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  • 22.03.2007

Notfall: Ileus

Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen - da denkt nicht jeder sofort an einen Notfall. Doch mit einem Ileus darf man nicht spaßen: Wird er zu spät behandelt, drohen irreversible Schäden, im schlimmsten Fall sterben die Patienten! Dr. Michael Kasparek, Arzt in der Chirurgie der Uniklinik Tübingen, erklärt, wie ein Darmverschluss sicher erkannt und effektiv behandelt wird.

 

"Vielleicht schaff ich's ja doch noch bis zur Spätvorstellung!" Stefanie schielt auf die Uhr. Es ist 22.50 Uhr, der Film beginnt in einer halben Stunde. Die Studentin im zweiten klinischen Semester hat ihren ersten Arbeitstag als Famulantin in der chirurgischen Ambulanz fast hinter sich. Für die heutige Spätschicht hat sie sich an die Fersen von Dr. Beck geheftet. Steffi träumt mit offenen Augen von weichen Kinosesseln und einer Riesenportion Popcorn, als ihr jemand von hinten auf die Schulter tippt - Dr. Beck: "Aufwachen, Frau Kollegin, gerade ist eine 72-jährige Dame eingeliefert worden - Frau Krawalla, Verdacht auf Ileus. Jetzt kannst du mal zeigen, was du heute gelernt hast!"

 

Der erste Eindruck

"Nun erzählen Sie mal. Wo fehlt's denn?", beginnt Dr. Beck gerade seine Anamnese, als Frau Krawalla anfängt zu würgen und eine Nierenschale mit galliger, schaumiger Flüssigkeit füllt. "Aha, ich verstehe." Der Arzt macht sich eine Notiz. "Seit wann geht das denn schon so?", fragt er dann die Tochter der Patientin, da Frau Krawalla sehr erschöpft erscheint. "Angefangen hat es nach dem Mittagessen", lautet die Antwort. "Seitdem hat sie drei Mal erbrochen. Über Bauchschmerzen klagt sie auch." "Frau Krawalla, sind die Schmerzen konstant oder kommen und gehen sie?", will Dr. Beck wissen. "Ganz unterschiedlich", erklärt die Patientin: "Im Moment spüre ich fast nichts, aber das fängt bestimmt gleich wieder an." "Und wie war der Stuhlgang in letzter Zeit?", erkundigt sich der Arzt. "Das letzte Mal hatte ich heute Mittag, und der war ganz normal", erinnert sich Frau Krawalla. "Stuhlgang war bei mir noch nie ein Problem. Auch sonst war ich eigentlich immer gesund. Nur vor zehn Jahren, da hat man meine Gallenblase entfernt. Sie war so entzündet, dass sie durchgebrochen ist."

Der Arzt nickt. "Dann machen Sie bitte mal den Oberkörper frei. Fällt dir was auf, Stefanie?" Die Studentin schaut sich die Patientin erst sorgfältig an: Der Bauch ist leicht aufgebläht, rechts unterhalb der Rippen erkennt sie eine alte Narbe. Danach horcht sie den Bauch ab. Die Darmgeräusche sind lebhaft und klingen hell - sogenannte hochgestellte Darmräusche. Bei der Perkussion hört Steffi vor allem im Oberbauch einen tympanischen Klopfschall, der auf Luft im Darm hinweist. Vorsichtig beginnt sie den Bauch von Frau Krawalla abzutasten, möglichst weit weg vom Ursprung der Schmerzen, also in den unteren Quadranten. Als sie weiter nach oben kommt, zuckt die Patientin vor Schmerz zusammen. Verhärtungen oder Hernien im Bereich der Narbe, am Nabel oder in den Leisten spürt Stefanie nicht. Zum Schluss untersucht sie Frau Krawalla rektal, kann aber auch hier nichts Auffälliges feststellen. Die Ampulle ist mit Stuhl gefüllt.

