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  • 28.08.2019

Lass das Träumen und fange an zu handeln – Interview mit Arzt und Blogger Mischa Kotlyar

Mischa Kotlyar ist Arzt, betreibt den „Medi Heroes” Blog und hat einen eigenen YouTube-Kanal. Mit seiner Online-Präsenz möchte Mischa zu innovationsorientiertem Denken und Handeln sowie vorbildhaftem Verhalten gegenüber Patienten und Mitmenschen inspirieren. Lokalredakteurin Beyza hat ihn zum Interview getroffen.

 

 Foto: Mischa Kotlyar

 

> Warum wolltest du Arzt werden?

Es war kein bestimmter Aspekt, der mich auf die Idee brachte, Arzt werden zu wollen, sondern die Kombination aus negativen und positiven Lebenserfahrungen, wunderbaren Menschen, die mir begegnet sind, philosophischen Schriften – besonders von Hippokrates – und natürlich die Begeisterung für den menschlichen Organismus und die Wissenschaft an sich, die mich dazu veranlassten, Medizin zu studieren. In meiner Kindheit – ich bin ja in Russland geboren  – habe ich viel Zeit mit Ärzten und in Kliniken verbracht. Eine Übertherapie zugunsten des Gewinns war zum damaligen Zeitpunkt in Russland keine Seltenheit. In meiner Jugend, ich glaube ich war etwa 12 Jahre alt, wollte ich Profibasketballer werden, und erlitt auf diesem Weg zahlreiche Verletzungen, die oft nicht adäquat behandelt wurden. Dadurch entwickelte ich ein Interesse am Bewegungsapparat; damals wollte ich noch Physiotherapeut werden. Irgendwann dachte ich mir, warum sollte ich kein Arzt werden? Sicher darüber, dass ich es schaffen kann, war ich mir zu dem damaligen Zeitpunkt keinesfalls – eher im Gegenteil. Mein Engagement beim Bayerischen Roten Kreuz in Nürnberg festigte mich jedoch darin, dieses Ziel erreichen zu wollen. Die Menschen, die ich dort kennengelernt habe, haben mich immer bei meinem Ziel unterstützt. Selbst heute denke ich noch dankbar an diese Zeit zurück.

 

> „Ihre geistigen Fähigkeiten sind aufgebraucht” – mit diesem Statement begegnete dir deine Lehrerin in der zehnten Klasse, und riet dir, von der Schule abzugehen und eine Ausbildung anzufangen. Wie hast du es geschafft, dich hiervon nicht unterkriegen zu lassen?

Ich glaube daran habe nicht nur ich, sondern auch mein Basketballtrainer, mein Vater, und die Zeit beim Bayerischen Roten Kreuz einen großen Anteil. Mein Basketballtrainer brachte mir bei, negative Erfahrungen stets in positive Energie umzuwandeln. Mein Vater, der ein ehemaliger Ingenieur in der Sowjetunion war, führte mir stets vor Augen, dass man niemals aufgeben soll, egal wie groß die Steine sind, die einem in den Weg gelegt werden. Mir wurde erst spät bewusst, wie es für ihn gewesen sein muss, nach unserer Übersiedlung nach Deutschland sein ganzes Leben neu aufzubauen und als ehemaliger Ingenieur sein Geld mit dem Austragen von Zeitungen zu verdienen. Seine Kindheit hat er im zweiten Weltkrieg auf der Flucht verbracht und hat als Jude unglaubliches Leid erfahren – Ermordung des eigenen Vaters, monatelange Hungerperioden, Verfolgung, ständige Angst vor dem Tod. Trotz allem, was er durchmachen musste, hat er nie aufgegeben. Weitere Unterstützung erhielt ich durch meine Kameraden beim BRK – ich wurde nicht nach meiner Herkunft, meiner Religion oder danach verurteilt, wie viel Geld ich hatte. Es zählte nur mein Einsatz – diesen zeigte ich, und wurde unterstützt. Kurz: Die Äußerung meiner Physiklehrerin entfachte in mir eine Wut, zugleich beflügelte sie aber auch mein inneres Feuer – die Menschen in meinem Umfeld halfen mir dabei, dieses Feuer in die richtige Richtung zu lenken.

 

> Was möchtest du Menschen sagen, die Träume haben, die andere als unrealistisch in der jeweiligen Situation empfinden?

Sucht euch Leitbilder, an denen ihr euch orientieren könnt. Umgebt euch mit Menschen, die ähnliche Ziele und Wertvorstellungen haben, euch allerdings bereits ein paar Schritte voraus sind. Und ganz wichtig: Lasst die Menschen reden, während ihr selbst an der Verwirklichung eurer Ziele arbeitet. Was ich den „Träumern“ auch noch gerne auf den Weg geben möchte: Lasst das Träumen und fangt an zu handeln – ohne zielgerichtete Taten und tägliche Anstrengung werden Träume für immer Träume bleiben.

 

> Was fasziniert dich an der Medizin?

Ihre Vielschichtigkeit. Du wirst mit medizinischen, wissenschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen konfrontiert. Langweilig wird es nie und man lernt auch nie aus.

 

> Mit welcher Motivation bist du ins Studium gestartet?

