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  • Vanessa
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  • 27.11.2020

Immer diese Verdünner!

Blutverdünner verhindern Blutgerinnsel. Gerade ältere Menschen mit zum Beispiel Schlaganfallrisiko müssen oft darauf zurückgreifen. Doch im Ernstfall können sie schwerwiegende Folgen haben, wie dieses Beispiel erklärt.


„In die Röhre? Warum das denn Frau Doktor?! fragte mich die alte Dame kopfschüttelnd, die soeben vom Rettungsdienst eingeliefert wurde. Ihr Blick verriet mir, dass sie der Durchführung eines Schädel-CTs, zumindest in diesem Moment, nicht viel abgewinnen konnte. Und dabei sah sie mich verständnislos an, so als wenn ich sie mit der Untersuchung von irgendetwas wichtigerem abhalten würde.
Komische Ideen habt ihr jungen Leute“, fügte sie noch hinzu. „Aber wenn das sein muss. Sie haben ja schließlich studiert“. Das stimmte. Und ja, meiner Meinung nach musste das sein.
Bei meiner Patientin handelte es sich um eine 86-jährige, sehr freundlich zugewandte Dame, die aufgrund eines Sturzes im Pflegeheim mit Kopfanprall unter oraler Antikoagulation eingeliefert wurde. Sie lag in ihrem roten Strickpullover mit der Perlenkette um den Hals und artig gefalteten Händen auf der Trage und guckte mich erwartungsvoll an. Ein Blick auf das Rettungsdienstprotokoll verriet mir, dass sie in einem der besseren Pflegeheime mit Blick auf die Elbe wohnhaft war. Und um sicherzustellen, dass sie auch weiterhin die großen Pötte auf der Elbe beobachten konnte, ließ ich mich von meinem Plan mit dem Schädel CT nicht abbringen.
Ihre höfliche und zugleich sehr aufmerksam beobachtende Art und das verschmitzte Lächeln erinnerten mich ein wenig an meine eigene Oma. Um nach eingehender körperlicher Untersuchung sicherzustellen, dass es ihr an nichts fehlte, hakte ich sie unter und wir liefen eine Runde durch den Untersuchungsraum. Schön fand sie das, immerhin sei heute noch niemand mit ihr spazieren gewesen. Und ihre Laune wurde deutlich besser. Früher, erzählte sie mir, wäre der Doktor mit den Patienten nicht spazieren gegangen.
Das stimmte wahrscheinlich. Vermutlich vor allem deshalb, weil es keine Gelegenheit mehr dazu gab da die Patienten vorher an ihrer Schädelverletzung verstorben sind. Oder weil sie anno dazumal nicht so schnell einen Arzt aufsuchen konnten oder es noch kein CT gab. Oder beides. Sofern es damals, ich nahm nach kurzem Kopfrechnen an, dass es sich um einen Zeitraum zwischen erstem und zweitem Weltkrieg handeln müsste, überhaupt schon Blutverdünner gab.
Äußerlich hatte meine Patientin glücklicherweise keine Verletzungszeichen und es ginge ihr laut eigener Aussage bestens. Bestens, Frau Doktor. Der Blutverdünner allerdings ließ in meinem Kopf die Alarmglocken schrillen und veranlasste mich zur Kontaktaufnahme mit den Kollegen der bildgebenden Erleuchtung, äh, Diagnostik. Immerhin kann es bei verdünntem Blut schnell bluten, insbesondere im Kopf, wenn man zuvor auf diesen gefallen ist. Und Blut im Kopf ist nicht gut. Zumindest dann nicht, wenn es sich außerhalb der Blutgefäße befindet.
Also versuchte ich meine Patientin weiterhin von der Durchführung eines Schädel- CTs zu überzeugen und begründete dies mit der Einnahme ihres Blutverdünners. Aber so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben: „Frau Doktor, was soll DER Quatsch denn? Das Blut dünner machen, wer macht denn sowas?“ Also erklärte ich ihr, dass der Blutverdünner bei unregelmäßigem Herzschlag wichtig ist, damit das Blut nicht verklumpt. Denn das könnte schlimme Folgen haben – für Kopf und Herz. Und, achja, die Internisten waren’s, die die Idee mit dem Blutverdünner hatten.
Und weil die schlau sind, lassen wir‘s auch lieber mal so. Wäre ja auch irgendwie frech, daran grundlos etwas zu ändern – als Nicht-Internist, meine ich. So als wenn der Kardiologe bei der Koro nicht nur Stents reinbasteln würde, sondern bei der Passage des benachbarten Gefäßes auch unsere mühevoll eingebaute Hüftprothese wieder mit ausbauen würde. Sowas macht man einfach nicht.
Es sei denn, man muss operieren. Dann kann‘s kompliziert werden: NOAK absetzen, Heparin ansetzen. Vorab sicherheitshalber Blut abzapfen, um die Gerinnungssituation zu checken. Und zwischendurch auch. Aber Obacht: Einige der neumodischen Gerinnungshemmer verfälschen die üblichen Gerinnungsparameter und taugen zur Beurteilung der Gerinnungssituation nix.
Dann muss man ein bisschen hin-und-her rechnen oder Tabellen checken oder einen Internisten fragen, um das mit dem rechtzeitigen Absetzen und Ansetzen des Heparins hinzubekommen. Je nach Art des Verdünners früher oder später. „Bridging“ heißt das auf schlau. Damit auch vor, während oder nach der OP nichts verklumpt. Aber auch keine Blutlachen entstehen, wo keine sein sollen.
„Also, Frau Doktor, fasst die Patientin immer noch kopfschüttelnd zusammen, das mit den Verdünnern, das ist nix!“
Recht hat sie, aber ganz ohne ist’s auch irgendwie doof. Stichwort postoperative Komplikationen und so. Die Gefahr besteht insbesondere dann, wenn wir Metall in Bein, Hüfte oder Becken einbauen. Im ungünstigsten Fall geht der ganze komplizierte Internistenkrams dann erst so richtig los: Herzecho von außen und Herzecho von innen, Sonografie von allen erreichbaren Gefäßen machen, die anderen im CT suchen und so weiter … und all das verlängert den stationären Aufenthalt. Und dann sind alle unglücklich: Patient und Angehörige und der Oberarzt auch.
Dann doch lieber mit Verdünner – aber das mit Bedacht. Und sich nach dem CT gemeinsam mit dem Patienten freuen, dass trotz Blutverdünner im Kopf nix blutet.
So wie im Fall meiner Patientin, die mich trotz ihres Ausflugs in die Radiologie mittlerweile ins Herz geschlossen hatte. Ich solle doch zum Spazierengehen mal bei ihr vorbeikommen. Man könne so schön am Wasser entlanglaufen und die anderen Altenheimbewohner würden sich auch über einen „Hausbesuch“ freuen.

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