Inzwischen hat Dr. Beck die Ergebnisse der Laboruntersuchung. Die Leukozyten sind mit 15.000/µl (Normwert bis 10.000/µl) erhöht, genauso wie das Laktat mit 3,4 mmol/l (Normwert < 2,4 mmol/l). Dafür ist das Kalium mit 2,9 mmol/l erniedrigt (Normwert 3,5-5,0 mmol/l). Dr. Beck legt Frau Krawalla einen peripheren venösen Zugang und verordnet ihr 1.000 ml isotone Kochsalzlösung mit zusätzlich 40 mval Kaliumchlorid. "So, Frau Krawalla!" Aufmunternd lächelt er die Patientin an: "Jetzt wird noch ein Ultraschall und ein Röntgenbild von Ihrem Bauch gemacht, dann sehen wir uns wieder."

 

Dünndarm oder Dickdarm?

"Na, Stefanie, was hat Frau Krawalla deiner Meinung nach?", fragt Dr. Beck, als die Patientin auf dem Weg in die Radiologie ist. "Einen Ileus", antwortet Stefanie wie aus der Pistole geschossen. "Also eine Störung der Darmpassage." Dr. Beck bohrt weiter: "Und kannst du schon sagen, welcher Darmabschnitt betroffen ist?" Stefanie überlegt: Hinweise auf einen Dünndarmileus sind das plötzliche Auftreten von kolikartigem, an- und abschwellendem Bauchschmerz, Übelkeit und Erbrechen. Der Stuhlgang kann dabei, wie bei Frau Krawalla, völlig normal sein. Auch das nur wenig geblähte Abdomen, die hochgestellten Darmgeräusche und die Laborveränderungen passen eher zu einem Dünndarmileus. Ein Dickdarmileus entwickelt sich meistens über mehrere Tage, Ausnahmen sind die akute Verdrehung (Volvulus) oder die Einklemmung (Inkarzeration).

Leitsymptome sind dabei ein massiv geblähtes Abdomen mit diffusen Bauchschmerzen, Übelkeit und Verstopfung. Vor allem bei Verengungen der unteren Darmabschnitte berichten die Patienten auch über Veränderungen des Stuhlgangs: kleinere Portionen, Bleistiftstühle oder Blutspuren. Sie erbrechen erst, wenn sich Darminhalt bis in den Dünndarm rückstaut, und dann auch kotig (a Tab. 1). Ein fortgeschrittenes Tumorleiden als häufige Ursache für einen Dickdarmileus führt oft zu Gewichts- und Leistungsverlust. Die Studentin kommt zu dem Schluss: "Ich tippe auf einen Dünndarmileus, vielleicht durch Verwachsungen nach der Gallenblasen-Operation."

 

Quelle des Darmverschlusses

Dr. Beck nickt anerkennend und hält der - wie er hofft - Abdominalchirurgin in spe einen kleinen Vortrag über Auslöser des Ileus: "Die häufigsten Ursachen des mechanischen Dünndarmileus sind Verwachsungen nach Operationen, sogenannte Briden. Oft sind auch Hernien Schuld, in denen sich eine Dünndarmschlinge eingeklemmt hat. Deutlich seltener stecken andere Auslöser wie Fremdkörper, Entzündungen oder Krebserkrankungen dahinter. Der mechanische Dickdarmileus wird dagegen meistens durch Karzinome oder Tumore verursacht, die zum Beispiel vom Ovar ausgehen oder als Metastasen auf dem Bauchfell (etwa beim Magenkarzinom) den Dickdarm komprimieren. Natürlich können auch Dickdarmanteile in einer Hernie einklemmen. Bei älteren Patienten führt manchmal eine rezidivierende Sigmadivertikulitis zu entzündlichen Stenosen."

Jetzt erinnert sich Stefanie dunkel: "Gab es nicht noch eine andere Art von Ileus? Funktionell hieß der, glaube ich." "Stimmt", bestätigt der Chirurg. "Den funktionellen oder paralytischen Ileus. Bei ihm ist das Problem nicht ein mechanisches Hindernis. Stattdessen ist die Eigenbewegung, die Motilität, des Darms gestört, weil die neuromuskuläre Steuerung nicht funktioniert. Ursachen sind zum Beispiel Elektrolyt- oder Stoffwechselstörungen, Entzündungen, Uretersteine, eine übervolle Harnblase oder Frakturen der Wirbelsäule.