Zu Beginn des Medizinstudiums wollte ich mein medizinisches Wissen als Sanitäter weiter ausbauen. Mein Ziel war es, Unfallchirurg zu werden. Bereits im ersten Semester kam ich aber schnell auf den Boden der Tatsachen. Ich war sehr enttäuscht von dem Konzept des Medizinstudiums: viel Stoff und wenig Zeit, Prüfungen im Multiple-Choice-Format. Ich verstehe bis heute nicht, warum wir dazu gedrängt wurden, uns so viel passives Wissen anzueignen. Das Gefühl, dass ich den menschlichen Körper nicht wirklich verstehen gelernt, sondern lediglich Fakten auswendig gelernt habe, begleitete mich in der gesamten Vorklinik. Ich habe selten Vorlesungen besucht – die Dozenten lasen oft nur von den Folien ab – und mich der Philosophie gewidmet. „Haben oder Sein“ von Erich Fromm ist mir besonders in Erinnerung geblieben, da er in dieser Schrift unter anderem die Thematik der Lehre und des Lernens behandelt. Diese „Sinneskrise“ endete für mich erst nach dem Physikum: Ich beschloss die restlichen Semester möglichst mit Bestleistungen abzuschließen, um mir meine Wege für die Zukunft offen zu halten, während ich meine restliche Zeit in autodidaktische Bildung investierte.

 

> Hattest du ein Schlüsselerlebnis in deinem Medizinstudium? Einen Punkt, an dem dir klar wurde, dass es nur Medizin und nichts anderes ist, was du machen willst?

Ich glaube nicht daran, dass es vorgefertigte Leidenschaften gibt, und auch nicht daran, dass man ein Schlüsselerlebnis identifizieren kann, das den späteren Weg ebnet. Viele Menschen glauben, dass man etwas Spezielles erlebt haben muss, um seine Berufung oder seine Leidenschaft zu finden. Dabei blendet man meist aus, dass wir als Menschen dazu neigen, für alles kausale Zusammenhänge ausfindig zu machen. Meist entpuppt sich dies als unmöglich, oft als utopisch. So kann ich mir auch heute vorstellen, sehr vielen verschiedenen Berufen nachzugehen und trotzdem zufrieden zu sein. Ich glaube, man sollte sich weniger darauf konzentrieren, den perfekten Beruf oder gar seine Leidenschaft zu finden, sondern viel eher darauf, so gut wie möglich in dem zu werden, was man gerade macht.

 

> Hast du die Entscheidung, Medizin zu studieren, jemals bereut?

Ich habe diesen Gedanken mehr als einmal gehabt, und genauso oft wieder verworfen.
Das Leben besteht nun mal nicht nur aus Höhepunkten, und in meinen Augen ist es völlig normal, immer wieder darüber nachzudenken, ob es da draußen nicht noch etwas anderes gibt. Das ist vollkommen menschlich.

 

> Welche Tipps würdest du Studenten, die am Anfang ihres Medizinstudiums stehen, mit auf den Weg geben?

Eines der wichtigsten Dinge ist, über den Tellerrand zu blicken – sich anderweitig zu bilden, ehrenamtlich zu engagieren, gar ein zusätzliches Fach zu studieren. Weiterhin sollte man nicht vergessen, dass das Gras auf der anderen Seite stets grüner erscheint. Auch im Medizinstudium wird man mit Schwierigkeiten konfrontiert; aber wie das Leben so ist, folgen auf schlechte auch gute Zeiten. Mich hat weiterhin das Ziel motiviert, mit meinem Studium einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Das Medizinstudium und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten habe ich in diesem Licht als viel sinnvollere Zeitinvestition wahrgenommen als zuvor.

 

> Welchen Facharzt machst du gerade und warum?

Man muss wissen, dass ich bislang nur sehr wenig als Arzt gearbeitet habe, da ich direkt nach dem Studium für wenige Monate zwecks Vertretung in der Arbeitsmedizin des Universitätsklinikum Würzburg tätig war. Anschließend habe ich mich primär um meine Promotionsarbeit gekümmert und zahlreiche forschungsrelevante Weiterbildungen absolviert. Meine wirkliche Assistenzarztzeit beginnt erst im Oktober dieses Jahres, wenn ich meinen Facharzt für Innere Medizin in der Abteilung der Kardiologie beginne. Der Grund ist einfach: Ich habe mich im Bewerbungsgespräch sehr wohl gefühlt, mich gut mit den Assistenzärzten verstanden, und habe das Gefühl, in diesem Fachgebiet wertvolles Wissen erwerben zu können, dass ich zum Wohle der Gesellschaft einsetzen kann. Ich mache meine berufliche Zufriedenheit nur in Teilen vom Fach abhängig, da ich glaube, dass es vor allem darauf ankommt, einer für sich persönlich sinnvollen Tätigkeit nachzugehen - in einer Einrichtung, in der man sich fachlich und menschlich permanent weiterentwickeln kann, umgeben von Menschen, mit denen man sich wohl fühlt.

 

> Was macht dir besonders Spaß in deinem Beruf als Assistenzarzt, und was eher nicht?

Was mir besonders Spaß macht? Die Arbeit mit Menschen in jeglichen Altersgruppen. Ich empfinde es als großes Privileg, Menschen in ihren guten, aber auch schweren Zeiten zur Seite stehen zu dürfen. Aber natürlich ist nicht immer alles toll – ganz ehrlich, jeder Beruf hat seine Vor- und Nachteile, aber ich versuche mich vorwiegend auf das Positive zu konzentrieren. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich nie genervt bin. Die immer stärker ausartende Bürokratie macht es keinem Arzt leicht.

 

> Hast du das Gefühl, der Arzt zu sein, der du sein möchtest?

Keinesfalls. Ich hoffe, dieses Gefühl niemals zu entwickeln. Das Bild von dem Arzt, der ich sein möchte, liegt für mich stets in der Zukunft. Demnach befinde ich mich in einem Werden und dazu gehört ein permanenter Lernprozess – fachlich und menschlich. Das sollte niemals zum Erliegen kommen.

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