rückenschmerzen. Das Puzzle fügt sich zusammen.

RR-Einstellung: nicht zu hoch!

Die Ruptur eines abdominalen Aortenaneurysmas (AAA) ist mit einer Sterblichkeit von 85% einer der gefährlichsten Notfälle. Durch die Aorta wird unter Belastung bis zu 30 Liter Blut pro Minute gepumpt, was nahezu dem Sechs- bis Siebenfachen des Gesamtblutvolumens entspricht. Ein Riss in dieser Hauptversorgungsbahn hat deshalb fatale Konsequenzen. Je nach Größe und Lokalisation der Ruptur können die Betroffenen binnen Minuten innerlich verbluten. Deshalb haben die Patienten nur dann eine Chance, wenn die Situation schnell und treffsicher erkannt und blitzschnell gehandelt wird.

 

Daniel weiß das – und entsprechend werden die folgenden Minuten für ihn zu Stunden. Noch einmal tastet er den Puls: Er wird schwächer – aber ist mit 115/Min. noch vorhanden. Endlich ertönt das schmetternde Dröhnen des Rettungshubschraubers. Das Fluggerät setzt seitlich auf der Plattform auf, und dann geht alles ganz schnell. Kaum sind alle im Hubschrauber, geht es wieder in die Luft. Daniel schildert dem Notarzt seine Verdachtsdiagnose, und dieser stimmt zu. Er weist den Piloten an, die nächste große Klinik mit Herz- und Gefäßchirurgie anzufliegen. Dann klebt er Jörg ein EKG auf, das mit 120/Min. HF ein fast normales Kurvenbild zeigt. Der Blutdruck liegt bei 85/55 mmHg, das Pulsoxymeter zeigt 91% Sättigung. Der Notarzt gibt Jörg 6 l O2/Min. per Maske und infundiert langsam eine Kochsalzlösung mit dem Opiod Fentanyl. Daniel ist beunruhigt wegen des niedrigen Blutdrucks, aber der Notarzt erklärt ihm, dass das seine Ordnung hat: „Den halten wir systo­lisch schön zwischen 80 und 110 mmHg. Ein zu hoher Druck wäre wegen der massiven Blutung kontraproduktiv. Und er ist noch nicht so niedrig, dass die Hirnperfusion gestört ist.“

 

Not-OP: infrarenaler Brückenschlag

In der Klinik wird bei Jörg im Schockraum per Spiral-CT ein infraperitoneales, gedeckt ruptu­riertes Bauchaortenaneurysma diagnostiziert. Entsprechend wird der Patient sofort zum OP vor­bereitet. Außerdem werden Bluttransfusionen und kolloidale sowie kristalloide Lösungen bereitgestellt, um das Volumen zu ersetzen, das spätestens ab Eröffnung des Retroperitoneums massiv verloren gehen wird. Die Chirurgen planen ein offenes Verfahren mit medialer Laparotomie. Per „Clamp and run“-Technik soll ein aortales Interponat eingebracht werden. Dabei wird die Aorta unterhalb der Nierenarterien und oberhalb der Ruptur mit einer Gefäßklemme abgeklemmt. Die beiden Iliakalarterien werden mit intraluminalen Ballonkathetern abgedichtet. Dann eröffnet der Operateur mit einem medialen Schnitt den aneurysmatischen Sack und entfernt den darin liegenden Thrombus. An den kranialen und kaudalen Stumpf der noch gesunden Aorta wird eine Aortenprothese aus Nylon (Dacron) adapiert, die den Aneurysma-Sack inklusive Ruptur überbrückt. Ist die kolla­terale Blutversorgung des distalen Dickdarms schlecht, muss auch die A. mesenterica inferior an die Prothese readaptiert werden. Die kleinen Lumbal­arterien werden meistens ligiert. Zum Schluss öffnet der Operateur die Klemmen und testet das Ganze auf Dichtigkeit. Ist alles in Ordnung, vernäht er die Aorta über der Prothese, gefolgt vom Peritoneum und schließlich der Bauchdecke. Retroperitoneal wird eine Drainage eingelegt, und der Patient geht unter vollem Monitoring auf die Intensivstation. Das Hauptrisiko besteht bei der OP durch die massiv bedrohlichen Blutverluste. Außerdem kann es zu Paraplegien kommen, weil durch das Interponat einige kleine rückenmarkversorgende Arterien unterbrochen werden. Nicht zuletzt drohen Embolien von thrombotischem Ma­terial aus dem aneurysmatischen Sack.

 

Elektiv (also nicht bei Notfällen) kann ein Aneurysma auch durch einen gedeckten Stent überbrückt werden („Endovascular Aortic Repair“: EVAR bzw. „Endovaskuläre Aneurysmatherapie“: EAT). Ähnlich wie ein Koronarstent wird er über die Leistenarterie in die Aorta vorgeschoben. Dort wird er expandiert und deckt die aneurysmatische Aussackung von innen ab. Bei diesem Verfahren gibt es allerdings ein gewisses Risiko dafür, dass sich „Endoleaks“ bilden. Das sind kleine undichte Stellen – z. B. am proximalen oder distalen Ende des Stents.

 

Überleben? Keine Glückssache!

Drei Stunden wartet Daniel vor dem OP-Saal, dann nickt er ein – und schreckt plötzlich hoch, als ein Chirurg vor ihm steht und ihn anspricht: „Wir haben Ihren Onkel operiert. Es ist alles gut verlaufen. Wie zu erwarten war, hat er viel Blut verloren. Wir konnten das aber durch die Applikation einiger Erykonzentrate und Infusionen auffangen. Jetzt liegt er stabilisiert auf der Intensivstation, und morgen sollte er dann auch wieder ansprechbar sein.“ Daniel bedankt sich und atmet tief durch. „Er hat viel Glück gehabt, mein Onkel, oder?“, fragt er den Chirurgen. Doch dieser schüttelt den Kopf: „Glück gibt es bei so einem Notfall nicht! Zwei Faktoren haben ihm das Leben gerettet. Erstens: Es war eine gedeckte Ruptur. Die Blutung lief ins Retro­peritoneum, dadurch hat sie sich selbst komprimiert. Sonst wäre Ihr Onkel schon binnen Minuten tot gewesen. Zweitens: Er hat einen Neffen, der unter Stress genau richtig reagiert hat – nämlich schnell und fokussiert.“

 

Mit diesen Worten verabschiedet sich der Chirurg zurück in den OP. Und Daniel muss nochmals kräftig durchschnaufen. Da wird der „Kleine“ seinem großen Vorbild morgen also auch mal eine Geschichte erzählen können …

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