Der sogenannte ‚postoperative Ileus' tritt nach abdominal- und thoraxchirurgischen Eingriffen auf. Dabei hemmen nervale Reflexe und ein erhöhter Sympathikotonus die Darmmotilität. Auch arterielle oder venöse Gefäßverschlüsse können einen paralytischen Ileus verursachen, wenn durch sie Abschnitte der Darmwand minderdurchblutet werden. Patienten mit einem solchen Infarktileus versterben oft trotz Operation. Beim paralytischen Ileus entwickeln sich die klinischen Symptome meistens über einen längeren Zeitraum. Weil hierbei häufig der gesamte Darm betroffen ist, sind die Darmgeräusche vermindert. Außerdem leiden die Patienten oft gleichzeitig unter Verstopfung und Brechreiz."

 

Spiegel im Darm

Als die Patientin aus der Radiologie zurückkommt, fragt Dr. Beck sie direkt, wie es ihr geht. "Nicht gut!", antwortet die Patientin erschöpft. Sie stützt sich auf den Arm ihrer Tochter. "Ich habe noch zweimal erbrochen, mein Bauch tut auch immer mehr weh, und das ohne Pause!" Der Arzt sieht sich ihr Röntgenbild an und macht ein besorgtes Gesicht.

 

 

"Schau, Stefanie, ein Dünndarmileus wie aus dem Lehrbuch! Luft und Flüssigkeit haben sich vor der Engstelle gesammelt. Im Stehen ist die Luft nach oben gewandert und die Flüssigkeit nach unten - deshalb die Spiegel. Im Dickdarm sieht man gar keine Luft, da kommt sie bei einem kompletten Dünndarmverschluss nicht hin. Beim Dickdarmileus wäre der Darm vor der Verengung mit Luft gefüllt und der Dünndarm eher luftleer." Schnell überfliegt der Arzt den Sonografiebefund: flüssigkeitsgefüllte Darmschlingen mit zum Teil reger Peristaltik, keine freie Flüssigkeit, schlechte Untersuchungsbedingungen wegen der Luft im Dünndarm.

Diesmal untersucht Dr. Beck Frau Krawalla. Die Schmerzen haben zu- und die Darmgeräusche abgenommen. Schon die Perkussion tut der Patientin jetzt weh. Auch einen Loslassschmerz - Zeichen für Peritonismus - bemerkt der Arzt. Dr. Beck schaut die Patientin ernst an: "Frau Krawalla, ich fürchte, wir müssen operieren. Sie haben einen Verschluss Ihres Dünndarms, wahrscheinlich als Folge der Gallenblasenoperation damals." Und schon ist er beim Telefon und versucht einen OP-Saal zu organisieren!

 

Weitere Diagnostik überflüssig!

Als Frau Krawalla auf dem Weg in den OP ist, nagen Zweifel an Steffi. Sie fragt: "Hätte man nicht noch weitere Untersuchungen machen sollen?" Dr. Beck schüttelt den Kopf: "Das hätte wenig Sinn gehabt. Nur bei einer möglichen
Stenose des Dickdarmes hätte uns eine Kontrastmitteldarstellung des Kolons weitergeführt. Und orales Kontrastmittel hätte Frau Krawalla gleich wieder erbrochen. Das kann sehr gefährlich sein, weil das Erbrochene oft aspiriert, also eingeatmet wird. Bei einem weniger klaren Befund ist eine Computertomografie oft hilfreich, weil sich mit ihr umliegende Strukturen wie die Bauchwand gut darstellen lassen. So kann man etwa eine Peritonealkarzinose, Tumoren, Abszesse und Hernien diagnostizieren."

Bei einem schnellen Kaffee im Aufenthaltsraum, erklärt Dr. Beck Steffi nochmal genau, warum Frau Krawalla sofort operiert werden muss: "Wenn die Operationsindikation klar ist, darf man keine Zeit mit Diagnostik vergeuden!", betont er ausdrücklich. "Je länger Teile des Darmes schlecht durchblutet werden, desto größer ist der Schaden. Die Patientin zeigt anamnestisch, klinisch und im Röntgenbild das typische Bild eines mechanischen Dünndarmileus. Wahrscheinlich sind Verwachsungen nach der Gallen- blasenoperation schuld daran. Auch die Laborwerte - erhöhtes Laktat plus Leukozytose - sprechen für einen fortgeschrittenen Schaden. Besonders alarmierend ist aber, dass die Schmerzen nicht mehr kolikartig, sondern anhaltend sind. Sie hat einen Peritonismus entwickelt, und ihre Darmgeräusche sind verschwunden. Das sind klinische Spätzeichen eines Dünndarmileus!"

 

Gibt es Alternativen zur Operation?

"Es gibt einen alten Leitsatz", doziert Dr. Beck weiter: ",Die Sonne soll über einem Ileus nie auf- oder untergehen.' Morbidität und Mortalität des Darmverschlusses nehmen zu, je länger man wartet. Ob man konservativ oder chirurgisch behandelt - entscheidend ist eine schnelle Therapie!"

Beim mechanischen Ileus ist eine Operation meist einziger Behandlungsweg - zum Beispiel wenn die Gefahr einer Perforation besteht. Auch abgeschnürtes Darmgewebe (Strangulation) oder die typischen Spätzeichen des Ileus sind ein Fall für den OP-Tisch. Dagegen sprechen manche Stenosen, die durch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn verursacht sind, auf Medikamente an - etwa auf Mesalazin und Kortison.

Auch der paralytische Ileus kann häufig konservativ behandelt werden: Die erweiterten Darmabschnitte müssen entlastet und die Ursachen des Darmverschlusses behoben werden. Außerdem muss man den Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalt der Patienten ausgleichen und die Eigenbewegungen des Darmes fördern. Bei Dr. Beck piepst es aus der Tasche. "Jetzt aber los in den OP!" Der Arzt steht auf. "Vom Reden geht der Ileus nicht weg!"

 

Kleine Verwachsung, große Wirkung

Aus zweiter Reihe beobachtet Stefanie, wie das angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit etwas mundfaule Team die Operation vorbereitet. Frau Krawalla wird von der Anästhesistin intubiert, direkt nachdem sie eingeschlafen ist. "Das ist die sogenannte ‚Ileuseinleitung'", erklärt die Ärztin Stefanie. "Man verzichtet auf eine Maskenbeatmung, damit der Magen nicht zusätzlich überbläht wird. Damit wollen wir eine Aspiration verhindern."

Weil bei einer Ileus-OP oft Darmkeime freigesetzt werden, bekommt die Patientin noch Antibiotika - 500 mg Metronidazol und 2 g Cephazolin. Dr. Beck eröffnet das Abdomen mit einer medianen Laparotomie, einem Längschnitt durch die Bauchwand. Über eine transnasale Magensonde saugt die Anästhesistin den Magen leer. "Da ist der Übeltäter!" Dr. Beck zeigt auf eine dünne Verwachsung zwischen zwei Anteilen des großen Netzes, unter der sich eine Dünndarmschlinge durchgeschoben hat. Der betroffene Teil des Jejunums ist düster rot verfärbt.

 

 

"Da bleibt uns nichts anderes übrig, als zu resezieren." Zwischen zwei Klemmen entfernt der Chirurg die Verwachsung. Dann reseziert er das geschädigte Darmstück und näht anschließend die beiden Darmenden mit einer Einzelknopfnaht End zu End zusammen. "So, das war's", verabschiedet sich die Anästhesistin von Stefanie. "Wir werden Frau Krawalla gleich extubieren. Wenn sie kreislaufstabil ist, kann sie direkt auf eine Normalstation verlegt werden!"

 

Wichtig ist, was hinten rauskommt

Am nächsten Morgen kämpft Stefanie mit dem Schlafentzug, dagegen klappt bei Frau Krawalla jetzt alles wie am Schnürchen. Die Magensonde kann schon an diesem Tag entfernt werden. Auch mit dem Trinken hat die frisch operierte Patientin kaum Probleme. Sie bekommt drei Mal täglich 20 Tropfen Metoclopramid, um die Toleranz für den Kostaufbau zu verbessern. Am dritten postoperativen Tag setzt Dr. Beck Lactulose, ein orales Abführmittel, an, um den Stuhlgang in Gang zu bringen. Am Tag danach kann sie normal essen und berichtet vom ersten Stuhlgang seit der OP. "Wunderbar!", freut sich Dr. Beck und grinst: "Wir Chirurgen sind doch so einfach glücklich zu machen."

Fotos: Dr. med. Michael Kasparek/Via medici

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